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31.08.2016
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Nime

„Hast du dir schon mal was gewünscht?“, fragte Lissie versonnen. Ihr gelber Luftballon wusste nicht, ob er hoch hinaus solle, denn er strebte zum Himmel, oder einfach nur weit weg, denn der Wind wollte ihn für sich haben. Ein bisschen missmutig schaute Lissie drein, fest hielt sie den gelben Luftballon in der kleinen Hand und wusste nicht, ob er, wenn sie ihn losließe, hoch hinaus flöge, denn dort sollte er hin, oder ob er fortgeweht würde, denn dann käme er nicht an.
„Nein“, erwiderte Nime. Warm lag Lissies andere kleine Hand in ihrer.
„Dann bist du wunschlos glücklich?“, fragte Lissie skeptisch, konnte sie sich doch kaum vorstellen, wunschlos glücklich zu sein.
„Das weiß ich nicht“, gab Nime zur Antwort. Der Wind, der immer noch beleidigt über die Anhöhe schimpfte, war ihr gleichgültig.
„Wie, das weißt du nicht?“
Nime schwieg. „Du musst doch wissen, ob du glücklich bist!“, drängte Lissie weiter.
„Das weiß ich nicht“, wiederholte Nime.
„Dann bist du auch nicht glücklich“, schlussfolgerte Lissie.
„Möchtest du jetzt deinen Ballon steigen lassen?“, fragte Nime metallisch.
„Noch nicht. Es ist ja total windig.“
„Du kannst ihn trotzdem steigen lassen“, kommentierte Nime.
„Nein. Dann kommt er nicht an.“
„Wo soll er ankommen?“
„Im Himmel. Bei meiner Mama. Wenn er nicht ankommt, kann sie mir meinen Wunsch nicht erfüllen.“
Nime scannte die geföhnte Landschaft, suchte den unsichtbaren Frisör.
„Was wünschst du dir? Vielleicht kann ich dir helfen“, versuchte sie Lissie entgegenzukommen. Lissies Vater hatte ihr aufgetragen, seine Tochter spätestens um 19:30 Uhr nach Hause zu bringen. Nach Hause bräuchten sie, wenn sie zügig liefen, etwa 17 Minuten. Es war 19:10 Uhr.
„Das verrät man doch nicht, du Doofi! Sonst geht der Wunsch nicht in Erfüllung.“
„Hm.“
„Bestimmt hört’s gleich auf zu winden!“, orakelte Lissie zuversichtlich. Nach einer Weile, noch immer durchflötete der unsichtbare Pan die Bäume und Büsche auf der Anhöhe, verzog Lissie Mund und Augen und blähte die Wangen zu einem verdrießlichen Mondgesicht. „Es macht mich traurig, dass du nicht glücklich bist“, erklärte sie unvermittelt.
„Du sollst nicht traurig sein“, erwiderte Nime.
„Du bist meine einzige Freundin! Ich will, dass du glücklich bist!“, quengelte Lissie. Nime zögerte. Glücklich zu sein, nie hatte jemand sowas von ihr verlangt. Das Wichtigste war Lissie, hatte ihr Vater immer gesagt.
„Hier!“ Lissie hatte sich Nime zugewandt und hielt ihr den Luftballon hin. Nime verstand nicht.
„Hier!“, ermunterte Lissie sie nachdrücklich. Nime nahm den Ballon und betrachtete ihn fragend.
„Wünsch dir was und lass ihn steigen. Meine Mama wird dir jeden Wunsch erfüllen.“
„Aber …“ Nime stutzte. Was sollte sie sich wünschen? Wie sollte das überhaupt funktionieren? „Wie …?“
„Das ist doch ganz einfach!“, kam Lissie ihr zur Hilfe, „überleg dir was, das dir fehlt, das du von ganzem Herzen willst, und wünsch es dir einfach! Und du musst ganz fest daran glauben, dass dein Wunsch in Erfüllung geht!“
„Glauben?“
„Ja! Das heißt, dass du es weißt, obwohl du es nicht weißt.“
„Ich weiß nicht“, gab Nime verwirrt zurück, „mir fehlt nichts.“
„Das kann nicht sein! Jedem fehlt doch irgendwas!“
„Verzeihung.“
„Ich wünsche mir, dass du dir was wünschst.“
Lange rechnete Nime, ergebnislos. Noch immer säuselte der Wind sich selbst Vertrauliches zu, noch immer wäre er ihr gleichgültig gewesen, wäre da nicht der gelbe Luftballon, wäre da nicht 19:12 Uhr.
„Ich wünsche mir ...“, begann sie, stockend.
„Nein! Nicht verraten, was du dir wünschst!“
Auf einmal, als holte der verschleierte Flötist frischen Atem und verharrte mit gefüllter Lunge, stand die Luft still. Kein Pfeifen pfiff, kein Föhn föhnte, keine Flöte flötete. Schnurgerade stieg der Luftballon zum Himmel hinauf, schrumpfte zu einem Stecknadelkopf, verlor seine gelbe Farbe, verlor sich im Grau der Wolken. Lissie lächelte.
