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Nacht der Zentauren
Königin Selvieve stand am Fenster ihres Turmzimmers und ließ ihren Blick über den Burghof schweifen. Die Natur selber schien dem König gewogen. Es hatte tagelang geregnet, doch nun, als Knappen Pferde sattelten, Schmiede glänzende Schwerter ein letztes Mal schärften und Ritter selbstbewusste Worte in den Wind riefen, hatte sich fahler Sonnenschein über die Szenerie gelegt. Der Page des Königs rollte das Banner aus. Ein goldener Löwe auf schwarzem Grund.
Bald würde alles bereit sein.
Die Suche nach dem Gral würde beginnen. Hunderte Ritter, jahrelang ausgebildet in den Künsten des noblen Mordens und und ehrenhaften Tötens würden ihre Kräfte an der einzigen Suche messen, an der sogar König Arthur gescheitert war. Lachend würden sie Träumen hinterher ziehen, für Ideale kämpfen, den Glauben verteidigen, Erleuchtung suchen. Narren.
„Wünscht Ihr Euch, Ihr wäret ein Mann und könntet dabei sein, Mylady?“
Sie fuhr herum. Galmarth war in das Zimmer getreten und lächelte sie aus grünen, etwas zu weit auseinanderstehenden Augen an. Er war ein Ritter. Kein Soldat in ritterlichem Gewand, kein Mörder mit Adelswappen, ein wahrer Ritter; ein letzter Lichtstrahl, der aus einer sonnendurchfluteten Zeit in die Dunkelheit der Gegenwart drang.
„Ihr kennt meine Meinung, Sir Galmarth. Der Gral ist eine Idee, ein Phantom. Ihr könntet mit den gleichen Erfolgsaussichten Gott höchstpersönlich hinterherjagen.“
„Vielleicht tun wir das ja? Vielleicht suchen wir Gott?“ Sein Lächeln wurde breiter.
Selvieve funkelte den Ritter ungehalten an. „Dann seid Ihr ein Narr! Wenn Arthur ihn nicht gefunden hat, wie sollen die Ritter eines entlegenen, unbedeutenden Hofes ihm jemals nahekommen?“
Sein Miene wurde ernst. Er sah kurz zu Boden, dann richtete er seinen Blick wieder auf Selvieve. Ein Lächeln, doch es erstreckte sich nicht auf die Augen. „Ich bin dem König, Eurem Gemahl, zur Treue verflichtet. Es ist unbedeutend, was ich glaube oder denke.“
„Ihr seid ein Narr.“ Sie durfte jetzt nicht weinen. Jetzt nicht. Sie atmete tief ein. „Gebt ja acht, dass Ihr es unversehrt zurückschafft. Wenn Ihr sterbt, verzeihe ich Euch das nie.“
„Ich verspreche es.“ Ihre Blicke trafen sich. Für eine Sekunde schien sich die Traurigkeit der Welt in seinen Pupillen zu ballen. Dann sah sie nur noch ihr Spiegelbild in seinen Augen, verzerrt und klein.
„Mylady, Ihr habt Feinde am Hof. Nehmt deswegen ein Geschenk von mir an. Er ist mein Diener und war mir stets ein guter Freund und Beschützer.“
Hinter ihm, in der Dunkelheit des Ganges bewegte sich etwas. Eine dunkle Silhouette, die sich an Galmarth vorbeischob und in das Licht trat. Ein Gesicht, dass dem eines Menschen ähnelte, der mit grobem Meißel aus Granit geformt worden war. Gelbe Augen, die leicht zusammengekniffen waren, als würden die Lider mühevoll etwas zurückhalten, das an die Oberfläche zu dringen drohte. Der Oberkörper eines Menschen, wenngleich massiger. Der Körper eines Pferdes.
Selvieve fuhr erschrocken zusammen und wich einen Schritt zusammen. „Was... was ist das?“
„Dies, Mylady, ist Trocto. Er kommt aus dem Süden unseres Reiches. Er wird auf Euch aufpassen. Er hat es geschworen, Zentauren brechen Ihre Schwüre nie. Nicht wahr, mein Freund?“
Der Zentaur schwieg. Sein Blick blieb auf Selvieve geheftet, dann drehte er sich um und verschmolz mit der Dunkelheit.
