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Nachthimmelschwarz

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14.07.2014
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Nachthimmelschwarz

Der Schnee fiel laut.
Menschenleer war der Platz, sein endloses Alaska. Der steinerne Blick des Mannes, dessen Namen er nie erfahren hatte, folgte ihm von seinem Platz über dem Brunnen, als Wolgast den Platz mit festen Schritten überquerte, er fühlte ihn noch selbst dann noch, als er ihm schon lange den Rücken zugekehrt hatte. Er fragte sich, was der Mann getan hatte, dass man ihm an dem wohl unbedeutendsten Ort der ganzen Stadt ein Denkmal hatte aufstellen lassen. Wahrscheinlich nichts wichtiges, sonst hätte man es woanders aufgestellt.

In dem gleißenden Licht der Wintersonne, die durch die Wolken brach, war zwar alles wie immer und doch wirkte es verändert. Der Platz war zu groß, der Schnee zu weiß; die Fassaden der leicht heruntergekommenen und sehr alten Häuser, in denen fast niemand mehr wohnte, ragten viel zu weit in den Himmel, waren fast schon bedrohlich. Abdrücke im Schnee deuteten auf die konturenlose Anwesenheit anderer Menschen hin; die von Wolgast mischten sich unter sie. Trotzdem war er alleine. Derselbe Platz, über den er jeden Tag schritt, und doch war es ein völlig neuer Ort. Keiner, in den er wirklich gehörte.

Flocken so dick wie Federn und so leicht wie die Luft selbst legten sich auf seinen Kopf und die Schultern, blieben in seinen Wimpern hängen und schmolzen auf seiner Haut. Er spürte die Kälte kaum mehr, so lange war er schon unterwegs. Frühmorgens hatte er sich auf den Weg gemacht, noch im Halbschlaf, sonst hätte er es sich vermutlich anders überlegt. Aber es hatte einen Grund für ihn gegeben; die fast tauben Finger seiner rechten Hand umschlossen den Zettel fest, der ihn an diesem Morgen dazu gezwungen hatte, überhaupt aufzuwachen. An ihn wollte er jetzt jedoch nicht mehr denken.

Jede Flocke, die fiel, erinnerte ihn nur zu lebhaft an die Zeit im Jahr, die er hasste. Eigentlich mochte er keine Jahreszeit besonders. Sie zogen meist einfach an ihm vorbei und waren ihm fast schon egal, doch den Winter hasste er mit all der Entschlossenheit, die er dafür noch aufbringen konnte. Das war immer so gewesen und vielleicht hatte er sich sogar ein wenig damit abgefunden, aber an diesem Weihnachten fiel der Schnee zu laut.

Der Platz hatte das Weihnachtsfest noch nie gesehen. Nie hatte sich jemand die Mühe gemacht, einen Baum aufzustellen oder sich eine Lichterkette an das Fenster zu hängen. Wenn doch, dann war es ihm nicht aufgefallen. Selbst der weihnachtliche Duft, der durch die ganze Stadt zu ziehen schien, machte vor den Einmündungen zum Platz Halt. Dort war es wie an jedem anderen Tag, grau, ein wenig einsam und beinahe schon leblos.

Den Jungen sah Wolgast erst, als er das Haus, in dem er wohnte, fast erreicht hatte. Er wollte gerade seinen Schlüssel aus der Jackentasche ziehen, als ihn ein Geräusch, das er lange nicht mehr gehört hatte, innehalten ließ. Obwohl der Ton so sanft war wie Musik, durchschnitt er die Stille, die Wolgast gefangen hielt, wie ein Messer. Er blickte suchend um sich, war erst geblendet von dem vielen Weiß, doch dann gewöhnten sich seine Augen daran und er sah die winzige Gestalt dort sitzen, ein Junge von vielleicht elf Jahren, ganz in schwarz gekleidet, im Kontrast dazu sein weißes Gesicht mit den dunkelsten Augen, die er je gesehen hatte. Sie blickten durch Wolgast hindurch und in seinen von der Kälte geröteten Fingern hielt der Junge eine winzige, goldene Glocke, die kaum merklich hin und her schwenkte. Sie war es, sie erzeugte das Geräusch, das Wolgast so erschütterte. Der Zettel glitt zu Boden, er hob ihn nicht auf.

Schritte im Schnee, links von ihm. Er brauchte nicht hinzusehen, er wusste, wer es war. Der Mann war von bemerkenswerter Statur, größer und breiter als er. Kantiges Gesicht, Vollbart, Augen nachthimmelschwarz. Seine Stimme schnitt eisig durch die Luft, als er seinen Jungen aufforderte, aus dem Schnee aufzustehen. "Sitz da nicht rum wie ein Idiot. Bist du denn zu nichts zu gebrauchen?"

Der Junge, eingeschüchtert. Wolgast, nicht fähig, zu reagieren. Der wütende Vater, der seinen Sohn am Kragen packte und hochzog. Die Glocke fiel zu Boden und blieb dort einsam liegen. Die Glocke, die der Junge war; die Glocke, die Wolgast war.

