Nachkriegssommer
Nachkriegssommer
„Willst du sehen, wie sich ein Landser wäscht?“, fragt die fast 10-jährige Karin.
Ihre um zwei Jahre jüngere Spielgefährtin Anita zieht unschlüssig ihr Näschen kraus.
„Du weißt doch, was ein Landser ist?“, hakt Karin nach. „Ein Soldat. Als mein Vati auf Urlaub war, hat er es mir mal gezeigt. Das ist lustig, wie die sich waschen. Mach mal den Wasserhahn auf. Nur ein Bisschen.“
Karin stellt sich breitbeinig vor den Wasserstrahl, formt mit ihren kleinen Händen eine Kuhle. Das darin aufgefangene Wasser nimmt sie in den Mund und bewegt es von einer Wange in die andere. Dann spuckt sie das nun leicht angewärmte Wasser wieder in die Hände und verteilt es rasch, damit nicht zu viel verloren geht, über ihr Gesicht.
„Willst du es auch mal versuchen?“
Aber Anita ist ein kleiner Schisser. Rasch tritt sie einen Schritt zurück.
Zierpuppe! Das niedliche Kleid hat sicher ihre reiche Oma gegen Lebensmittel erstanden. Und das darf nichts abkriegen, denkt Karin.
Lachend streift sie ihre glitschigen Igelitt-Sandalen von den Füßen und schleudert sie, dass die Tropfen nach allen Seiten fliegen. Anita weicht scheu aus.
„Mein Vati hat oft so ulkige Sachen gemacht, wenn er auf Urlaub war.“
Stolz klingt in Karins Stimme, wenn sie an ihn denkt. Doch betrübt fügt sie hinzu: „Jetzt habe ich ihn schon lange nicht mehr gesehen. Der Krieg ist doch schon über ein Jahr vorbei. Omi sagt, er sei aber gesund. Ich muss mir keine Sorgen machen. Nur könne er nicht zu uns kommen. Hinter der Sektoren-Grenze sei er. Davon verstünde ich noch nichts. Ich hoffe nur, er kommt bald zu uns.“
Mit gesenkter Stimme gibt sie ihrer großen Hoffnung Ausdruck: „Dann bekomme ich hoffentlich auch endlich ein Geschwisterchen! Oder glaubst du etwa noch an den Klapperstorch?“
Tante Susi, Anitas Mutter, ruft die Mädchen ins Haus, eine so genannte Villa. Staunend bleibt Karin vor einer geöffneten Zimmertür stehen und schaut hinein. Da sieht es ja mitten im Sommer aus wie daheim allenfalls zu Weihnachten! Mit großen Augen und offenem Mund bestaunt sie die festlich gedeckte Tafel. Wie die Gläser in der Mittagssonne blinken! Kerzen und Blumen als Tischdekoration. Keiner hat Geburtstag, überlegt Karin. Einfach so - mitten in der Woche.
So viel Firlefanz ums Essen macht ihre Mutti nie. Zwei Teller und Besteck auf den Tisch. Das reicht doch. Wozu der Mumpitz?
Tante Susi fängt Karins überraschten Blick auf und erklärt ihr: „Wir kriegen heute Gäste. Dein Vater kommt auch. Es ist ja nicht weit von Lützen zu uns hier her.“
Karin legt den Kopf schief und runzelt die Stirn. Das tut sie immer, wenn sie scharf nachdenken muss. Sie steht vor einem unlösbaren Rätsel.
Wenn es für ihn nah genug zu Tante Susi ist, wieso kommt er nicht zuerst zu ihnen nach Hause, nach Leipzig? Warum wollen die Großen ihr nicht erzählen, dass er ganz in der Nähe lebt? Die Erwachsenen machen immer alles so kompliziert.
Sie kommt nicht sehr weit mit ihren Überlegungen. Ein Auto bremst vorm Haus, es schellt, und gleich darauf hört sie Stimmen im Korridor. Eine erkennt sie ganz klar, die ihres Vaters!
Er hat sie noch gar nicht bemerkt, gewiss nicht einmal geahnt, dass sie hier ist. Aber sie erblickt ihn. Mit einem überglücklichen „Vati“ rennt sie auf ihn zu und springt ihm an den Hals, sich mit den kleinen Beinen an seiner Hüfte fest klammernd.
So, wie sie ihn anstrahlt, kann der Mann nicht anders, als zurückzustrahlen. Karin bedeckt sein Gesicht mit Küssen. Sie ist überglücklich, ihn wieder zu haben und verschwendet keine weiteren Gedanken an all die ungelösten Fragen. Er ist da! Das ist die Hauptsache. Nun wird er auch bestimmt bald wieder zu ihr und Mutti nach Hause kommen. Sie streichelt sein so lang vermisstes Gesicht.
Ihr fröhliches Lachen erstirbt, als sich eine Hand hinter ihr linkes Bein schiebt und sich bei ihrem Vater einhaken will. Eine ihr unbekannte Frau drängt sich heran.
Merkt die denn nicht, dass sie störte?
„So, das ist also deine Tochter!“, stellt die Fremde fest. Das Lächeln, das Karin gelten soll, sieht etwas schief aus. Nur der Mund verzieht sich, die Augen lauern.
Karin lässt ihren Blick über diesen Störenfried gleiten und bemerkt einen dicken Bauch, der sich seitlich immer stärker an ihren Vater heran drängt.
Fragend schaut sie von Einem zum Anderen.
Wieso kriegt die da ein Baby? Wenn Vati etwas damit zu tun hat, dann sollte das doch in Muttis Bauch wachsen. Da gehört es hin.
Die Erklärung kommt aus dem Mund der Frau mit dem dicken Bauch: „Ich bin die neue Frau von deinem Vati!“
Karin schaut ihn sehr streng an. Auch sein Lächeln ist verschwunden. Er weicht verlegen ihrem Blick aus. Vergebens suchen seine Augen hinter ihr an den Gardinen Halt. Der Griff seiner Umarmung hat sich merklich gelockert.
Mit beiden Händen und Knien gleichzeitig stößt sich das Mädchen von seiner Brust ab. Jedoch der Boden unter ihr ist gar nicht fest. Er gibt nach wie Schwabbelpudding. In ihren Ohren dröhnt es wieder und wieder: Vatis neue Frau, Vatis neue Frau. Um sie herum beginnt das Zimmer zu kreisen. Sie kriegt einen Drehwurm. Wie stets auf einem Karussell wird ihr kotzübel.
Die schönen Beeren aus Susi Garten ergießen sich in einer Farbsymphonie über die Schuhspitzen der fremden Frau mit dem dicken Bauch.
Noch immer schwankt der Boden. Doch Karin will nicht umfallen. Sie nimmt all ihre Kraft zusammen, schnappt ihre Sandalen und rennt aus dem Haus. Hin zur Straßenbahn-Endstation. Sie läuft und läuft, als ob sie damit vor dieser ungeheuerlichen Neuigkeit davon rennen könnte.
Erfassen kann sie das Erlebte nicht, aber sie fühlt sich tief verletzt. Angelogen von allen. Betrogen, besonders von ihm.
Als sie bereits am Stadtrand von Leipzig ist, schaut sie sich um. Keiner ist ihr gefolgt. Jetzt kann sie verschnaufen.
Ihre anfängliche Trauer hat sich in Wut verwandelt.
Ihr Entschluss steht fest: Ich will diesen Mann, den ich bis vorhin noch Vati genannt habe, nie, nie wieder sehen!