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Orte - Frühsommer im Ort
Die Wörter waren: Frühsommer, nachdenklich, Fallschirmspringen, Stahlschraube, Feuerwerk
Unser Ort – eine fürwahr schmeichelnde Umschreibung – feiert jedes Jahr im Frühsommer ein besonderes Fest.
Für dieses Ereignis, unser Frühsommerfest, gräbt eine jede der ansässigen Familien stets den Schmuck des Vorjahres aus, kombiniert ihn mit neuerem Kram und bringt damit die eigenen Mauern auf Vordermann.
Es ist sicherlich wahr, die wenigen Häuser hier, sie bieten nicht vielfältige Möglichkeiten, sich schmücken und herrichten zu lassen. Es sind simple Gebäude, eckig und plump. Und die Große Hauptstraße trennt diese Gebilde doch noch zu weit voneinander, als dass es möglich wäre, über ihr bunte Girlanden und ineinander verschlungenes Tannengrün zu spannen.
An den Häusern selbst jedoch gibt man sich nicht wenig Mühe und so entsteht, wenn sich alle Familien am Vorabend des Festes in trauter Einigkeit vor ihren Werken versammeln, ein Bild von vielen bunten und sanft beleuchteten Oasen, welche, von den grauen und staubigen Bändern der der wenigen Straßen getrennt, für sich allein in ihrer Pracht erstrahlen.
Wir Kinder kosten diesen Vorabend stets in vollen Zügen aus. In Trauben rennen wir von einer dieser Lichtinseln zur nächsten, werten die eine bunte Zugabe hoch, belächeln die nächste und sind dabei doch stets fasziniert von der Schönheit dieser Nacht. Was da an Kerzen, an Lampions, Lampen und Lämpchen, an bunten Papierchen, Mustern und Malereien, an würzigen Blumenarrangements und süßen Duften um uns herum auflebt! Was sich diese Leute – unsere staubigen Nachbarn, unsere alltäglichen Mitmenschen - für diese Feier einfallen lassen! Ja, es ist wahr, das Jahr über verfallen zumeist alle von ihnen ihrer stumpfen Eintönigkeit, durchleben Ernte, Winter und Frühling – scheinbar jedoch nur, um in dieser knappen Woche dem nächsten Jahr wiederholt seinen Sinn zu geben. Und sie tun es auf eine Weise, dass – ich bin sicher - ein jedes der hier aufwachsenden Kind nie wieder einen derartigen Sinnesrausch erleben wird. Den meisten ist dieser Vorabend sicher wertvoller in der Erinnerung, als das eigentliche Fest.
Bei mir ist es so.
Vor allen anderen Tagen ist es dieser eine seltsame, so viele Jahre ist es nun her. Immer steht er mir deutlich vor Augen, als wäre es gerade gestern geschehen:
Florin tanzt dort vor mir, umringt von all den Kindern unseres Ortes.
Nur kurz trifft mein Blick den ihren, dann wende ich mich eilig den anderen neben mir zu; den Kindern im äußeren Ring, denn nicht ganz trifft Florins bezauberndes Licht unsere Reihen hier und so kann ich mich wieder einmal verbergen.
Wir alle haben uns vor dem Zaun versammelt, welcher den Garten des alten Grünsteudel von dem Zweiten Nebenweg abgrenzt. Wir sind hier, um zu bewerten. Aber – wie wohl auch die vielen Jahre zuvor – hat der alte Mann sein Haus ungeschmückt gelassen. Ausgelassen tanzen wir vor der Pforte, rufen - wie, um uns Gerechtigkeit widerfahren zu lassen - unsere Spottlieder hinaus:
Alter Mann, nichts ist dran
Graue Maus, komm heraus
Tanze schön, lass dich sehn’
Weil wir denn sonst weitergehn’
Nimmer sehn’
Dich nimmer sehn’!
Nimmer sehn’
Ja, nimmer sehn’
So oder doch ähnlich klingen unsere Lieder über den Jägerzaun des alten Grünsteudel - und wie anmutig klingt der klare Sopran, in dem Florin den Chor führt! Hell leuchtet ihr lachendes Gesicht, das Rosa ihrer Wangen, das tiefe Grün ihrer Augen und wie leicht bewegt sie ihre Arme im Abendwind, leitet den Chor der fröhlichen Kinderstimmen, der für diesen Abend die Befehlsgewalt der Erwachsenen um uns herum für absurd erklärt und uns das Recht gibt, über ihre Art, ihr Leben zu führen, richten zu dürfen.
Grünsteudel verbirgt sich in seinem grauen Heim und lässt uns das Ritual, erträgt den Spott, schaut nicht einmal hinter seinen dunklen Vorhängen hervor und so gehen dann selbst Florin irgendwann die Strophen aus und wir ziehen wieder los, zurück auf die Große Hauptstraße und weiter, der nächsten Lichtoase entgegen.
Ich renne hinter der Meute her und werfe dabei einen schnellen Blick hinunter zum Hause meiner Eltern. Voll besetzt sind die Bänke in unserem Garten und Vater stemmt in diesem Moment lachend ein frisches Bierfass in die Höhe während meine Mutter bereits den Hammer schwingt, um den alten Zapfhahn in das Holz zu treiben. Ich muss lachen und spüre mein Herz aufgehen für diese beiden Menschen. Wie sehr ich sie liebe! Wie sehr unser Leben, das wir hier führen!