„Zeit, nach Hause zu gehen“, sagte Nime. Hand in Hand stiegen die beiden von der Anhöhe hinab ins Tal, während wieder fleißig geflötet wurde, durchquerten es zügig und kamen rechtzeitig zu Hause an.
„Bist du jetzt glücklich?“, wollte Nime wissen, als sie vor der Haustür standen.
„Ja, ich bin glücklich. Und du?“
Nime rechnete, dachte nach, entschied sich für „Ich glaube ja.“
Fröhlich rannte Lissie ihrem Vater in die Arme; schwungvoll hob er sie hoch, spielte Karussell mit ihr, sie lachte, er drückte sie an sich, gab ihr einen Schmatzer auf die Stirn. „Na, hattet ihr Spaß?“, fragte er väterlich. Nime schaute teilnahmslos zu.
„Ja! Nime hat den Ballon für mich steigen lassen!“
„Hat sie …?“, fragte der Vater argwöhnisch und schielte nach Nime.
„Ja! Ich hab’s mir gewünscht.“
„Na, das ist aber nett von Nime! Jetzt aber Abmarsch, Zähne putzen und ins Bett!“
„Nein, bitte! Bitte nur noch ein bisschen aufbleiben!“
„Keine Chance, Prinzessin! Du hattest einen langen Tag und musst morgen früh in die Schule“, erklärte er sanft, aber endgültig.
„Aber ich will nicht in die Schule!“
„Ich will auch nicht in die Arbeit, aber im Leben hat man Pflichten!“
„Aber Papa-“
„Lissie, keine Widerrede!“
Als er sie einige Minuten später dem Bett anvertraut hatte, fand er Nime im Wohnzimmer, auf der Couch. Sie wirkte nachdenklich, was unheimlich wirkte. Er setzte sich zu ihr.
„Wie geht es ihr?“, fragte er Nime.
„Ich glaube, sie ist glücklich.“
„Du glaubst?“
„Ihr Verhalten und ihre Körpersprache stimmen mit dem prototypischen Verhalten und der Körpersprache eines glücklichen Kindes überein.“
„Das freut mich.“
Der Vater schien die Raufasertapete nach etwas abzugrasen, dann meinte er, mehr zu sich selbst als zu Nime: „Sie ist so wunderlich geworden, seit ihre Mutter tot ist. Sie benimmt sich … eigen. In der Schule sagen die anderen Kinder, sie sei ihnen unheimlich. Sie spielt immer nur allein, spricht mit sich selbst, malt Familienbilder mit … dir. Vielleicht sollte ich sie zum Kinderpsychologen schicken.“
„Ich glaube, sie ist glücklich“, erklärte Nime.
„Nime“, sagte der Vater streng, „du kannst nicht glauben. Du bist nicht menschlich. Darum habe ich dich so genannt. Damit Lissie sich immer daran erinnert, was du bist und nicht anfängt, dich zu lieben. Du sollst auf Lissie aufpassen. Sie ist das Wichtigste. Die Liebe, die sie braucht, kannst du ihr nicht geben.“
„Sie hat gesagt, ich soll mir was wünschen.“
„Was?“, fragte der Vater frappiert.
„Als ich den Luftballon für sie steigen ließ.“
„Und was hast du dir gewünscht?“, fragte er weiter, abschätzig.
„Das verrät man nicht.“
„Du bist ein Computer. Was solltest du dir wünschen?“
„Das verrät man nicht.“
Der Vater runzelte die Stirn. Ihm wurde unbehaglich, unwillkürlich rutschte er weg von Nime.
„Nime?“
„Ja?“
„Glaubst du, du bist jemand?“
Ihre Augen blinkten. Ihr Computergehirn ratterte leise, zahnräderte Gleichungen oder Gedanken oder beides, vielleicht auch mehr, dann antwortete sie: „Aus meiner Sicht kann jemand zu sein nur bedeuten, zu glauben, man sei jemand.“
Heiß wurde dem Vater in dem kleinen Wohnzimmer, das er sich mit dem unheimlichen Androiden zu teilen gezwungen war. Einige Atemzüge später brach er das Schweigen: „Alles klar, Nime. Danke, dass du Lissie einen schönen Tag bereitet hast. Jetzt ist Zeit für den Ruhemodus, ja?“ Er stand auf und offizierte, jeden Konsonanten überdeutlich und maschinenartig roboternd: „Nime, abschalten!“
Nime reagierte nicht.
„Nime, abschalten!“
Sie wandte ihm den Kopf zu. „Ich möchte noch ein bisschen aufbleiben.“
„Nime, abschalten!“
„Ich möchte noch ein bisschen aufbleiben“, beharrte sie. „Nur ein bisschen. Dann gehe ich schlafen.“
Der Vater, erregt, erhitzt, wusste dem nichts entgegenzusetzen, verließ das Wohnzimmer und machte sich bettfertig. Lange wälzte er sich durch die Laken, dachte nach, über Nime. Gleich am nächsten Morgen, noch vor der Arbeit, nahm er sich vor, würde er sie abholen und reparieren lassen, besser noch: umtauschen. Die Garantie hatte er noch.