Die Verabschiedung des Königs fiel weniger dramatisch aus. Selvieve erschien in den Farben des Staates gekleidet im Thronsaal. Dort saß er, in goldener Rüstung, aus der sein blasses, bartloses Gesicht fast grotesk herausragte. Ein lächerlicher kleiner Mann auf einem goldenen Thron, fünf Jahre jünger als sie, doch mit der Überzeugung, die Welt zusammenzuhalten. Er händigte Ihr eine Urkunde aus, die besagte, dass er innerhalb dreier Jahre zurückkehren würde. Sie sollte das Reich verwalten. Dann versicherte er ihr vor dem Hofstaat seine Liebe, doch seine Augen blieben distanziert, waren bereits auf ferne Orte und wilde Träume gerichtet. Sie akzeptierte formal. Sie sagte nichts. Sie erwähnte nicht, dass die Hauptstadt des Reiches mehr Bettler und Diebe beherbergte als Kaufleute. Sie führte nicht aus, dass das Land von Feinden umgeben war, die sich danach sehnten, fruchtbares Ackerland in ihren Besitz einzuverleiben. Sie schwieg. Frauen die schwiegen waren außer Gefahr. Ihre Miene war regungslos. Ihr ganzes Leben hatten sich Männer in ihr Leben gedrängt, ihre Bewegungen bestimmt, ihren Körper beherrscht. Sie schwieg.
Einige Stunden später brachen die Ritter auf, Flaggen wehten im Wind, Taschentücher angebeteter Hofdamen flatterten an polierten Rüstungen, die das Licht verstärkten und vielfach widerspiegelten. Der König ritt and er Spitze. Hinter ihm Irfein, der einen Drachen erschlagen hatte, als er gerade zwölf war. Gutrec, der reisende Ritter, der jedes Land dieser Welt besucht hatte. Walt, der eher ein Dichter als ein Kämpfer war und nicht einmal einen Helm trug, damit seine Locken im Wind wehen konnten. Galmarth, von dem sogar seine Feinde voller Anerkennung sprachen. Hunderte Männer in strahlenden Rüstungen, die Hände winkend erhoben, den Geist bereits in Abenteuern und Kämpfen. Für einen Moment sahen die Ritter tatsächlich wie eine Armee aus, die Gott finden könnte.
Doch die Spuren der Hufe im Sand verschwanden. Der Wind raubte den Bäumen die letzten Blätter, bis sie sich als fahle Skelette vom bleiernen Himmel abhoben. Von den Rittern kam keine Nachricht. Schnee bedeckte die karge Landschaft wie ein Leichentuch. Kein Lebenszeichen von den Rittern. Der Himmel lichtete sich und der Schnee wurde durch das erste schwache Grün des Frühlings ersetzt. Keine Spur von den Rittern, die ausgezogen waren, Gott zu finden. Die Wochen verschlangen sich und wuchsen zu Monaten heran.
„Mylady, es bleibt uns keine andere Möglichkeit, wir müssen ihnen die südliche Provinz abtreten.“, sagte der Berater mit einer Endgültigkeit, die jede Diskussion im Keim zu ersticken schien.
„Das kommt nicht in Frage, Bortas! Ich bin die Regentin und wir werden keinem Agressor nachgeben“, gab Selvieve zurück. Hinter ihrer Stirn tobten Kopfschmerzen wie kalte Blitze, doch sie hielt sich aufrecht. Der Staat war von einem fremden Fürsten angegriffen worden und ihre Berater wollten, dass sie aufgab. In der südlichen Provinz wurde bereits gemordet, vergewaltigt und geplündert und sie sollte das Gebiet abtreten. Wut stieg in ihr auf. „Wenn wir heute nachgeben, werden sie uns alles nehmen.“
In den Augen des Beraters tanzte ein eisiges Feuer. „Mylady, Bei allem Respekt, als Frau könnt Ihr die Lage kaum angemessen einschätzen. Wir werden die südliche Provinz aufgeben, da ...“
„Ihr das Geld braucht?“ Das hohle Stampfen von Hufen auf Marmor unterbrach den Berater. Aus dem Schatten hinter dem Thron trat der Zentaur hervor. Seine Miene war unbewegt, doch jedes einzelner seiner Worte schien aus kaltem Stahl geformt, während er langsam auf Bortas zuschritt. „Da Ihr Schulden habt und von unseren Feinden Gold geliefert bekommt? Da Euch ein Teil der südlichen Provinz zugesprochen wurde?“
Bartas schnaufte verächtlich, doch alles Blut war aus seinem Gesicht gewichen. „Umgebt Ihr Euch immer noch mit diesem Monster, Mylady? Diese Tiere sind gefährlich, Ihr solltet vorsichtig sein.“
Trocto starrte ihn wortlos an. Seine gelben Augen schienen durch Bartas hindurchzudringen, als sei er zu unwichtig, um wahrgenommen zu werden. Schweiß stand auf der Stirn des Beraters. Mit einer ruckartigen Bewegung drehte der Mann sich um und verließ den Saal hastigen Schrittes.