„Leander! He, Leander!“, ruft mich eine Stimme und gerade noch rechtzeitig wende ich mich in diese Richtung, um den Ball zu fangen, der, von Devins starken Armen geworfen, mich hart trifft. „Vorsichtig, junger Deschain!“, rufe ich lachend zurück und werfe den Ball weiter zu Jotan, der sich, kaum, dass er den Ball gefangen hat, mit Jonte darum balgt. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Jonte gewinnen wird.
„Aufmerken, Jungs!“
Es sind nicht mit immenser Lautstärke gesprochene Worte, doch kann ich sie sehr wohl hören. Florin steht an der Gabelung, an welcher ein Weg von der Hauptstraße abweicht und in den Wald führt. Es ist die Mitte unseres Ortes, und ja, diese Bezeichnung – wie schon gesagt – sie schmeichelt den doch recht wenigen Häusern.
Mein Blick verfängt sich mit einem Schlag in Florins Erscheinung. Schon lange war mir, als würden alle Kinder ihr zumeist einen knappen Meter einräumen, in den nur Auserwählte treten dürfen. Einen Achtungsmeter, eine Bannmeile, welche normale Kinder von den besonderen unterscheidet. Eben noch, als sie den Chor vor dem Haus des alten Grünsteudel geführt hatte, da war dieser besondere Bereich verschwunden gewesen, von ihr weggezaubert und alle hatten sie umringt, schon beinahe belagert, doch nun ist er wieder zurück.
Und das deutlicher als zuvor.
Sie steht unter einer Laterne, die von einem Apfelbaum im Garten der Deans herabhängt. Diese Familie besitzt ein Haus direkt an der Gabelung und sie alle protzen Jahr für Jahr mit ihren bunten Lampions, welche aus recht teurem Stoff aus fernen Gegenden hergestellt sein sollen, wie Frau Dean nie vergisst zu erwähnen, wenn sie mit den anderen Frauen zusammensitzt. Allein aus diesem Grund wird ihr geschmücktes Heim von uns jedes Jahr gemieden, denn mit dieser unnötigen Angeberei können wir Kinder ärmerer Eltern nur wenig anfangen und wir strafen sie mit wiederkehrender Missachtung – auch wenn ich zugeben muss, dass es einzigartig fremde Bilder und Muster sind, die dort von den Kerzen im Inneren der leuchtenden Papierkugeln zu tanzendem Leben erweckt werden und auch habe ich allein sie im Geheimen schon mehr als einmal bestaunt.
„Dort links seht ihr den dunklen Wald.“
Florins Stimme schwingt sich über das leise Flüstern der Kindermenge, welche sich außerhalb ihrer Bannmeile versammelt hat und betäubt es. Ihr ausgestreckter Arm weist den Langen Weg hinab. Das Haus der Deans ist das letzte Gebäude in dieser Strasse und ihr Garten reicht noch ein gutes Stück den Weg hinab. Auf der anderen Seite erstreckt sich die weite Westwiese, auf der die Bauern in diesen warmen Monaten ihr Vieh halten. Beide Seiten des Weges verlieren sich in der Dunkelheit.
Florin hingegen steht in dem warmen Kreis aus Licht, dessen schattige Grenzen von den fremdartigen Mustern der Dean-Lampions geworfen werden. Hell scheint ihre Haut, ihr braunes Haar umrahmt mit seinen Locken anmutig ihr Gesicht und die eine, die sie an der Nase kitzelt, treibt sie mit einer schnellen Bewegung hinter ihr rechtes Ohr zurück. Es ist eine zauberhaft ungeduldige Geste und ich bemerke, wie Jonte mit einem entrückten Ausdruck auf seinem Gesicht den erkämpften Ball neben mir zu Boden fallen lässt.
„Links der Wald“, wiederholt sie und die Schar der Kinder erschaudert. Der Wald ist verboten, vor allem in der Nacht. Das wissen alle. Es gibt Sagen über die Wesen, die in diesem Wald hausen und in der Dunkelheit auf Jagd gehen. Die Alten erzählen sie uns, wenn wir abends zusammen sitzen. Wir Jungen lachen darüber, wenn wir unter uns sind und ein jeder spricht großspurig davon, alleine hinein zu gehen, um all diesem Unsinn zu widerstehen. Doch war sicher noch niemand von uns in diesem Wald gewesen, nachdem die Sonne hinter den mächtigen Bäumen untergegangen war - vielmehr waren mit Sicherheit wir alle bereits mehr als einmal verschreckt auf unserem Lager erwacht, während die Reste eines dunklen Traumes sich unter das schattige Blätterdach zurückzogen.
Florin lacht. „Ja, der dunkle Wald“, sagt sie. „Andererseits“, und sie zeigt mit dem anderen Arm die Hauptstraße hinauf, „andererseits wartet dort und überhaupt hier überall das bunte Treiben des Ortes.“ Wir Kinder senden einen Laut der Erleichterung und Freude in Florins Richtung. „Ja, der Ort“, wiederholt sie. „Der Hauptplatz und das Feuerwerk um Mittnacht.“
„Das Feuerwerk“, klingen unsere Stimmen gemeinsam durch die Nacht. Ein jeder von uns spürt die angenehme Woge freudiger Erregung, die bei diesen Worten durch die Menge geht.
