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Non te tango
Reinste Zeitverschwendung. Stehe den ganzen Tag im Laden, Femora stechen in die Eingeweide, kein Arsch kommt. Verblödete Gesellschaft.
Buntes Geblinke im Fenster. Gegenüber die Konkurrenz, das Hologramm einer Klippe vorm Plakat, künstlich grinsender Schauspieler springt hinab und breitet die Flügel aus, Werbung für eine VR-Welt. Ich habe Bücherstapel ins Schaufenster gestellt, damit ich es von meinem Platz aus nicht sehen muss.
Ab und an ein Schatten im Glas. Ignoranten. Mein Plakat klebt altmodisch draußen, neuer Otchorak. Genauso hätte ich einen Haufen vor die Wand setzen können. Zu wenig bunt, zu wenig blinki-blinki.
Hängen den ganzen Tag in ihren VR-Welten rum, verkoksen sich das Brain mit chemischer Pampe. Keinen Plan von nichts. Wollen mir dann noch erzählen, was ich brauche.
Musst dies machen, musst jenes machen. Musst studieren, arbeiten, heiraten, sterben. Studium hingeschmissen, alles sinnlos, da fragt später keiner nach dem Kram. Irgendein Schwachsinn, den sich jemand ausgedacht hat. Lieber was Vernünftiges lernen, eine Ausbildung anfangen. Doch der Chef eine Trantüte. Spielt auf der Arbeit mit dem Terminal herum und behauptet, ich würde zu viel im Netz hängen. Ich??? Ich hab das System durchschaut. Ich bin nicht von dir abhängig, alter Mann, Tschüss. Ich lass mich von keinem abhängig machen. Das Netz, die Unterhaltung, lenkt uns nur ab. Wir sollen arbeiten, arbeiten, arbeiten für ein bisschen Unterhaltung. Nicht mit mir.
Doch was soll man machen? Muss auch fressen und schlafen. Mach also nur das Nötigste. Können mich alle mal.
Ein Gehstock bleibt vor der altmodischen Tür stehen, sehe ihn im Fenster, wie er sich umguckt. Handbewegung vor der Tür. Musste dich schon selbst anstrengen, Alter.
Kommt herein. Straßenlärm fällt durch die offene Tür, das ufogleiche Sirren der Hover-Cars. Hätten geräuschlos sein können, aber nein, die Leute kleben den ganzen Tag mit ihren Augen auf virtuellen Bildschirmen und können die Fahrzeuge nicht sehen. Müssen deshalb schrill und nervig piepen wie Tinnitus, dass sie durch Kopfhörer dringen. Nicht auszublenden.
Der Gehstock schaut sich um. »Sind das analoge Bücher?«, wundert er sich. »Liest die heutzutage noch jemand?« Drückt einen Knopf am Gehstock, Kamera schiebt sich heraus, begafft die Ware für ein unbekanntes Publikum.
»Das ist kein Museum.«
Reiße Stock aus der Hand, fummle herum, ein Knopf stoppt die Aufnahme. Der Alte hebt zur Beschwerde an.
»Nichts da. Kauf was oder zieh Leine.«
Öffne die Tür, zeige mit dem Gehstock zum Straßenlärm. Der Alte humpelt an mir vorbei - ach geht ja doch ohne. Nimmt den Stock, knurrt mich an, verschwindet nach draußen. Hat lang genug gedauert.
Endlich Ruhe. Däumchendrehen. Ich will was Nützliches machen, fange an umzusortieren, doch alles steht gut genug, erfüllt seinen Zweck, kein Bock, lohnt den Aufwand nicht.
Plötzlich steht sie da im Laden, hab sie nicht reinkommen sehen in ihrem Rollstuhl. Oder hören. Nur zwei Sekunden umgedreht. Muss durch die zufallende Tür reingeschlüpft sein. Wie auch immer.
Trainierter Oberkörper (bleibt ihr ja nichts anderes übrig), aber die Beine nur Striche, nur Streichhölzer, über denen Haut und Stoff hängen. Jämmerlich. So faul möchte ich auch mal sein. Den ganzen Tag dumm herumsitzen. Anderen Leuten auf die Nerven gehen. Niemand sagt was gegen Restricte.
»Habt ihr das von Otchorak?« Spricht in gallic-red, der neuste Schrei. Sieht aus, als wären die Lippen von feinsten Schuppen bedeckt, die reflektierend funkeln.
Sonnenbrille, glänzende Insektenaugen, die verbergen, dass sie einen anschauen. Doch ich spüre es. Meint mich. Wen auch sonst, keiner da.
»Was?« Die Überraschung fuckt mein Hirn down.
»Otchorak. Draußen auf dem Plakat.«
Meine Hand denkt mit, wenigstens eine. Hebt sich zur Treppe. »Unter O wie oben.« Ich gluckse.
»Gibt es das als v-book?«
»Von diesem neumodischen Kram halte ich nichts. Das lenkt nur ab.«
Sie hebt die Hände, prüft ihr Gepäck. Platz für ein Buch wird sie doch haben.
»Dann als Taschenbuch.«
Kann sie haben. Kann mir AR-Cover eh nicht leisten. Ich bin mal ganz der Influencer und hole ihr eins.
»Hast du's gelesen?«, will sie wissen.
