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Nils' Wunschliste
Nils war ein Junge von sieben Jahren mit einem schwarzen Lockenkopf, der stolz seine Brust herausreckte, denn er ging jetzt in die Schule. Das Lernen machte ihm großen Spaß, wenn da nicht seine Mitschüler gewesen wären, die ihn überhaupt nicht zu mögen schienen. Nils wohnte in einem sehr alten Haus, zusammen mit Mama, Papa und seiner Oma Luise. Alle seine Anziehsachen hatten vor ihm schon andere Kinder angehabt. Er kannte es nicht anders und es war ihm auch egal. Für ihn waren es schöne Sachen. Aber die anderen Kinder in seiner Klasse fanden ihn deswegen uncool. Sie wollten mit ihm nichts zu tun haben. Viel schlimmer noch: Sie verspotteten und beschimpften ihn. Das machte Nils sehr traurig. Mama und Papa hatten so viel zu tun, dass sie es nicht bemerkten, aber Oma Luise hatte eine ganz feine Antenne für große Probleme.
»Nils, komm, setz dich zu mir. Dich bedrückt doch etwas. Raus damit.« Oma Luise hatte schneeweiße Haare, die ihr glatt bis auf die Schultern reichten. Sie waren seidenweich und Nils ließ sie gerne durch seine Finger fließen.
Er lehnte sich an sie, sog ihren Duft ein, der für ihn Geborgenheit bedeutete, und fing augenblicklich an zu weinen. Seine Tränen fielen auf ihre himmelblaue Bluse und hinterließen dunkelblaue Flecke. Er erzählte Oma Luise, wie gemein die anderen Kinder zu ihm waren. Und dann sagte er etwas, das Oma erschreckte. »Sie sagen, ich bin ein Loser. Auch, weil Papa ein uraltes Auto fährt. Sie sagen, ich gehöre nicht zu ihnen und nicht in diese Schule. Ich wünschte, ich müsste da nicht mehr hingehen.«
Oma sagte erst einmal nichts, sondern streichelte einfach nur seinen Kopf. Dann fasste sie ihn an den Schultern und sah ihm in die grünen Augen. »Weißt du, Opa war auch manchmal traurig. Da hat er sich an sein altes Klavier gesetzt und angefangen zu spielen. Er hat es Wünsche erfüllen genannt. Aber es waren seine eigenen Wünsche, die in Erfüllung gehen sollten. Dein Opa war nämlich schlau. Er hat genau gewusst, was mir gefällt. Und wenn er gespielt hat, was ich gerne höre, dann ging manchmal in Erfüllung, was er sich gewünscht hat. Es waren kleine Wünsche. Für die großen hat bei ihm die Zeit nicht mehr gereicht. Aber du bist noch ein kleiner Junge. Du kannst es zu den ganz großen Wünschen schaffen.«
Nils wusste noch nicht, worauf Oma Luise hinauswollte. Doch dann führte sie ihn in die winzige Kammer, in dem noch immer Opas altes Klavier stand und klappte den Deckel auf. Nils hat zwar manchmal selbst schon mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand einzelne Töne angeschlagen, aber ein richtiges Lied hat er noch nicht zustandegebracht. Er staunte, als Oma sich auf den Hocker setzte und eine leise Melodie zu spielen begann. Das gefiel Nils und er fiel ihr um den Hals.
»Siehst du, ich habe mir gewünscht, dass du mich umarmst. Wenn du willst, zeige ich dir, wie man einfache Melodien spielen kann. Du musst aber immer einen Wunsch im Kopf haben, den du aber niemandem sagen darfst. Sonst geht er nicht in Erfüllung. Am besten ist es, wenn du dir eine Liste mit Wünschen aufschreibst. Fange mit ganz kleinen Wünschen an.«
»Und meine Wünsche werden dann sofort wahr?«, fragte Nils erwartungsfroh.
»Nicht immer. Du musst viel Geduld haben. So wie Opa.«
Am Abend setzte Nils sich hin und begann, seine ersten Wünsche auf eine leere Seite zu schreiben. Die versteckte er dann, damit sie auch niemand finden konnte, nicht einmal seine Mama oder sein Papa. Und am nächsten Tag ging er sofort zu Oma Luise. Sie hatte Notenbücher aus Opas Schrank gesucht und setzte sich mit ihm ans Klavier und erklärte ihm, auf welche Taste er bei einer bestimmten Note drücken musste. Es machte ihm Spaß, wenn er die richtigen Töne traf und Oma die Melodie erraten konnte. Mit der Zeit spielte er immer fließender.
Einer von seinen Wünschen war, dass er einmal so gut spielen könnte, dass Oma feuchte Augen bekam, wie so oft, wenn sie sich über etwas freute. Und heute war es endlich so weit. Als er die Finger von den Tasten nahm und zu ihr sah, wischte sie sich über die Augen.
»Weinst du?«, fragte er, um es auch ganz genau zu wissen, dass ihr wegen ihm die Tränen kamen.
»Ach, wenn Opa das erleben könnte, wie schön du spielst«, antwortete sie. Von da an glaubte er ganz fest an seine Wunschliste.
Jeden Abend kontrollierte er seine Liste und merkte bald, dass er zu viel aufgeschrieben hatte. Einige Wünsche verloren mit der Zeit auch an Bedeutung und er strich sie durch, bis nur noch ein einziger übrig blieb. Den verwahrte er wie einen Schatz.
Nils übte jeden Tag am Klavier und wurde immer besser. Einmal, als er die Träumerei von Schumann spielte, öffnete Oma das Fenster zur Straße. Gerade spielte er die letzten Töne, als jemand an der Haustür klingelte. Oma Luise ging hinaus und machte auf. Sie kam mit einem älteren Mann zurück, den Nils schon irgendwann und irgendwo gesehen hatte. Er stand vom Hocker auf und trat einen Schritt zurück.