Das Feuerwerk findet stets am Vorabend unseres Frühsommerfestes statt. Die größeren Kinder hatten seit jeher den kleineren, die es zum ersten Mal bewusst erleben würden, davon erzählt, immer begeistert geschwärmt, sodass diese schon Tage zuvor nicht mehr richtig schlafen konnten. Es ist eines der wenigen Besonderheiten unseres Ortes. Der Feuerwerker und sein Lehrjunge werden von den Bewohnern des Dorfes ernährt und man ehrt sie wohl und weiß ihr Können und ihre Geheimnisse zu schätzen. Oft kommen sogar Leute aus fremden Orten, um es zu sehen – und sie lassen Geld bei uns, wie wir von den Alten hören. Es ist eine wunderbare Pracht, eine Gabe, die dieses alte Geheimnis unseres Ortes uns so beschert. Der Gang von Haus zu Haus, den wir Kinder jedes Jahr unternehmen, um die Schönheit der beschmückten Gebäude unter uns zu bewerten, dieser Weg, um wahr zu sein, ist nicht mehr als das Totschlagen der Zeit, die zwischen uns und diesen prallen, blitzenden und donnernden Bildern am dunklen Nachthimmel steht.
„Ja, das Feuerwerk“, klingt Florins Stimme kräftig durch das Raunen. Eine Weile lässt sie ihren Blick durch die Runde schweifen und bevor ich von ihr lassen kann, hat sie mich mit ihm gefangen.
„Wer geht mit mir in den Wald?“
Erschrocken weicht die Menge zurück, eine Herde Schafe, in der ein Wolf den trügerischen Pelz mit diesen Worten abgeworfen hat. Es erscheint fast, als leuchtete der Dean-Lampion in diesem Moment heller, als werfe er schärfere Schatten und als wären diese fremdartiger als zuvor.
„Nun, wer?“, und ihre Frage schneidet beinahe schmerzhaft durch unsere Gruppe von Kindern und alle weichen noch einen Schritt weiter zurück.
Nur ich nicht.
Wahrscheinlich habe ich auf ihre Worte in diesem einen Moment überhaupt nicht richtig geachtet. Ihr Blick hält mich gefangen und ich sehe mich alleine neben dem Ball stehen, den Jonte neben mir hat fallen lassen. Auch er ist zurückgetreten.
„Du also“, sagt sie und sieht mich nachdenklich an.
„Er heißt Leander“, höre ich Devin kurz darauf hinter mir sagen. Die Arme, mit denen er erst den Ball zu mir geworfen hat, sie sind stark, aber zu mehr als zu diesem Verrat sieht er sich nicht imstande.
Florin reagiert nicht auf ihn. Sie streckt nur ihre Hand aus. „Gehen wir.“ Ich nehme ihre Hand und wir gehen.
Die ersten Meter sind ein schwerer Gang.
Als wir den letzten Lampion im Garten der Deans passieren, merke ich, wie Florin an mir zerrt, damit ich mit ihr Schritt halte. Ich will meinen Gang beschleunigen, strauchle jedoch und Florin bewahrt mich nur mühsam davor, gänzlich hinzufallen.
„Herrgott, Leander, schläfst du eigentlich?“, schnaubt sie und hilft mir, mich wieder aufzurichten. Ich werfe einen kurzen, hoffentlich unbemerkten Blick über die Schulter während ich irgend etwas zur Antwort murmle.
Wir haben die schützende Glocke aus Licht, die über den Häusern des Ortes schwebt, verlassen. Die Kinderschar, zu welcher ich eben noch gehörte, steht an ihrem Rand und sie alle sehen uns hinterher. Einige von ihnen kann ich noch an ihrer Haltung erkennen; Jonte hat den Ball aufgehoben und hält ihn vor sich fest in den Händen. Neben ihm sehe ich Devin und Jotan – viel Zeit haben wir im täglichen Geschehen unseres ruhigen Ortes zusammen verbracht.
Mein Blick wandert weiter, fällt auf den hohen Rauchfang unseres Hauses. Dort, wo Vater und Mutter im Garten die Gäste bewirten und sich amüsieren. Werde ich sie wiedersehen? Sollte ich nicht besser umkehren?. Damit fortfahren, die Hauptstrasse und ihre Nebenwege entlang zu springen, den Ball hin und wieder zurück zu werfen, die bunten Lichter, das Feuerwerk und die Gemeinschaft in mich aufzunehmen, um morgen in wohliger Vorfreude auf das Fest im Hause meiner Eltern zu erwachen.
Doch ich wende mich dem dunklen Waldrand zu, umfasse Florins Hand fester und gehe mit ihr.
Florin geht mit forschen Schritten voran, Leanders Hand fest umschlossen.
Sie hatte gezittert, als sie in dem Licht des Lampions an der Gabelung gestanden und die entscheidende Frage gestellt hatte. Hatte gewusst, dass sie das, was von ihr verlangt wurde, nicht allein zu erreichen hoffen durfte und so einen Beistand auserkoren.
