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Neue Welt
überarbeitete Fassung
Eine halbe Ewigkeit hatten sie zur Tatenlosigkeit verurteilt verbracht. Mit vergleichslosen technischen, physischen und finanziellen Aufwendungen war ihre Gesellschaft zur Tat geschritten und hatte die gemeinsamen Träume in Keramik und Metall gegossen. Die besten Jahre ihres Lebens eingesperrt in diesem Schiff, dass sie nahezu mit Lichtgeschwindigkeit ihrem Ziel entgegen katapultierte. Unter Berücksichtigung der Zeitdilatation mochten zuhause unterdessen Jahrhunderte vergangen sein und es würde keine Angehörigen und Freunde geben, zu denen sie zurückkehren könnten, sobald sich ihre Mission erfüllte. Sie hatten alles hinter sich gelassen. Nur, um als erste einen Blick in eine neue Welt werfen zu dürfen.
Zwei kroch aus seiner Kammer und streckte sich. Eins und Drei hatten ihn eben aus dem künstlichen Tiefschlaf geweckt. Ehe zwei zu einer subtilen und auch überflüssigen Frage ansetzen konnte, nahm Eins die Antwort vorweg.
„Ja, wir sind da. Ja, die Sensoren zeigen eine atembare Luftmischung an!“
Drei lächelte nervös und stützte seinen immer noch etwas benommenem Schiffskameraden, während dieser sich aufrichtete.
„Wir lassen den Computer noch ein paar Analysen durchführen und dann geht es hinaus in die neue Welt!“
In einer Zeit lange vor dem Start hatten sie sich noch mit ihren eigenen Namen angesprochen. Im Auswahlverfahren für die Mission wurden aus undurchsichtigen verwaltungstechnischen Gründen die Namen dann durch Nummern ersetzt. Das hatte sich sukzessive unter ihnen eingebürgert. Die Nummern standen gleichzeitig auch für eine hirarchische Reihenfolge. Eins schaltete die Aussenkameras ein. Der Kamerafühler reckte sich aus dem schlammigen Untergrund nach oben, auf dem das Schiff gelandet war, und gab den Blick frei auf die neue Welt.
Mit offenen Mündern drängten sie sich um den Schirm. Es waren fremdartige organische Strukturen zu sehen, die entfernt an die heimischen Pflanzen erinnerten.
“Waaahnsinn , schaut mal da hinüber!”,
Zweis Stimme überschlug sich beinahe und er deutete auf einen sich bewegenden Punkt am Horizont.
“Das sieht aus wie ein... Wie ein Vogel! Unglaublich!”
Ihre Herzen klopften ihnen bis zum Hals und Drei konnte es nicht verhindern, dass ihm ein leicht irre klingendes manisches Kichern entfuhr. Alle Professionalität bröckelte ihnen weg, das hier war ein Erdbeben für die Psyche.
Eins aktivierte die Aussenmikrofone und fremdartige Klänge hallten mit einem Mal durch den Navigationsraum. Für Zwei gab es nun kein Halten mehr.
“Ich muß da raus, Leute! Und zwar jetzt gleich!”
Er drehte sich um und stürmte zur Schleuse. Eins und Drei schauten sich an.
“Warte!”,
protestierte Eins.
“Das verstösst gegen alle Protokolle.”
In Wirklichkeit war er nahe daran, es Zwei gleichzutun.
“Die Protokolle?”
Zwei lachte.
“Diejenigen, die die Protokolle verfasst haben, sind Jahrhunderte tot und wußten nicht, was uns hier erwartet. Vergiss die Protokolle!”
Er war bereits in seinen Anzug geschlüpft und langte nach der dazugehörigen Versorgungseinheit. Eins ärgerte sich und wünschte einen Augenblick, er hätte den ungestühmen Zwei lieber in der Tiefschlafkammer gelassen. In der Ausbildung hatte er Zweis Charakter kennengelernt und schon ähnliches befürchtet, doch Zweis Qualifikationen in verschiedensten Bereichen hatte nach Meinung der Projektleitung die unbedeutenden Teilschwächen, welche die Projektpsychologen in der emotionalen Balance aufgedeckt hatten, überwogen.