Trocto blickte ihm hinterher. Dann wandte er sich langsam zur Königin. Selvieve erhob sich von ihrem Thron, sodass sie dem fremdartigen Wesen von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand. Wieder einmal wurde sie von dem leichten Schwindelgefühl erfasst, dass sie oft ergriff, wenn sie in Troctos Augen blickte. Es war, als würde man einen Herzschlag hinter die Realität der Welt zurückfallen. Die Augen schienen den Blick in eine uralte Zeit zu ermöglichen, als Menschen noch keine Paläste hatten, als die Luft nach rauher Freiheit schmeckte.
„Mylady“, die Stimme des Zentaurs war leise, beinahe ein Flüstern. „Ihr habt zwei Probleme und ich habe zwei Lösungen. Ich möchte nicht, dass Ihr die Details dieser Lösungen kennt. Ich möchte nur, dass Ihr nickt, wenn Ihr einverstanden seid. Mylady, soll ich eine Lösung Eures Beraterproblemes herbeiführen?“
Selvieve blickte ihn an. Dann nickte sie.
“Möchtet Ihr des weiteren, dass ich mich um die Invasoren kümmere?“
Wieder nickte Selvieve, diesmal entschiedener.
Wortlos drehte der Zentaur sich um und trabte aus dem Saal. An der Tür blickte er sich um. „Eure Entscheidung ist gefallen. Dieser Weg ist unumkehrbar.“
In den nächsten Tagen schien ein schwarzer Schatten über den kleinen Staat zu fallen. Gerüchte wurden von hastigen Mündern in erwartungsvolle Ohren gegossen. Hast du gehört, dass der Berater verschwunden ist? Bartas? Was, man hat seine Leiche inzwischen gefunden? Auf eine Pfahl gespießt, viele Tagesritte von seiner Burg entfernt? Und weiß man schon, was aus der Südprovinz geworden ist? Der Feind ist vertrieben worden, aber wie?
Die sternenlose Nacht gebar Gestalten, die aus den Wäldern kamen und die Armee des Feindes angriffen, Schatten aus längst vergangenen Zeiten, so fremd, so anders, dass ihr Anblick genügte, um Panik zu erzeugen, die fast greifbar war, Furcht vor einem Schicksal, gegen das der Tod ein Erlösung darstellte.
Auf die Nacht folgte neuer Morgen.
Drei Monate später ließ Selvieve ihren Mann für tot erklären und sich zur von Gott ernannten Herrscherin krönen. Das Volk akzeptierte, doch es war unruhig. Man hielt Selvieve für eine Hexe, sprach von geheimen Treffen mit Satan, von düsteren Messen in den Eingeweiden der Burg. Doch die Stimmen verstummten, als die Monate sich zu Jahren dehnten und auch die Jahre unaufhaltsam vorübergingen wie ungezähmte Pferde. Wer bei dem Aufbruch des Königs noch kaum über den elterlichen Tisch hinwegzuschauen vermochte, wuchs, verliebte sich, heiratete, zeugte Kinder, sah zu, wie seine goldenen Haare spärlich und fahl wurden, lebte, liebte, hasste, für immer im Gefolge der Zeit.
Dreißig Jahre vergingen.
Feinde trieben ihre Armeen immer wieder in den kleinen Staat, reckten bunte Banner in den Himmel, gewiss, eine Frau und ihr Reich vernichten zu können. Bis die Nacht kam und die Dunkelheit sie verschlang. Diejenigen, die es nach Hause schafften, sprachen wenig. An den Rändern ihres Bewusstseins war stets die Dunkelheit, die sie überfallen hatte, das Trampeln von Hufen in ihren Ohren, die nicht wie Pferdehufe klangen sondern wie die Schritte des Todes, wenn er im Gewand der Nacht über die Erde schreitet und um ihn das Leben welkt.
Die Angriffe hörten auf. Die Dunkelheit war dem Land gewogen.
„Das Volk liebt Euch, meine Königin“, stellte Trocto fest, als er fast lautlos neben dem Thron der Königin erschienen war. Es war ein lauer Herbstabend, viele Monde nach dem Aufbruch der Gralsritter. „Der Handel blüht, die Luft riecht nach frischem Weizen und wilden Blumen. Jeden Monat bringen die Händler Vorräte in die Wälder, zu meinem Volk. Warum seid ihr so blass?“ Er brachte etwas zustande, das einem aufmunternden Lächeln glich.