Innig hatte sie das Leiten des Chors vor des alten Grünsteudels Haus genossen. Hatte sich in dem kindlich unschuldigen Gespött verloren, verzweifelt nach immer neuen Strophen gesucht und das Hinabtauchen in diese wundervoll einfache Gefühlswelt körperlich empfunden.
Doch natürlich war es vergangen. Und schon das ganze vergangene Jahr hindurch war es für sie immer schwieriger geworden, die Welt durch die Augen eines Kindes zu sehen.
Jetzt, da der Abend, da die Stunde, welche ihr genannt worden war, gekommen ist und sie an der Seite Leanders auf den Waldrand zugeht, fühlt sie sich in eine andere, eine neue Welt hinabgedrückt. Es kommt ihr vor, als wäre sämtliches Vermögen, zu fühlen, von ihr abgefallen, als wäre ihr Bewusstsein auf rationale Entscheidungen reduziert worden.
Nein, sagt Florin sich im nächsten Moment. Das war falsch. Nicht lediglich rational. Sie fühlt Ärger über Leanders langsame und umständliche Art. Was sie dazu bringt, ihn mit giftigen Worten zu bedenken: „Herrgott, Leander, schläfst du eigentlich?“ Dieser Ärger birgt Energie und sie zerrt den Jungen hoch, bemerkt, wie er sich im Aufrichten umdreht und einen Blick zurück wirft. Will etwas sagen, unterlässt es dann aber. Es mag gut sein, ihm diesen letzen Eindruck zu belassen. So kann er abschließen – oder sich entscheiden, den Weg nicht weiter zu gehen. Besser hier als hinter den ersten Reihen der Bäume, auf die sie zugehen und sie kann die Spannung in ihm fühlen: Zwei Wege, von denen er nur einen wählen kann.
Er zögert nur kurz, dann fasst er ihre Hand fester und wirft keinen weiteren Blick zurück.
Der Waldrand steht dort vor uns in der Nacht. Die Lichter des Ortes reichen nicht mehr bis hierher und ich fröstle bei dem Anblick dieser Schwärze in der Dunkelheit.
Ich weiß, schon bei Tag sieht er unheimlich aus. Dicke, knorrige Äste reichen bis tief auf den Boden, bedecken das viele Unterholz, das lebendig grüne Gebüsch und lassen nur wenige Lücken, um in die schattige Welt dahinter zu schauen. Wir waren nie sehr weit auf den wenigen ausgetretenen Pfaden vorgedrungen. Die Angst vor einem frühzeitig einbrechenden Abend und die vielen Verzweigungen, die weiter darinnen vermehrt die Wege trennen, hatte uns immer davon abgehalten, tiefer in diese andere Welt, in diesen Ring, der unseren Ort beinahe zur Gänze umgab, einzudringen. Und auch von dem einen Weg, der von unserem Dorf weg durch den Wald zu ferneren Orten führt, auf welchem das fahrende Volk unterwegs ist, war nie jemand je weit in den Wald gewichen. Nicht einmal die Ältesten können sagen, was sich hinter diesem Wald verbirgt. Nicht einmal sie.
Und nun stehen Florin und ich an dieser Grenze. Überschreiten sie, ohne darüber ein Wort zu verlieren und finden uns wieder in dieser fremd-grünen Welt.
Es ist kühl, aber nicht kalt. Finster, aber nicht undurchdringbar. Seltsam, dass meine Augen etwas erkennen können. Es ist beinahe so, als würden die Gewächse des Waldes einen leichten Widerschein von sich geben, mein Herz klopft und ich umfasse die Hand Florins fester. Es ist so anders, gar nicht so, wie ich es mir in meinen Alpträumen vorgestellt habe.
Am Rande unseres Pfades leuchtet das Gras schwach und kalt, aber nicht unangenehm und weist uns die Windungen des Weges. Ich erkenne Pilze, die unter dem Schutz mächtiger Wurzeln und Gebüsche wachsen und ebenso schwach ihre Muster zeigen. Die Baumstämme hinauf winden sich Klettergewächse in eben diesem seltsamen Licht. Nur sehe ich keine Tiere.
Doch wäre es unwahr, zu sagen, kein Leben wäre zu sehen, denn dieser Wald, er ist am Leben. Er ist es in diesem kalten Licht, in den sich in den Boden wühlenden Wurzeln der mächtigen Stämme, in den kleineren, aber nicht weniger wilden Gewächsen, die sich zwischen den alten Bäumen durchschlagen. Nur gibt es kein lebendes Getier zu erspähen und auch in diesen Momenten, in denen meine Augen immer noch von der bezaubernden Schönheit Florins abgelenkt werden, auch jetzt finde ich keine zwei oder vier Pfoten, die sich langsam und – vielleicht von unserer Anwesenheit eingeschüchtert – vorsichtig durch dieses mächtige Holz schlagen. Es gibt nur uns auf diesem Weg, geleitet von diesem altehrwürdigen Wald.
Ich spüre weiterhin den leichten Zug, den Florin auf mich ausübt, doch ist auch sie nun vorsichtiger geworden.
