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Póg mo thóin

Challenge 3. Platz
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06.10.2017
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Póg mo thóin

Ich tat so, als wäre ich der Fahrer.
Mein Vater war ja tot, also konnte ich vorne neben meiner Mutter sitzen. Wir waren auf einer kleinen Straße im County Donegal unterwegs, auf dem Weg nach Inishowen. Der Mietwagen hatte das Lenkrad auf der falschen Seite, wie alle Autos hier. Wenn Mama nicht hinschaute, bewegte ich den Rucksack, den ich mir extra auf die Knie gelegt hatte, wie ein Lenkrad hin und her, und wenn sie sehr konzentriert war – also fast immer – tat ich manchmal so, als würde ich schalten.
Aus dem Autoradio dudelte nervöse irische Musik, widerspenstige Geigen und dumpfe Trommeln, zu denen die Regentropfen im Takt gegen die Fensterscheiben schlugen. Draußen war nichts zu sehen außer buckligem Grün und ein paar Schafen oder Steinen und Zeug wie bei Herr der Ringe. Das Spannendste waren die zweisprachigen Straßenschilder mit den Ortsnamen, die man kaum aussprechen konnte, und an denen wir sowieso zu schnell vorbeifuhren, um es wenigstens zu versuchen.

Klara, eine alte Freundin von Mama, hatte uns für die Frühjahrsferien zu sich eingeladen.
Ihr gehörte ein kleines Cottage auf Inishowen. Sie war Malerin und wohnte hier von Frühjahr bis Herbst, um grüne Bilder mit Steinen zu malen.
Wir würden hier mal auf andere Gedanken kommen, hatte Klara gemeint.
Ihr Haus war eines von diesen strohgedeckten Cottages, die überall auf den Feldern herumstanden wie ein paar zusätzliche große Schafe. Es war trocken und warm und gemütlich. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass es hier viel zu denken gab.

*
Mama und Klara waren in langen Regenmänteln raus in die Pampa gegangen.
„Geh doch auch an die Luft“, hatte Mama gesagt, „runter ins Dorf. Vielleicht findest du ein paar Kumpel, mit denen du spielen kannst.“
Als ob! Meine Mutter hatte sowas von keine Ahnung. Mit zwölf funktioniert das nicht so: Auf die Straße gehen und einen Freund finden. Zum Spielen.
Ich blieb allein im Cottage, aber natürlich gab es hier kein WLAN, und mein Buch hatte ich auch zu Hause vergessen.
Einige Zeit blätterte ich in Mamas Reiseführer, dann nahm ich zwei Bücher von Klara aus dem Regal, irgendeinen Kinderkram über irische Fabelwesen und etwas über die Geschichte Irlands.
Später schnüffelte ich ein bisschen herum, ob ich vielleicht etwas Süßes entdecken könnte.
Ich begnügte mich schließlich mit einer dicken Scheibe von Klaras selbstgebackenem Brot und hockte mich damit auf den Stuhl neben dem Fenster. Ich blickte raus ins grüne Nichts und stellte mir vor, ich wäre ein Gefangener. Ein irischer Freiheitskämpfer, eingekerkert in dunklem Verlies. Sie wollten mich aushungern, aber ich würde nicht reden. Einer meiner Komplizen hatte heimlich einen Kanten Brot zu mir in den Kerker geschmuggelt, den ich vor den Wärtern versteckte. Ab und zu biss ich ein kleines Stück davon ab und stopfte den Rest zurück in den Ärmel. Ich kaute genüsslich und langsam auf dem Brot herum, bis es ganz süß schmeckte. Es war köstlich und es würde mich am Leben erhalten und wir würden siegen.

Als sie mich endlich befreit hatten, zog ich Turnschuhe und Regenjacke an und lief ins Dorf.
Vor einem kleinen Supermarkt hockten zwei Jungs auf den Gepäckträgern ihrer Fahrräder. Ungefähr so alt wie ich, Einheimische garantiert, denn genau so sitzen wir zu Hause immer vorm Edeka. Sie wirkten wirklich nicht so, als hätten sie große Lust, mit mir zu spielen. Der eine erinnerte mich an Jonas Schröder aus der 7b – exakt wie der verengte der Junge seine Augen zu schmalen Schlitzen, als er mich sah, und der andere konnte gut als Double von Sven Lehmann durchgehen. Er zischte mir eine irische Beleidigung hinterher.