“Das ist es doch gerade: Niemand wußte bis in jedes Detail, was uns hier erwartet und auch wir wissen es nicht! Es könnte gefährlich sein! Lass uns erst noch ein paar Untersuchungen machen und die Drohne rausschicken, Zwei. Ich bitte Dich, reiß Dich zusammen!”
Zwei überhörte ihn einfach und verschwand in der Schleuse. Eins war jetzt wütend.
“Zwei, als schiffsführender Kommandant ordne ich an, dass Du sofort zurückkommst! Ich BEFEHLE es Dir!”
Zwei ignorierte auch diese nachdrückliche Ansage.
“Ich denke, dass das hier das mindeste ist, was mir zusteht, nachdem ich jahrelang - mit euch beiden auf engstem Raum eingesperrt - durchhalten musste!”,
ertönte seine Stimme noch einmal blechern über die Gegensprechanlage aus der Schleuse. Dann ein Zischen und er war draussen. Die folgende Stille im Schiff war erdrückend. Drei schaltete mit zitternden Fingern das Mikrofon ein und versuchte Kontakt herzustellen.
“Zwei? Zwei!? Hörst Du mich?”
Keine Antwort. Eins lief es kalt den Rücken hinunter. Wenn die Luft nun unverträgliche Bestandteile enthielt, die der Analyse entgangen waren? Wenn es dort draussen womöglich von agressiven Lebensformen wimmelte? Zweis Kenntnisse der Interstellaren Navigation waren zudem für ihre Rückkehr zu ihren Nachfahren unentbehrlich. Ein riesiges Auge füllte plötzlich den Monitor der Aussenkamera aus und lautes Gebrüll brachte die Lautsprecher zum Erzittern. Drei und Eins zuckten zusammen. Zwei zog seinen Kopf von der Kamera zurück und lachte schallend.
“Es ist in Ordnung. Ich kann ohne Versorgungseinheit atmen! Es ist wunderschön hier draussen. Kommt schon!”
Zwei sprang auf und eilte dem Horizont entgegen. Momente später verschwand er hinter einem Felsen.
“So wunderschön ist es. Wow, Leute, hier hinten gibt es noch mehr Pflanzen. Und da ist soetwas wie ein Fluß.”
Zweis vergnügtes Summen war über die Lautsprecher zu hören und nun konnte auch Drei nicht mehr an sich halten.
“Ich will zu ihm, Eins. Uns entgeht das Beste, die ersten Erkundungen werden Geschichte schreiben und ich möchte meinen Anteil an dieser Geschichte haben. Deine Vernunft in Ehren, Zwei ist nichts passiert. Komm, lass uns gehen, niemand wird uns einen Vorwurf machen, es ist unser gutes Recht als Pioniere. Nach all den Jahren ertrage ich es schwerlichst, noch mehr Zeit in diesem metallernen Sarg zu verbringen. Die Welt ist dort draussen!”
Eins schnaufte. Das war alles so schrecklich unprofessionell. Zum Glück waren die Projektverantwortlichen längst gestorben und seinen Urenkeln gegenüber, die dereinst von den Verhältnissen bei der Ankunft des Schiffes erfahren würden, empfand Eins kein Schamgefühl.
“Habt ihr denn beide den Verstand verloren?”,
schimpfte der Kommandant, aber sein Widerspruch überzeugte ihn selbst nicht mehr. Plötzlich erschienen ihm all die Sicherheitsvorschriften, Protokolle und Verpflichtungen so lächerlich und der Situation unangemessen. Verstaubte, Jahrhunderte alte Regeln, verfasst von unwissenden Ignoranten. Und er würde sich später nicht von irgendwelchen viele hundert Jahre jüngeren Kindern für das Brechen der Regeln rügen lassen. Eins traf seine Entscheidung.
“Zwei, wir kommen jetzt raus”
- Keine Antwort. - Zweis Summen war verstummt.
“Zwei?”
Einses Bedenken kehrten mit einem Schlag zurück.
“Zwei, was ist los? Wo bist Du? Melde Dich!”
Ein ersticktes Röcheln drang aus dem Lautsprecher, dann war Stille. Eins und Drei starrten sich entsetzt an.
“Laß uns die Drohne rausschicken.”