Es ist ein ganz besonderer Anblick, ihren baren Füßen bei dem langsamen und vorsichtigen Vorausschreiten zuzusehen. Sie hat nie Sandalen getragen – nun, zumindest, soweit ich es bezeugen kann. Zwischen ihren Zehen drängt sich niedergetretenes Gras und erst spät bemerke ich den Lichtschein, der sich auf ihrer hellen Haut spiegelt.
Ich sehe auf.
Zwischen den mächtigen Stämmen erkenne ich ein prasselndes Feuer, frage mich, wieso ich es nicht vorher bemerkt habe und erinnere mich im nächsten Moment wieder an Florins Füße, welche mich in dem dunklen Nachtgrün des Grases in ihrem beständigen Auf und Ab gefangen haben; es selbst in ihrer bloßen Erinnerung noch tun.
Vorsichtig halte ich sie an ihrem Arm. „Florin, dort vorn ist -“
„Bleib ruhig, Leander. Nichts Böses erwartet uns dort. Nicht dort.“
Ihre Art – sie beruhigt. Und doch trifft sie meinen Stolz. Denn sollte nicht ich ihr dieses Gefühl geben? Hatte sie nicht um Beistand gebeten, dort an der Gabelung, an der sie ihre Frage gestellt? Hatte sie?
Wer geht mit mir in den Wald?
Das war ihre Frage gewesen. Es klingt nicht wirklich wie ein Flehen nach Beistand, tut es?
Nein.
Es klingt nicht so.
Es ist doch mehr eine Frage nach Begleitung auf einem schweren Weg. Und das bin ich.
Begleitung.
Und hoffentlich mehr, höre ich mein Herz bitten.
„Bleib ruhig, Leander. Nichts Böses erwartet uns dort. Nicht dort.“
Florin hatte gespürt, dass er diese warmen Worte brauchte, hatte jedoch die Zeit abgewartet, bis er den Feuerschein bemerkt hatte.
Sie weiß, wer sie dort erwartet.
Ja, sie war verwirrt von ihrer eigenen Tat gewesen. Der alte Mann hatte damals davon geredet, dass allein sie auserwählt wäre. Und gerade dieser übermächtige, dieser dunkle Gedanke hatte all die vielen schweren Nächte zur Folge gehabt. Hatte ihre trotzige Reaktion herausgefordert, in der sie eines der anderen Kinder zur Begleitung gezwungen hatte. Und nun ist Leander derjenige, der vielleicht – wie auch sie selbst – nicht mehr zurückkehren würde.
„Es ist ein Freund.“
Leander nickt und drückt ihre Hand.
Gemeinsam gehen sie auf das flackernde Feuer in der Mitte der Lichtung zu.
Der alte Mann hockt auf seinen Knien und sieht unbewegt in die Flammen. Neben ihm liegt ein Haufen kleiner und größerer Äste, das Gras um ihn herum ist niedergedrückt; sein Schatten tanzt auf dem Boden, bis hin zu den Wurzeln der ersten Bäume.
„Florin, ist das nicht -“
„Grünsteudel, ja. Wen sonst hast du erwartet?“, entgegnet sie mir und wirkt wieder ungeduldig. Zieht mich weiter vorwärts.
Zu diesem Zeitpunkt – das kann ich versichern – habe ich nicht viel mehr damit gerechnet, diesem alten Mann hier zu begegnen als vielleicht Jonte oder auch Devin. Sie jedoch scheint es als die einzig logische Abfolge der Dinge zu betrachten, Grünsteudel hier auf uns warten zu sehen.
Gut. Ich folge ihr weiter.
Anhand der sehr wenigen Begegnungen, die wir im Ort bisher hatten, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, wie alt er wirklich sein mag. Sehr alt definitiv, denn schon meine Eltern kennen ihn als alten Menschen – ich hatte sie einmal nach ihm befragt - und bereits vor ihnen hatten die Alten ihn alt genannt. So wurde es jedenfalls gesagt.
Allen Kindern ist er stets unheimlich vorgekommen. Hatte durch seine seltsame, eigenbrötlerische Art nie viele Freunde gefunden und sicher auch nie welche gesucht. Ist einfach immer da gewesen, ohne, dass irgendwer einen Grund für oder gegen ihn hatte anbringen können.
Jetzt stehe ich ihm gegenüber und seine alte, knorrige Hand weist mir einen Platz jenseits des Feuers zu. Florin gibt mir einen leichten Stoß und ich setze mich auf den mir zugewiesenen. Das Gras ist kühl. Grünsteudel stützt sich auf seine Hände und wechselt in den Schneidersitz und auch Florin lässt sich nieder. Was immer folgen mag, ich hoffe, dass dieser alte Mann das Geschehen etwas aufhellt – und mein aufgeregt schlagendes Herz etwas zur Ruhe bringt.
„Florin, du warst scheinbar nicht ganz bei meinen Worten, als ich dir von all dem erzählte“, eröffnet Grünsteudel das Gespräch.