Am Pier war nichts los. Tote Hose. Nur drei verwitterte Fischkutter dümpelten an der Kaimauer vor sich hin. Die anderen Boote waren vielleicht noch draußen oder schon gekentert oder niemals dagewesen.
Dunkle Wolken hingen am Himmel und berührten ganz weit hinten das Meer.

*
Einmal kicherten Klara und Mama sogar, als wären sie gar keine richtigen Frauen, sondern irgendwelche komischen Mädchen aus der Zehnten.
Ich hatte Mama lange nicht mehr so viel reden gehört wie in dieser Woche.
Aber zwischen uns war ja auch alles gesagt.
Wir hatten darüber geredet, was wir alles anstellen würden, wenn Papa wieder gesund wäre.
Wir hatten über alle Therapien gesprochen, die infrage kamen.
Wir hatten immer wieder durchgerechnet, wie hoch die Chance war, dass bei einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent die anderen fünf Prozent eintreten würden.
Wir hatten zusammen überlegt, welche Musik cool sein würde für die Beerdigung.
Danach gab es eigentlich nichts mehr zu sagen.

*
Auch am letzten Tag ging ich wieder zum Hafen runter. Es hatte den ganzen Vormittag geregnet.
Wie immer war nichts los, nur am Ende des Piers machte ein alter Mann eine Riesensauerei mit irgendwelchen Fischen. Er verteilte Schuppen auf dem Boden und warf glibberige Innereien durch die Gegend, auf die sich eine Schar wie wahnsinnig kreischender Möwen stürzte.
Plötzlich war da das Mädchen. Ich hatte gar nicht gesehen, wo es herkam, auf einmal stand sie zwischen mir und dem alten Fischer. Sie war vielleicht zwei Jahre älter als ich. Bei Mädchen weiß man das ja nie – die wirken sogar noch dann älter, wenn sie jünger sind als man selbst.
Bevor ich abhauen konnte, kam sie schon auf mich zu.
Unter ihrer bunt geringelten Strickmütze schauten braune Dreadlocks hervor. Sie hatte eine abgewetzte, schwarze Wolljacke an, wie von einem Opa geklaut. Um ihren Hals war ein grüner Strickschal gewickelt – ausgerollt garantiert fünf Meter lang. Sie trug rote Schnürstiefel und einen kurzen, karierten Rock. Ihre Unterlippe und die rechte Augenbraue waren gepierct. Bei der Nase hatte es wahrscheinlich nicht richtig geklappt, jedenfalls war da so eine rote, entzündete Stelle. Ich staunte, wie viele Ohrstecker an ein einzelnes Ohrläppchen passen konnten.
Ich musste an die Leprechauns denken, diese Kobolde aus Klaras Buch. So ähnlich sah sie aus, nur als Mädchen – aber trotz allem auch irgendwie hübsch.
„Hi, guy, what’s your name?“, fragte sie.
„Paul”, antwortete ich einsilbig.
„Cool, Paul – where you‘re from?“
„Germany.“
„Ja, fick die Henne!“, rief sie. „Endlich mal jemand, mit dem ich in der Sprache meiner Urahnen quatschen kann!“ Sie musterte mich abschätzig. „Auch wenn es nur ein mickriges Kind ist", sagte sie und hielt mir ihre Hand hin. "Aislinn O`Malley.“
„Paul“, sagte ich nochmal.
„Hast du Geschwister, Paul?“, fragte sie, „ältere Brüder?“
„Nein“, sagte ich, „ich bin hier nur mit meiner Mutter.“
„Ich habe sieben ältere Brüder“, sagte sie.
„Oha.“
„Aber alle draußen auf dem Meer, mit meinem Vater. Die kommen manchmal tagelang nicht nach Hause. Haifischjäger halt.“
