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Nur berührt
„Er hat mich berührt“, sagte die Frau tonlos.
Sie hatte beide Fenster des Autos geöffnet und lehnte seitlich an der Tür, so dass ihr Gesicht im Fahrtwind lag. Die Nacht war klar und über den Hügeln auf beiden Seiten des Tals flimmerten Sterne. Die Scheinwerfer beleuchteten nur einen kurzen Abschnitt der Straße, und über dem grellen Lichtkegel waren weit vorne schwach die Umrisse eines Kirchturms erkennbar. Regungslos starrte die Frau hinaus auf die vorbeiziehenden Felder.
„Was hast du gesagt?“, fragte der Mann neben ihr.
„Er hat mich berührt, am Arm.“
Der Mann gab keine Antwort.
„Mit der Hand.“
„Hör auf“, sagte er.
Die Frau lehnte ihren Kopf nach hinten und schloss die Augen. Sie hatte ihre Schultern eingezogen und hielt die Hände eng am Körper, als ob sie sich so klein machen wollte wie nur möglich, und ihre langen Haare wirbelten im Wind.
„Wie ein Kind“, murmelte sie.
Der Mann zog an seiner Zigarette.
„Wenn er mich nur nicht berührt hätte.“ Sie presste die Augen zusammen und ihre Lippen zitterten. „Er wollte mir sagen, dass …“
„Hör endlich auf“, unterbrach sie der Mann und sein Ton war jetzt schärfer. Er steckte die Zigarette zwischen seine Lippen, damit seine rechte Hand frei wurde, griff hinüber und legte seine Finger auf den Oberarm der Frau.
„Siehst du?“, sagte er.
„Was?“
„Nur eine Berührung.“ Die Zigarette in seinem Mund wippte auf und ab.
Sie schüttelte den Kopf. „Das ist nicht dasselbe.“
„Doch, genau dasselbe.“ Der Mann zog seine Hand zurück. „Denk einfach nicht daran.“
Die Frau schwieg und starrte weiter aus dem offenen Fenster. Vor ihnen erschienen Bauernhöfe und die ersten Häuser des Dorfes, und über den steilen Giebeldächern ragte der Kirchturm. Der Mann nahm den Fuß vom Gaspedal und ließ das Auto ausrollen, bis die Geschwindigkeit auf fünfzig Stundenkilometer gesunken war.
„Kannst du das?“, fragte sie nach einer Weile. „Einfach nicht daran denken?“
Er nickte.
„Also denken wir einfach nicht mehr daran?“
„Genau.“
„Und dann ist es, als ob nichts gewesen wäre?“
„Ja.“
„Denkst du nicht, wir sollten es melden?“
„Es war nicht unsere Schuld.“
„Wir sagen also nichts?“
Der Mann gab keine Antwort.
„Wir sagen also nichts?“, wiederholte sie lauter.
Er warf die Zigarette aus dem offenen Fenster. „Sag’s, wenn du willst.“
Die Frau atmete tief ein.
Hoch über der Straße hingen jetzt Lampen und warfen lange Schatten in die Gärten zwischen den Häusern. Die Straße war leer und sie fuhren an der vertrauten, fensterlosen Fassade des Betongebäudes vorbei, wo sie früher beide zur Schule gingen.
„So werden wir nie mehr sein“, sagte sie und blickte auf den dunklen Pausenhof.
„Was?“
„Ich sagte, so werden wir nie mehr sein.“
„Was meinst du?“
„So frei.“
„Wir sind frei.“
„Nein.“
„Wir können tun, was wir wollen.“
„Nein. Im Kopf nicht mehr. Im Kopf werden wir nie mehr so sein.“
Der Mann verzog das Gesicht. „Es ist ja gar nichts passiert“, sagte er verärgert.
„Und wenn ihm doch etwas passiert ist?“
„Er ist sicher bereits zu Hause. Er war nur verwirrt, vom Schock.“
„Wir haben ihn am Boden liegen gelassen.“
Der Mann antwortete nicht.
„Und wenn sie es herausfinden?“
„Werden sie nicht.“
„Und die Stoßstange?“
„Kannst du endlich aufhören?“
„Was ist mit der Stoßstange?“
Der Mann bremste unsanft und bog nach links auf eine Seitenstraße, die zwischen zwei Häusern steil hinauf führte.
„Jan wird sie reparieren“, sagte er.
Sie folgten der engen Straße den Hang hinauf und hielten auf dem Kiesplatz vor einer Reihenwohnung. An der Hauswand ging eine Lampe an, und das Licht fiel auf die sorgfältig geschnittenen Büsche vor dem Haus und spiegelte auf der Motorhaube. Der Mann schloss beide Seitenfester, zog die Handbremse und schaltete den Motor aus. Die Frau saß noch immer zur Seite gelehnt und blickte regungslos aus dem Fenster.
„Was ist?“, fragte er.
Sie antwortete nicht.
„Steigen wir aus?“
Die Frau hob den Kopf und blickte ihn an. Eine Träne rann über ihre Wange. „Ich konnte ihn doch nicht sehen.“
„Nein“, sagte er.
„Es war so dunkel.“
„Es war dunkel und du konntest ihn nicht sehen. Er war selbst schuld.“
„Ich hätte unmöglich bremsen können.“
„Niemand hätte noch bremsen können.“
„Und was ist, wenn er …?“ Ihre Stimme zitterte. „Was dann?“
Der Mann nahm ihre Hand und lächelte. „Es ist doch gar nichts passiert.“
Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Wange.
„Nichts ist passiert“, sagte der Mann nochmals und öffnete die Tür. „Steig jetzt aus.“