»Spiel weiter, Junge«, sagte der Mann und seine Stimme klang ganz aufgewühlt.
Nils setzte sich wieder ans Klavier und spielte die letzte Melodie noch einmal. Er vergaß den Mann, vergaß die Oma und hatte nur seinen letzten großen Wunsch im Kopf, der ihn mit einem Mal so durcheinanderbrachte, dass er sich verspielte. Aber er ließ sich nicht beirren und spielte weiter bis zum Schluss. Der Mann drehte sich um und ging hinaus. Oma Luise folgte ihm. Nils hörte sie beide vor der Haustür reden, verstand aber nicht, was sie sagten. Dann kam Oma wieder herein und Nils sah, dass sie einen ganz roten Kopf bekommen hatte. Sie rief die Treppe nach oben, Nils Mama und Papa sollten kommen. Nils spürte sein kleines Herz klopfen. Etwas lag in der Luft.
Oma konnte es kaum erwarten, dass alle beisammen saßen. Dann sagte sie endlich: »Stellt euch vor, Herr Katzenbart, der Klavierlehrer unserer Musikschule, war hier und hat zugehört, wie Nils gespielt hat. Er hat gesagt, er möchte dem Jungen Klavierunterricht geben. Er hat gesagt, er hat vielleicht gerade ein neues Talent entdeckt. Und stellt euch vor, wir müssen nichts bezahlen dafür.«
»Möchtest du das denn?«, fragte ihn sein Vater.
Statt einer Antwort rannte Nils die Treppe hoch und weiter in sein Zimmer. Als er zurückkam, hielt er einen Zettel in der Hand. Außer Atem sagte er nur: »Nichts lieber als das.« Er gab den Zettel Oma Luise. Sie sah ihn sich an, hielt ihn dann in die Höhe und zeigte auf die einzige, nicht durchgestrichene Zeile.
Nils nickte. »Ich möchte richtig Klavier spielen lernen.«
Eines Morgens in der Schule kam die Sekretärin ins Klassenzimmer.
»Nils soll ins Lehrerzimmer kommen«, sagte sie.
Die Lehrerin winkte Nils zu, dass er mitgehen sollte. Sofort kam Unruhe in der Klasse auf. Einige riefen durcheinander:
»Nils ins Lehrerzimmer? Wer sonst!«
»Der Loser!«
»Der macht nur Ärger!«
»Geh, brauchst nicht wiederzukommen!«
Nils bekam vielleicht nur die Hälfte von den Gemeinheiten mit, in seinem Kopf kreisten die Gedanken, was er wohl im Lehrerzimmer sollte. Als er eintrat, traute er seinen Augen nicht. An dem langen Tisch saßen sein Musiklehrer und Herr Katzenbart.
»Nils, komm, setz dich«, sagte sein Musiklehrer. Und dann fragte er ihn, ob er Lust hätte, beim Weihnachtskonzert in der Aula ein oder zwei Stücke am Klavier zu spielen. »Herr Katzenbart hat dich in den höchsten Tönen gelobt.«
»Ich soll wirklich spielen?«, fragte er mehr seinen Klavierlehrer. Der nickte aufmunternd.
Nils war mit einem Mal von solcher Freude erfasst, dass er aufsprang und beiden Lehrern um den Hals fiel. »Danke, dass Sie mir das zutrauen!«, rief er und lief zurück in seine Klasse. Und als er am Nachmittag Oma Luise zu Hause erzählte, dass er vor allen Eltern und Großeltern spielen würde, platzte er fast vor Stolz.
Zum Weihnachtskonzert war Nils mit seinem Klavierspiel zwischen zwei Blöcken des Schulchores vorgesehen. Es sollte sowohl für den Chor als auch für die Eltern eine Überraschung sein. Als er sich an den Flügel setzte, lachten einige aus seiner Klasse. Er begann zu spielen, und augenblicklich trat Ruhe ein, nur hier und da ein Husten war zu hören, sonst nur die leisen Töne des Klaviers. Nils spielte mit so viel Hingabe, dass Oma Luise mit dem Tränenwegwischen nicht nachkam. Doch das sah er nicht. Er sah überhaupt niemanden und er redete sich ein, ganz allein in dem Saal zu sein. Er verspielte sich nicht ein einziges Mal. Dann ließ er den letzten Ton ausklingen, bevor er aufstand. Als der Applaus losdonnerte, erschrak er so sehr, dass er sich wieder auf den Hocker setzte.
Als nach dem Konzert die Lichter in der Aula gelöscht wurden und nun auch Nils mit seiner Familie wieder nach Hause gingen, klopfte ihm jemand von hinten auf die Schulter. Er drehte sich um und stand Mike gegenüber, der ihm am meisten mitgespielt hatte.
»Hey Loser, toll gemacht! Hätten wir dir alle nicht zugetraut«, sagte Mike und es klang für Nils ehrlich.
»Danke«, sagte Nils und lächelte.
Oma Luise war auch stehengeblieben. »Wieso sagst du Loser?«, fragte sie Mike.
Der wusste auf einmal nicht mehr, was er mit seinen langen Armen anfangen sollte und stotterte: »Ach, wir sagen das einfach so. Er ist ja keiner.« Zu Nils sagte er: »Bis morgen, machs gut!«
Es fühlte sich für Nils gut an. Sollte alles vorbei sein und er in seiner Klasse jetzt endlich dazugehören? Den Wunsch hatte er nicht aufgeschrieben, weil er geglaubt hatte, dass er nie in Erfüllung gehen würde. Er war lange nicht mehr so glücklich wie in diesem Moment.