„Nein, Michael, ich habe dich wohl gehört und es mir in einem ganzen langen Jahr zu Herzen genommen.“ Ihre Betonung ist kaum notwendig, auch ohne sie hätte ein jeder verstanden, dass sie eine schwere Zeit hinter sich hat, welche ihren Ursprung in etwas findet, das in seiner Verantwortung liegen muss. Und sie nennt ihn Michael! Wir anderen Kinder müssen sehr schlecht gesehen haben oder Florin hat sich sehr gut verstellt.
„Jedoch“, fährt sie fort, „erschien es mir sinnvoll, einen Begleiter zu haben, denn ich -„
„Denn du hast Angst.“
Florin stemmt sich auf, ihre Schultern strecken sich und in ihren funkelnden Augen spiegeln sich die Flammen des Feuers in unserer Mitte. Unvermittelt fahre ich zurück – so urplötzlich ihre Bewegung gewesen ist, so erschreckend mächtig wirkt sie in diesem Moment auf mich. Sie zittert, als könne sie sich – oder etwas in sich – nur schwer im Zaum halten.
Gleich darauf jedoch lässt sie sich bereits zurück sinken und in dem flackernden Licht sehe ich, wie sich ihre Armmuskulatur entspannt.
„Ja“, erwidert sie. „Natürlich habe ich Angst.“ Sie sah mich an. „Ich-„
„Herr Grünsteudel, ich habe sie aus freien Stücken begleitet, das alles ist -“
„Halt den Mund, Kind“, fährt er mir in die Worte. „Rede nicht von Dingen, die du nicht begreifen kannst.“
„Aber es -„
„Schweig! Florin, wenn du ihn schon mit dir nimmst, dann bring ihn wenigstens zur Ruhe!“ Mit diesen – nicht gebrüllten, aber sehr eindeutigen Worten beendet der alte Grünsteudel meine aktive Teilnahme an diesem Wortwechsel. Florin sieht mich kurz an: „Er wird schweigen.“ Sie muss nicht mehr tun, um mir den Mund zu verbieten.
Um ehrlich zu sein: In diesem Moment komme ich mir doch recht dämlich vor. Vom Esel getreten sagen wir im Ort zueinander. Einer der Ausdrücke, die – wenn es nach mir ginge - nie auf mich zutreffen sollten. Ich erinnere mich an Jonte, der, als wir den Vater Jotans in der einen Gasse sahen, in welcher kein Vater gesehen werden möchte, Jotan vorschlug, schnell der Mutter Bescheid zu geben. Wie lange war er von uns allen von dem Esel getreten worden!
Ich schweige. Will nicht getreten werden – und sei es nur von ihr und diesem alten Mann. In diesem Moment sehne ich mich zurück nach der Einfachheit unseres Ortes. Wenn überhaupt, dann bin ich dort stets einer derjenigen gewesen, die treten.
Und auch das nur widerwillig.
Zuerst war es ihr lächerlich erschienen. Der Weg durch den Wald war wirklich kurz gewesen. Es war nicht einmal ein schrecklicher, lediglich ein spannender Gang und jetzt sitzt sie hier, Leander ihr gegenüber, der alte Mann rechts davon. Leander zurechtgewiesen, sprachlos und – genau in diesem Moment spricht ihr Herz zu ihr – überflüssig.
„Er wird schweigen.“ Sie wirft Leander einen Blick zu und erkennt im selben Moment, dass sie diese Tatsache nicht einmal in Worte hätte fassen müssen.
Er sieht aus wie das, was er ist: ein Kind. Ein nicht einmal fünfzehn Jahre alter Junge, der in sie verliebt ist und versucht, dies sich selbst gegenüber zu beweisen. Und zugleich mit seinem Stolz zu kämpfen hat.
„Er hat mich lediglich auf meinem Weg durch den Wald begleitet, auch wenn ich dachte, dass es -„
„Dass es für eine längere Zeit sein könnte?“, setzt Grünsteudel den Satz fort.
„Nein, dass es nicht richtig wäre, wenn ich allein diese Aufgabe bewältigen müsste, die du mir auferlegst.“
„Aber Kind!“, ruft Michael Grünsteudel und er scheint wirklich überrascht, „habe ich nicht deutlich genug gesagt, dass es mein Wunsch wäre, dich nicht fortschicken zu müssen? Nur liegt es nicht bei mir.“ Er hält kurz inne, fährt dann aber fort: „Und du wirst nicht allein sein. Du wirst Begleiter finden.“
Florin nickt ihn ab. „Aber wird es unter all diesen ... Begleitern auch jemanden geben, dem ich so vertrauen könnte wie ihm?“
Eine sinnlose Frage. Leander ist verliebt. Und er würde ihr in diesem Moment überall hin folgen. Er ist gefüllt mit einer Macht, die ein Gesandter wie Grünsteudel nicht kennt. Eine Jugendliebe und sie beide werden später in ihrem Leben erfahren, dass es nie etwas Mächtigeres geben wird als diese Energie, welche in solchen Momenten verzweifelter Jugend erweckt wird. Es wieder und wieder erfahren - und nein, Grünsteudel wird es nicht verstehen. Denn er ist einer der Gesandten, die geschickt wurden, um diejenigen zusammenzurufen, die letztendlich eine Streitmacht bilden werden. Eine Macht, die vielleicht der Zersetzung Einhalt gebieten kann. Er hat nie Zeit für Liebe erhalten.