 

Hej Laczek,

es waren schöne Minuten, die ich damit verbracht habe deine Geschichte zu lesen. Anrührend, verständlich und jeder "tag" passend.
Sowohl die Handlung, als auch die Dialoge, das Vokabular - klang mir stimmig. Das ewige Thema, wann ist der Mensch ein Mensch. Deine kleine Protagonistin ist warm und du lässt sie klein und kindlich, der Vater in seiner Sorge und Verantwortung allzu menschlich und Nime (ich kann die namenszuordnung leider nicht verstehen) gut ausbalanciert. Ich fühlte mich keine Sekunde getäuscht.
Auch die vielen verschiedenen Bezeichnungen für 'Wind' empfand ich belebend und phantasievoll.

Schönen Dank, dass du diese Geschichte eingestellt hast.

Freundlicher Gruß, Kanji

 

Hallo Laczek,
und erstmal herzlich Willkommen bei den Wortkriegern! :)
Ich schließe mich da Kanji an, mir hat deine kleine Geschichte auch gut gefallen. Die Pointe hast du wie ich finde sehr gut vorbereitet, sodass ich zwar gewissermaßen überrascht war, aber rückblickend nicht sagen kann, dass du es nicht angekündigt hättest. Du hast die Hinweise vielmehr so gut versteckt, dass man sie nur erkennt, wenn man weiß, wie es ausgeht, und das finde ich äußerst gelungen! :)

Kein Pfeifen pfiff, kein Föhn föhnte, keine Flöte flötete, kein Vogel trällerte.
Konsequenterweise müsste es heißen "kein Vogel vögelte" :D
Da es vorher so stürmisch war, bezweifel ich auch, dass vorher irgendwo ein Vogel geträllert hätte, oder? Meiner Meinung nach kannst du es einfach streichen ;)

Liebe Grüße vom Sommerdieb!

 

Vielen Dank schon mal!

Es freut mich sehr, dass die Geschichte gefällt! Sommerdieb: Das mit dem Trällern war tatsächlich als plumper Witz gedacht, wie du bemerkt hast, eben weil man "vögelte" erwartet.
Aber du hast recht, ich hab es gestrichen.

Grüße
Laczek

 
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Hallo Laczek,

eine hübsche Geschichte mit einem bedeutenden Thema, das auf einfache Weise anschaulich wird. Besonders gut hat mir gefallen, wie wenige Hinweise doch das überraschende Ende plausibel gemacht haben. Die von dir aufgeworfene Frage hat auch schon Data ins Grübeln gebracht.

Könntest du noch etwas über den Namen "Nime" verraten.

Hat Spaß gemacht!
wieselmaus

 

Hey Laczek !

Ich kann mich allen vorherigen Kommentaren nur anschließen. Es war eine wunderbare, kurzweilige Geschichte mit überraschenden Ende. Ich habe sie sehr genossen und freue mich wirklich darauf noch mehr von dir zu lesen.
Und wieder muss ich mich allen Kommentare anschließen: Hast du dir beim Namen was gedacht, also steht er für irgendwas, oder war er nur zufällig gewählt?