Plötzlich rannte sie los und sprang in einen der klapprigen Fischkutter, die an der Kaimauer festgebunden waren. „Los, komm!“, rief sie, stellte sich breitbeinig hin und versuchte, das Boot zum Schaukeln zu bringen. „Wir können ihnen entgegenfahren und helfen, den Fang an Land zu bringen!“ Sie rupfte ein bisschen an den dicken Seilen, mit denen der Kutter am Pier vertäut war, dann rüttelte sie an der Tür zur Kajüte. „Holy fucking shit!“, schimpfte sie. „Jetzt haben die Bastarde wieder alles abgeschlossen und ich habe meinen Schlüssel nicht dabei!“
Vom Ende des Piers schaute der alte Fischer kurzsichtig in unsere Richtung.
Das Mädchen kletterte aus dem Kutter und ließ sich schwer seufzend auf der Kaimauer nieder.
Ich setzte mich daneben. Es war kalt am Hintern und ein bisschen nass. Wir ließen die Beine baumeln und starrten auf das Meer.
„Grace O‘Malley”, sagte Aislinn irgendwann. „Schon mal gehört?“
„Keine Ahnung“, antwortete ich.
„Eine irische Piratin. Eine Legende. Meine Ur-Urgroßmutter. Oder Ur-Ur-Ur ...“
Aha. Krass ...“
Die Boote knarrten und quietschten und das Wasser schwappte gegen die Mauer.
Seltsames Mädchen, irgendwie, dachte ich. Aber andererseits: Sind die ja alle ...
„Du sprichst sehr gut Deutsch“, sagte ich nach einer Weile. „Ich war mal in München. Dort haben sie auch so geredet wie du.“
Aislinn schaute mir direkt in die Augen, bis ich es nicht mehr aushielt und den Blick auf ihre entzündete Nase senkte. Irgendwo aus ihrer Opajacke kramte sie ein Feuerzeug und eine Zigarette hervor. Es dauerte sehr lange, bis sie sie angezündet hatte.
„Ja“, sagte sie, während sie etwas Rauch ausblies, „Ich weiß – mein komischer Dialekt ... Bavarian-Irish. Wegen meinen deutschen Vorfahren. Die Sprache wird sicher bald aussterben. Schade drum. Wir haben sogar ganz eigene Wörter, die es nur im Bayrisch-Irish gibt.“
„Aha. Welche denn?“
Sie nahm einen langen Zug von ihrer Zigarette. Beim Ausblasen kniff sie die Augen zusammen und hustete ein bisschen. „Keensmurgel, zum Beispiel“, sagte sie, „und Woorsholzshabeen.“
„Aha.“
Zwei Möwen stritten sich laut um das Innere eines Fischs.
„Ludwig der Zweite. Der Märchenkönig. Schon mal gehört?“, fragte sie.
„Keine Ahnung", sagte ich. „Oder – ist das der komische Typ, dem Neuschwanstein gehört? Da waren wir mal, glaube ich."
Aislinn drückte ihre halb gerauchte Zigarette auf der Kaimauer aus. „Kluges Kind. Du wirst es nicht glauben, aber Ludwig der Zweite war der Oheim meiner Großmutter. Die haben natürlich vertuscht, dass er irische Verwandtschaft hatte. Wegen der Thronfolge und allem ...“
Der alte Fischer humpelte an uns vorbei, murmelte irgendetwas und beendete seine Rede mit einem herzhaften, zahnlosen Lachen.
„Póg mo thóin. Pogue mahone“, sagte Aislinn, „schon mal gehört? “
„Nein. Keine Ahnung. Deine Mutter?“
„Depp, das ist nur so eine Redewendung.“
„Aha. Bavarian-Irish?“
„Normales Irisch: Küss meinen Arsch! Also, das Gleiche wie Leck mich am Arsch, eigentlich."
„Ah.“ Vielleicht wurde ich ein bisschen rot, wegen Küss.
Pogue mahone, probierte ich leise.
Hinter einer tiefschwarzen Wolke kam die Sonne hervor und strahlte scheinheilig in die Umgebung.
„Was machst du hier eigentlich so den ganzen Tag, Paul?“
„Nichts.“
Aber dann erzählte ich ihr dummerweise, wie ich mit einem Stück Brot Irischer Freiheitskämpfer gespielt hatte.
„Du hast ja echt einen an der Waffel …“, sagte Aislinn und guckte mich vorsichtig an.
„Wollen wir in den Pub gehen?“, fragte sie plötzlich, „ich könnte jetzt langsam ein Stout vertragen!“
„Weiß nicht ... Keine Ahnung.“