„Florin, du wirst Freunde finden, wenn du erst einmal den Weg hinausgefunden hast. Du musst nun einfach loslassen, die Dinge gehen lassen, die nicht helfen und nicht schützen können. Die Leute ihr Leben führen lassen. Diesen kleinen Ort vergessen.“
Florin sieht Grünsteudel lange an und nickt dann. Sie spürt, wie mit der Gewissheit Ruhe über sie kommt. Wie Wind, der sich zwischen den Bäumen legt und den Tanz der Äste und Zweige in den vielen Kronen beendet. Dies ist nicht ihr Ort, nicht die Welt, die ihr beschieden ist.
Sie weiß, dass sie leben lassen und vergessen muss.
Fühlt, dass es richtig ist.
Ich verstehe nichts von dem, was die beiden hier zu bereden haben.
Es klingt unheimlich, es klingt ... fremd.
Florin erscheint mir in diesem Moment noch seltsamer als der alte Mann. Doch kann ich fühlen, wie sich etwas in ihr geändert hat, wie etwas hervorgekommen ist. Nachdem sie Grünsteudel lange angesehen hat, sagt sie jetzt: „Das werde ich, Michael.“ Im nächsten Moment lächelt sie und dieses Lächeln lässt ihr Gesicht erstrahlen: „Ort jedoch ist wirklich geschmeichelt für die wenigen Häuser und das wirst du sicher wissen, bei all dem, was du gesehen haben musst“, sagt sie und lacht.
Der alte Mann nickt lächelnd.
„Es ist das, was ihr kennt“, sagt er und zeigt auf jeweils einen von uns. „Du Leander, wirst es weiterhin als das in deinem Herzen tragen, was es ist: deine Heimat. Der Ort im Kreise des Waldes. Doch du“, und er wendet sich wieder an Florin, „für dich muss ein Durchgang geöffnet werden und ich kann das tun. Wenn du hindurch bist, wirst du hoffentlich irgendwo etwas anderes finden, das du auf diese Art in deinem Herzen halten kannst.“
Florin sieht ihn an und nickt noch einmal. Dann wendet sie sich mir zu, hebt ihre Hände und hält sanft meine Wangen. Fährt vorsichtig über die Rundungen von Kinn und Wangenknochen und sieht mich lächelnd an. Ihr gegenüber komme ich mir in diesem Augenblick wie ein kleines Kind vor, aber es ist kein unangenehmes Gefühl. Ihr Lächeln ist schwer von zauberhaftem Bedauern.
Erfüllt von einem Verständnis, das meines bei weitem übersteigt.
„Leander, ich habe mich geirrt. Leider.“
Ich will etwas sagen, doch sie schüttelt nur den Kopf. „Ich hätte mir gewünscht, dass du mich begleiten könntest.“ Dann beugt sie sich vor und küsst mich auf den Mund.
Dieser Kuss lässt mich etwas von dem schmecken, das sie in sich trägt.
Sie ist so sehr besonders. Sie ist mehr als Devin, mehr als Jonte und ich, meine Eltern oder irgendwer sonst hier in unserem Ort. Diese Berührung erfasst mich auf eine seltene Weise, ist viel wert und wird – dieses Wissen dämmert herauf, während ich ihre Lippen warm auf meinen spüre – neben dem Ort immer einen Platz in meinem Herzen haben.
Eine kurze Zeitlosigkeit später löst sie sich von mir und steht auf, bedenkt mich mit einem letzten lieben Blick und wendet sich dann auf immer von mir ab.
„Wenn du drüben bist, pass auf dich auf“, sagt Grünsteudel. Gemeinsam entfernen sie sich langsam vom Feuer, ich kann ihre Schritte hören, habe meine Augen wieder geschlossen. Versuche das, was eben geschehen ist, irgendwie zu speichern.
Es ist mein erster richtiger Kuss gewesen.
„Und sag ihnen, dass ich hier bleibe“, fährt er fort. Seine Stimme, die Schritte werden leiser, undeutlicher. „Dass ich erfüllt habe, was mir aufgetragen wurde. Ich will nichts weiter davon wissen, egal, was letztendlich wird.“ Grünsteudels nächste Worte kann ich nicht mehr verstehen.
Das Gesagte vereint sich mit dem Gefühl und dem Geschmack von Florins Lippen, ein Bild all meiner Sinne, und ich lege es in eine Ecke meines Verstandes, die stets den Duft des verbrennenden Holzes tragen und von den tanzenden Schatten auf den Bäumen am Rande dieser Lichtung umgeben sein wird.
Ich lasse meine Augen geschlossen bis ich irgendwann die Hand des alten Mannes auf meiner Schulter spüre.
„Ich wollte ihr sagen, dass ich mitgegangen wäre.“
Grünsteudel geht neben mir. Um uns herum leuchtet das Gras nach wie vor in seinem matten silbernen Glanz. Der Wald hatte für mich viel von seinem Schrecken verloren, ich empfinde nun vielmehr ein Gefühl von Ehrfurcht, wie die Alten wohl sagen würden; mir selbst fällt nur ein schwammiger und für mich schwer greifbarer Begriff ein: heilig.