Sie sprangen an die Pulte und versuchten den kleinen Kettenroboter aus dem Schiff zu bugsieren. Doch irgendetwas stimmte nicht mit der Ladeklappe. Eins richtete die Aussenkamera entsprechend aus und sie erkannten die Ursache. Das Schiff war bei der Landung zur Hälfte in schlammigen Untergrund eingesunken und die Ladeklappe war blockiert. Schlimmer noch: Das Schiff sackte mit jeder Erschütterung immer tiefer. Von Zwei war weiterhin nichts zu hören. Die Situation begann ausser Kontrolle zu geraten.
“Dieser verdammte Idiot, diese verfluchte Mission!”,
schimpfte Eins. Das war das erste Mal seit seinem Eintritt in die Ausbildung vor vielen Jahren, dass er Kraftausdrücke benutzte. Eins und Drei zwängten sich eilig in die Anzüge und schickten sich an, das Schiff zu verlassen. Die Schleuse öffnete sich vor ihnen und gab den Blick auf eine urtümliche Landschaft frei.
Vorsichtig arbeiteten sich die beiden durch den Schlamm in die Richtung vor, in welche Siebzehn verschwunden war. Links von ihnen schnatterte es und ein gelb-graues Bündel flatterte in die Höhe und verschwand schimpfend gegen Westen. Eins und Drei waren von den Eindrücken überwältigt, verloren dabei aber ihre Suche nicht aus dem Sinn.
“Zwei! Wo bist Du?”
Keine Antwort. Viel zu lange schon nichts als Schweigen. Rechts war ein seltsames Pfeifen in einem Gestrüpp zu hören. Sie liessen sich nicht irritieren und kämpften sich weiter vor. Drei kam als erster an den Felsen und blieb wie angewurzelt stehen.
Vor ihm lag mit gebrochenen Augen Zwei in seinem Blut.
“Verdammt, Eins. Es hat Zwei erwischt!”
Drei machte einen Schritt zurück. Etwas flog an ihm vorbei. Eins röchelte und sackte zu Boden. Ein länglicher Gegenstand hatte seinen Hals durchbohrt.
Drei verfiel in begründete Panik und stürzte in Richtung des Raumschiffs davon. Den beiden Schiffskameraden war nicht mehr zu helfen. Nicht von ihm. Er war allein. Hatte in der Tiefe seines Herzens sowieso nie zu den Sternen fliegen wollen. Aber Mutter war so stolz gewesen auf die Chance, die sich ihm bot. Und so war er hier hineingeraten und schließlich gestrandet in einer fremden und - wie sich jetzt zeigte - lebensfeindlichen Welt. So hatte er sich den Missionsverlauf nicht vorgestellt. Vielleicht hätten sie die Protokolle doch ernster nehmen sollen. Dafür war es jetzt zu spät. Etwas traf seinen Rücken. Der Schmerz nahm ihm den Atem und stoppte die irrelevanten Gedankengänge. Drei strauchelte und fiel auf die Seite. Sein Blick verschleierte sich zusehens. Das letzte, was er vor Augen hatte war ein hochgewachsenes zweibeiniges Wesen, das auf ihn zugestapft kam und dabei grunzende Geräusche von sich gab.
Bronk griff nach seinem Speer und warf auch das dritte Pelztierchen über seine Schulter. Die Jagd war erfolgreich verlaufen. Endlich einmal gab es etwas anderes zu Essen, nicht immer nur fauliges Fleisch und Grünzeug. Der Kadaver des Mammuts, von dem sich seine Gruppe seit mehreren Tagen ernährte, hatte mittlerweile zu stinken angefangen. Die anderen Neandertaler würden begeistert sein über den Fang und das festigte seine Position in der Gruppe. Der Jäger grunzte zufrieden. Er hatte zwar noch nie zuvor solch seltsame pelzige Tierchen gesehen wie diese drei, aber das war ihm gleich. Ob die Wesen ungeniesbar waren oder nicht, würde sich später herausstellen. Er beschloss, zur Sicherheit als erstes einer seiner Frauen etwas davon zum Kosten zu geben. Ein guter Gedanke. Am besten derjenigen, die mit ihren achtzehn Jahren schon alt und schrumplig zu werden begann und ihm auch sonst auf die Nerven ging. Der Tag hatte in jeder Hinsicht vielversprechend begonnen.