»Klar, sollte Pflicht in der Schule sein. Da steht alles drin, die ganze Wahrheit über unsere Gesellschaft. Wenn man das gelesen hat, weiß man Bescheid, wie der Kyberhase läuft.«
Sie zeigt sich unbeeindruckt. »Kann ich ein Transport-Pad bekommen?«
»Von diesem neumodischen Kram ...«
»Dann eine Tüte, bitte.«
Vor die Tür, einmal Pause vom Nichtstun. Überraschend anstrengend. Frischer Duft weht vom säulenförmigen Luftfilter an der Kreuzung rüber. Symptombekämpfung, anstatt allen Elektroschrott abzuschalten, tut so, als hätte man die Verschmutzung im Griff.
Schachtel schnappt auf, teurer Labortabak in kleinen Mengen herangezogen. Heute raucht man synthetisches Nikotin aus Sprays - nicht ich. Ziehe an der Zigarette. Muss Husten. Scheiß Feinstaub.
Der Kaffeebecher sitzt vor der Tür. Nein, nicht Coffee Cup, CoCu muss man sagen, mit allerlei Schnickschnack, hält ein Leben lang, Hauptsache bio. Das Display zeigt die enthaltenen CryptoCoins.
Frei von den Zwängen der Gesellschaft, unabhängig, Aussteiger, bewundernswert. Schaut zu Vorbeigehenden mit mitleidigem Blick auf, hebt den Becher. Was soll das Theater, alter Mann, wenigstens bist du gesund.
Ich werfe ihm eine Handvoll Münzen zu. Die zum Anfassen.
»Die kann ich nicht annehmen«, beschwert er sich. »Ich nehm nur digital.« Holt eine Münze heraus, dreht das Metall zwischen den Fingern, das nicht mehr wert ist, als das Material, aus dem es besteht, doch genau genommen mehr als die Bits in seinem Becher. »Die krieg ich nicht mal mehr umgetauscht.« Er grinst. »Bist wohl etwas zurückgeblieben, hm?«
»Steck sie gut weg. Das kommt alles wieder«, behaupte ich fest. »Spätestens wenn der Strom ausfällt.«
»Wenn der ausfällt«, er wirft mir das Geklimpere vor die Füße, »kann ich das auch nicht gebrauchen.«
Kurz überlegen. Grinse hinterhältig. »Sag Bescheid, wenn die Insektenaugen vorbeikommen, dann geb ich dir meinen Tagesverdienst.«
Der Kaffeebecher grinst. Er ahnt nicht, was für ein schlechtes Geschäft er macht.
Straßenlärm quillt herein. »Bescheid«, ruft der Kaffeebecher.
Ganz abgelenkt vom Grummeln im Bauch. Braunes Gewitter kündigt sich gegen Abend an. Denk ich an die Miete, ist der Tag gelaufen.
Da steht sie wieder im Rollstuhl wie hingezaubert. Nichts Besseres zu tun, als wie im Museum Bücher zu beglotzen.
»Hast du's gelesen?«, will ich wissen.
»Nicht erwartet, was?« Die Hand zeigt grob zur Elektronik, die sie chauffiert.
»Und?«
Hand lässt sich nieder wie ein Vogel im Schoß. »Ich finde, der Autor sucht die Schuld zu sehr bei anderen, anstatt sein Leben selbst in die Hand zu nehmen.«
»Das System steckt Grenzen, das ist Fakt. Ich bin keine Marionette.«
»Die Grenzen sind in unseren Köpfen, nicht im System.«
Die Augen weichen der Diskussion zur Decke aus. »Das sollst du denken.«
»Wann bist du das letzte Mal vor die Tür gekommen?«
Ich glaub ihr kein Wort. Vor der Tür, ein Wisch auf dem Pay-Display. Der Kaffeebecher frisst seinen CoCu mit den Augen.
»Was ist das denn? Ist dir das Komma verrutscht?«
»Der Tagesverdienst. Wie versprochen.«
»Du würdest vor dem Laden mehr verdienen.« Was jammert der. Er braucht's doch eh nicht.
Insektenauge zieht die Sonnenbrille zum Fragezeichen herunter. Goldbesprenkelte Saphire leuchten.
»Insider.« Die Saphire verschwinden.
Ich biete an, sie zu schieben, doch sie betätigt wie selbstverständlich die Steuerung. Eine Schramme lugt unter dem Ärmel hervor.
»Was isn da passiert?«
»Ich war letzte Woche beim Klippenspringen.«
»Muss schwer sein, nur zugucken zu dürfen, wenn andere Spaß haben.«
Sie erwidert nichts. Schweigend begeben wir uns Richtung Park. Die Bäume am Zaun ein Vorhang, die Vorstellung ist für den Moment gelaufen.
Da stehen wir auf dem Hügel, schauen den Sonnenuntergang an. Ja, verzieh dich nur.
»'N Vogel müsste man sein«, sage ich.
Sie richtet sich auf. Denke, sie will was sagen. Hand wandert entschlossen zur Steuerkonsole, schiebt einen Hebel nach vorne.
Aus dem Rollstuhl klappen sich Flügel und Antriebe aus. Feuer spuckt. Der Rollstuhl beschleunigt, hebt ab und fliegt in den Sonnenuntergang.