„Trocto...“, Selvieve stockte. Ein trauriges Lachen entwich ihrem von den Jahren gezeichneten Körper. „Erzähl mir noch einmal von den alten Zeiten. Erzähl mir noch einmal, wie du mit Galmarth die Mondscheininseln besucht hast. Beschreib mir genau, wie die Wellen das Licht widergespiegelt haben, wie die Zeit stillzustehen schien, als hätte das fahle Leuchten den Moment in alle Ewigkeit gestreckt.“
Der Zentaur blickte sie unverwandt an. „Ich sehe in Euren Augen, dass dies keine Zeit zum Erzählen ist, meine Königin. Gibt es ein Problem? Ich bin mir sicher, wir werden eine Lösung finden.“
Selvieve lachte heiser auf. „Für dich gibt es immer eine Lösung nicht wahr?“ Sie stockte und schloss ihre Augen. Sie war keine junge Frau mehr. Sie war zu alt, um das Gewicht der Welt auf ihren Schultern zu tragen. „Eine kleine Armee ist in die Ostgebiete eingedrungen.“
Troctos Gesicht blieb regungslos. „Ich werde mich darum kümmern. Um welche Armee handelt es sich?“
Selvieve erwiderte seinen Blick. Jede Faser ihres Körpers war angespannt. „Sie tragen ein Banner aus vergangenen Tagen. Ein goldener Löwe auf schwarzem Grund. Sie werden angeführt von einem König aus vergangenen Tagen. Unter ihnen ist ein Freund aus vergangenen Tagen.“
Zum ersten Mal, seit Selvieve den Zentauren kannte, schien er aus der Fassung. Überraschung, Zweifel und schiere, helle Freude durchzogen sein Gesicht, diffuse Lichtstrahlen im Wald. „Galmarth ist zurück? Der König auch? Haben sie den Gral ...“
„Es ist egal ob sie den Gral gefunden haben!“ schrie Selvieve. Ihre Lungen schienen zu bersten, das Licht brannte in ihren Augen. „Es ist egal, verstehst du das denn nicht! Er wird wieder König sein! Alles was ich aufgebaut habe, wird zu Staub! Wenn du denkst, er wird den Städten ihren Wohlstand lassen, bist du ein Narr. Wenn du denkst, er wird dein Volk in Ruhe lassen, bist du verrückt. Verstehst du denn nicht? Der Gral ist irrelevant, eine fahle Legende aus Spinnenweben und Staub! Es geht hier um meine Welt, mein Land, mein Volk.“
„Was erwartet Ihr von mir, Selvieve?“ Die Miene des Zentauren war erstarrt, seine Augen waren erloschen. Er wusste, was Selvieve erwartete.
„Es gibt ein Problem, Trocto. Du wirst es lösen. Du hast“, flüsterte sie und trat einen Schritt auf Trolco zu. „du hast geschworen, mich zu beschützen. Tue deinem Schwur Genüge. Sie werden heute Nacht kurz hinter der Grenze ihr Lager aufschlagen. Entfessle die Dunkelheit, Zentaur.“
Einen Herzschlag lang schien alles, was an Trocto vertraut wirkte, zu verschwinden. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, wie ein uralter Gott, der ängstliche Gebete einforderte. „Ich soll meinen Freund töten?“ Der Moment hielt nicht an. Alle Kraft schien seinen Körper zu verlassen. Langsam bewegte er sich auf die Tür zu. Das Pochen seiner Hufe auf dem kalten Marmor klang hohl, verrottet. „Ich werde es tun, weil ich geschworen habe. Dann werde ich in die Wälder zurückkehren. Ihr seht mich nie wieder. Schickt mir Boten hinterher und Ihr werdet vernichtet.“ Er warf ihr einen letzten Blick zu, aus dem alle Wärme, alles entfernt Menschliche verschwunden war. Dann war er verschwunden.
Trocto kehrte nicht zurück. Dunkelheit umarmte die Armee an der Ostgrenze. Er kehrte nicht zurück und das Leben schien aus dem Schloss, schien aus Selvieve gewichen. Als der Morgen anbrach, stand die Königin am Turmfenster. Die aufgehende Sonne brach durch den Nebel und malte das Land in verräterischen Lügenfarben an. Selvieve öffnete das Fenster und ließ ihren Blick über ihr Reich schweifen. Menschen erwachten, um befreit den Tag zu beginnen, ihren kleinen Wegen zu folgen, ihre Arbeiten zu tun, ihr Leben zu führen. Ein normaler Tag.
Doch der Winter war angebrochen, ohne Zweifel. Selvieve würde nicht weinen, sie würde nicht klagen. Sie musste die Fakten des Lebens akzeptieren. Freundschaft starb, Ehre ging. Die Zeit würde alles verschlingen, Licht würde endlosen, dunklen Nächten weichen.
Der Winter war nah.