„Ich glaube, sie wollte es überhaupt nicht hören.“
„Das wollte sie tatsächlich nicht“, bestätigt er mir. „Nicht mehr.“
Florins Gesicht steht mir vor Augen, ihre Augen sprühen, ein beinahe zu lebendiges Bild und plötzlich muss ich an all die Kinder denken, die um sie herum getanzt haben - und die uns haben gehen sehen. „Was werden die anderen sagen, wenn wir ohne sie zurück kommen?“
Er winkt mit einer Hand ab. „Sie werden sich jetzt bereits kaum an sie erinnern, keiner von ihnen. Denn Florin ist nicht für diese Welt bestimmt gewesen.“
Ich denke kurz darüber nach und kann es mir doch nur schwer vorstellen.
„Wohin ist sie dann gegangen, Herr Grünsteudel?“
Er lächelt mich an: „Wenn du magst, Leander, nenne mich ruhig Michael. Das würde mich freuen.“ Ich nicke, etwas unsicher, wie ich gerne zugebe.
„Wo sie hin ist?“, fährt er fort. „Nun, Leander, welches Bild steht dir vor Augen, wenn du das Wort ‚Heimat’ hörst?“
Ich schließe meine Augen und lasse das Wort durch meinen Kopf kreisen und Gedanken auflesen.
Ich sehe die bunte Lichtoasen der geschmückten Häuser des Ortes.
Sehe die Kinderschar, die uns am Ende des Langen Weges nachgeschaut hat. Meine Eltern im Kreise ihrer Gäste vor unserem Haus stehen und lachen.
Sehe die prallen, bunten und lauten Bilder des Feuerwerks am dunklen Himmel erstrahlen, sehe sie vergehen, um wieder zu erstehen.
Noch nie habe ich so eindringlich gefühlt, wo ich hingehöre. Florin werde ich nie vergessen, aber ich spüre, dass sie für mich nicht mehr der Traum sein wird, den ich sicher haben werde, wenn mich Kommendes von Zeit zu Zeit erschrecken wird. Der mir Mut machen wird. Da werden andere Menschen kommen.
Ich lächle und wende mich zu dem alten Mann, um es ihm zu sagen, doch Grünsteudel lacht, noch bevor ich etwas sagen kann. „Siehst du - wie ich es gesagt habe. Du gehörst in diese Welt. Florin hat eine Aufgabe, muss um das kämpfen, was du für dich hier hast.“ Kurz schweigt er. „Und vielleicht“, fährt er dann fort, „wird sie dadurch ihre Antwort auf diese Frage finden. Zu dieser Antwort ist sie jedenfalls unterwegs.“
Wir gehen eine Weile schweigend den Weg entlang. Bald kann ich zwischen den Bäumen die ersten Lichter sehen.
„Ich selbst habe lange gebraucht, um die Antwort zu finden.“ Er sieht nicht mich an, sieht starr auf die hellen Häuser vor uns. „Wahrlich, lange hat es gedauert, doch jetzt – nachdem diese Aufgabe hinter mir liegt – weiß ich es. Nur eins vermisse ich. Eine Sache hätte ich furchtbar gerne noch einmal gemacht.“ Er lacht leise und legt mir die Hand auf die Schulter. „Das Fallschirmspringen. Leander, kannst du dir vorstellen, was das für ein Gefühl ist?“
Das kann ich beim besten Willen nicht, denn ich kenne dieses Wort nicht einmal. Er fängt an, es mir zu erklären und lacht, als ich ihn ungläubig ansehe. „Sie ... du bist vom Himmel auf die Erde gesprungen? An einem Tuch?“
„Ja, fürwahr. Menschen, Leander“, sagte er, wie, um das Thema abzuschließen, „Menschen suchen immer danach, Ballast abzuwerfen, suchen nach Ventilen. Ich habe es im Springen gefunden - und das hat mir auch zwei Stahlschrauben in den Knochen eingebracht. Nun, immerhin wurde mir damals klar, dass ich dann auch das hier schaffen kann.“
Damit bin ich mir sicher, dass er mich veräppeln, mich vom Esel treten lassen will. „Schrauben in den Knochen?“, frage ich und dann treten wir durch die letzte Baumreihe hindurch auf den Langen Weg.
„Vergiss es, Leander, vielleicht erzähle ich dir später einmal mehr davon – wenn du magst. Jetzt lass uns heimgehen. Bald ist Mittnacht und der Feuerwerker wird schon alles vorbereitet haben.“
Damit hat er Recht und ich schiebe diese Gedanken und seltsamen Geschichten von mir. Gleich werden wir den Ort erreicht haben und dann ist keine Stunde bis zu dem großen Feuerwerk mehr.
Noch einmal denke ich an Florin. Sie scheint nach etwas, nach einer Grenze zu suchen. Eine, die Michael Grünsteudel scheinbar bereits einmal erreicht hat und vor welcher ich wohl nie stehen werde.
Eigentlich bin ich ganz froh darüber. Meine Grenzen werden etwas einfacher sein – vielleicht fange ich einfach damit an, Jonte einmal den Ball abzunehmen.
Um diesen dann auch einmal zu halten.