Mit einem Knall schlug die Haustür hinter den beiden zu und riss Wolgast aus seinen Gedanken. Er stürzte zum Eingang, die Tür war kaputt, sie schlug einfach auf und der Wind wehte den fallenden Schnee mit herein. Früher hatten sich einige Bewohner immer beschwert, wenn Schnee im Treppenhaus lag, weil dieser meistens gefror. Früher.

Das Klingeln der Glocke folgte ihm die Treppen hinauf, obwohl sie verschwunden war; es mischte sich unter das Klimpern der Schlüssel und Wolgast‘ mehrfach erfolglose Versuche, mit seinen zittrigen Fingern die Tür zu der Wohnung zu öffnen. Als er es endlich geschafft hatte, rettete er sich in die vertraute Einsamkeit des Flures, die ihn empfing wie an jedem anderen Tag. Das Klingeln der Glocke verstummte und es war sehr lange sehr still.

"Nehmen Sie eine, wenn Sie sich danach fühlen. Nicht mehr, eine sollte reichen." Er sah den mitfühlenden Blick des Apothekers, hörte die Worte, die ihn in die dunkle Küche trieben, als stünde der Mann direkt vor ihm. Der Küchentisch aus umgedrehten Kartons, eine Ablage, ein alter Herd, den er noch nie benutzt hatte. Ein Schrank, der bis auf eine Dose fast leer war. "Frohe Weihnachten."

Er nahm sie heraus und schraubte sie auf, schüttete sich ein, zwei, drei Tabletten in die Hand. Zu ungeduldig, um sich eine Flasche zu holen, schluckte er sie ohne Wasser. Sie brachten nichts, er war immer noch da, doch wenigstens betäubten sie das Taubheitsgefühl, das ihn so plagte, wenn auch nur für diesen Moment. Ein Teufelskreis.

Er schleppte sich hin zum Wohnzimmer und zündete eine Lampe an. Strom hatte er schon lange nicht mehr, die Heizung war ausgefallen. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihm, das viel Zeit vergangen war, wie spät es genau war, wusste er nicht. Es war ihm egal. In dem Dämmerlicht der Lampe öffnete er die unterste Schublade einer Kommode, die nur noch da stand, weil er sie damals alleine nicht hatte raustragen können. Ein einziger Gegenstand lag darin, die goldene Oberfläche reflektierte das Licht der Lampe, obwohl sie sehr verstaubt war. Er bewegte die Hand, um zu erfahren, ob sie noch funktionierte, und himmelsgleiche, sanfte Töne erfüllten die Luft. Sie war er, er war die Glocke.

Draußen, auf dem dunklen Platz, lag immer noch der Zettel, mittlerweile überzogen von einer zentimeterdicken Schneeschicht. Hätte ihn jemand gefunden und gelesen, hätte er erfahren, dass es sich um eine Todesanzeige handelte. Hätte er Wolgast gekannt und ihn zuvor noch gesehen, hätte er vielleicht gewusst, dass er vom Friedhof kam. Wäre er ihm begegnet, hätte er vermutlich den Blick gesenkt und nur genickt, wenn überhaupt. Wer wusste schon, was man jemandem sagen sollte, der gerade den Vater verloren hatte, außer dem oberflächlichen Kundtun seines Beileids?

Aber niemand fand den Zettel und der Schnee verstummte.

 

Hej Maris,

herzlich willkommen bei den Wortkriegern.

Ich finde das für einen ersten Versuch nicht so schlecht. Mir fallen aber gleich zu Beginn einige Unklarheiten auf.

Der Schnee fiel laut.
Dass der Schnee laut fällt, halte ich hier für eine absolute Aussage und damit wird es unstimmig.
Später schreibst Du, dass er "zu laut" für Wollgast fällt, da ist subjektiv und damit nachvollziehbarer.

Menschenleer war der Platz, sein endloses Alaska.
Worauf bezieht sich das "sein"? Es könnte ebensogut der laut fallende Schnee, der Platz aber auch Wolgast sein.

Menschenleer war der Platz, sein endloses Alaska. Der steinerne Blick des Mannes, dessen Namen er nie erfahren hatte, folgte ihm von seinem Platz über dem Brunnen, als Wolgast den Platz mit festen Schritten überquerte

Nicht richtig klar ist mir geworden, warum Du den Vater als eine Art Pointe bringst. Damit wird die Lücke betont, die zwischen den beiden Bildern von ihm herrscht, einmal das von Wolgast erinnerte, bei dem der Vater nicht gut weg kommt und das indirekte, das entsteht, weil Wolgast so sehr trauert.
Dazwischen hat sich etwas in dem Verhältnis von Vater und Sohn verändert und ich finde das wäre spannend und für Deine Geschichte wichtig gewesen.

Soviel von meiner Seite, ich wünsche Dir noch viel Spaß hier

LG
Ane

 

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