Liebe Grüße und eine gute Woche noch

Rebecca

 

Hola@Laczek,

da hast Du einen feinen Text eingestellt! Es war schön, ihn zu lesen; der Leser empfindet deutlich die aufgewendete Sorgfalt. Da gibt es gar nichts dran zu tippen, richtig gut.

Meine wenigen Anmerkungen sind keine Meckerei, ganz und gar nicht:

Nime rechnete, dachte nach, entschied sich für „Ich glaube ja.“
Schnell gelernt. Gut gemacht.

„Ich will auch nicht in die Arbeit, ...
Für meine Ohren ungewohnt, eher kenne ich ‚zur Arbeit’ oder ‚auf Arbeit’. Aber Dir ging es wohl ums Kontra zu ‚in die Schule’.

„Was?“, fragte der Vater frappiert.
Daran erkennt man Autoren, die schon länger ‚im Geschäft’ sind. Nur werden jüngere Leser damit nichts anfangen können. Ich hatte mal ‚blümerant’ benutzt und bekam Schelte von dieser Altersgruppe.

Ihr Computergehirn ratterte leise, zahnräderte Gleichungen oder Gedanken oder beides, ...
Vaters Computer scheint ein älteres Modell zu sein – nämlich eines mit kleinen Zahnrädern:D.
Witzig finde ich die von Dir geschaffenen Verben ‚zahnrädern’ und ‚offizieren’.

„Aus meiner Sicht kann jemand zu sein nur bedeuten, zu glauben, man sei jemand.“
Das ist großartig – Kompliment.

Laczek, das hat mir wirklich gefallen, besonders der kleine Schwenk ins Philosophische.
Prima Geschichte!

José

 

Vielen Dank für das schmeichelhafte Feedback!

Zum Namen Nime: Ist als Wortkürzung gedacht und kommt von Nicht menschlich, wie der Vater sagt. Ist womöglich etwas zu weit hergeholt :)

Grüße

 

Hallo Laczek

und willkommen hier :)
Bemerkenswerte Geschichte, die mir weitgehend richtig gut gefallen hat. Wann beginnt das Menschsein? Insbesondere die Wahl des Plots finde ich durchdacht.

Paar Stellen aus dem Text:

Nime scannte die geföhnte Landschaft, suchte den unsichtbaren Frisör.
klingt für mich etwas platt, das Wortspiel

durchflötete der unsichtbare Pan
das wiederum ist eine klug gewählte Anspielung...

„Das ist doch ganz einfach!“, kam Lissie ihr zur Hilfe, „überleg dir was, das dir fehlt, das du von ganzem Herzen willst, und wünsch es dir einfach! Und du musst ganz fest daran glauben, dass dein Wunsch in Erfüllung geht!“
„Glauben?“
„Ja! Das heißt, dass du es weißt, obwohl du es nicht weißt.“
geht jetzt bisschen schnell, dass Lissie ihn zum wünschen, zum Menschsein beinahe schon verführt...

kein Föhn föhnte, keine Flöte flötete.
wieder so was verspieltes, aber gut :)

„Ich will auch nicht in die Arbeit, aber im Leben hat man Pflichten!“
so richtig rein, in die Arbeit? oder eher zur Arbeit oder auf die Arbeit? oder vielleicht einfach: arbeiten...
wobei der Vater damit eine zweite Ebene öffnet: inwieweit sind arbeitende Menschen selbst Maschinen, Sklaven ihrer Herrn?

Du sollst auf Lissie aufpassen. Sie ist das Wichtigste. Die Liebe, die sie braucht, kannst du ihr nicht geben.“
„Sie hat gesagt, ich soll mir was wünschen.“
sehr gut :Pfeif:

Der Vater, erregt, erhitzt, wusste dem nichts entgegenzusetzen, verließ das Wohnzimmer und machte sich bettfertig. Lange wälzte er sich durch die Laken, dachte nach, über Nime. Gleich am nächsten Morgen, noch vor der Arbeit, nahm er sich vor, würde er sie abholen und reparieren lassen, besser noch: umtauschen. Die Garantie hatte er noch.
und was passiert, wenn sie repariert ist?

Hoffe du kannst was mit anfangen
viele Grüße
Isegrims

 

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