Auf dem Weg kamen uns diese Jungs vom Supermarkt auf ihren Fahrrädern entgegen. Sowohl die beiden als auch Aislinn erweckten nicht den Anschein, sich besonders gut zu kennen. Jedenfalls grüßten sie sich nicht und motzten sich auch nicht an.
„Kennst du die?“, fragte ich.
„Verfeindeter Clan", sagte sie. „Finnegan. Wenn meine Brüder und mein Vater mitkriegen würden, dass wir miteinander reden, würden sie denen die Schädel zertrümmern. Nicht, dass es schade drum wäre …“
Am Pub waren wir inzwischen vorbeigelaufen.
„Wollen wir reiten?“, fragte sie plötzlich mit weit aufgerissenen Augen und lief schon los, in Richtung irgendeiner Koppel. Ich rannte hinterher, aber als wir dort waren und über den Zaun kletterten, galoppierten die Pferde davon.

„Wollen wir fliegen? Bist du schon mal geflogen?“
„Na ja", sagte ich gedehnt, „nach Irland, zum Beispiel …“
„Nein“, sagte sie, „ich meine – richtig fliegen. Im Wind! Warst du schon mal an den Klippen?“
Auf dem Weg zu den Klippen am Malin Head wanderten wir durch exakt die Landschaft, in der sich Feen und Trolle zuhause fühlen würden.
In der Ferne konnte ich meine Mutter und Klara erkennen, wie sie einen Hügel hinaufstiegen. Klara trug eine Staffelei unter dem Arm. Ich hatte inzwischen begriffen, dass es hier mehr zu malen gab als einfach nur Grün: Es gab Abendgrün, Regenbogengrün, Sonnengrün, Halbschattengrün, Mittelgrün, Vollgrün, Tollgrün, Trollgrün – und der Himmel und das Meer erfanden zusammen so viele Farben, dass alle Maler der Welt wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage zu tun haben würden, diese zusammenzumischen.

„Na, Kleiner“, sagte Aislinn, als wir schon ziemlich lange gelaufen waren. „Bist du müde? Kannst du noch? Wollen wir Kinderlieder singen?“
Und schon grölte sie los:
I'll tell me ma, when I go home
The boys won't leave the girls alone

und sie sang so laut und durchgeknallt und schräg, dass ich mich irgendwann traute, beim Refrain einfach mitzuschreien:
She is handsome, she is pretty
She is the belle of Belfast city.
She is …

Wir blieben erschrocken stehen – vor uns in einer Senke, halb im Nebel, lag plötzlich eine Kuh, ein riesiges Tier, das uns aufmerksam aus sanften Augen anblickte. Als wüsste es irgendwie mehr, als für eine Kuh normal ist.
„Hast du gesehen“, flüsterte Aislinn, „sie hatte kleine Flügel …“
Ich wusste, dass sie mich verarschte, aber ein bisschen hatte es wirklich so ausgesehen.

An den Klippen ließen wir uns flach auf den Boden fallen und blickten über den Rand steil nach unten. Der gewaltige Aufwind riss unsere Haare nach hinten. Aislinn sah aus wie ein Alien, ein paar ihrer Dreadlocks standen senkrecht in die Höhe. Ganz weit unten rumorte das Meer. Es schmatzte und schäumte wie ein riesiges, tollwütiges Tier.
„Schau mal, dort!“, rief Aislinn plötzlich aufgeregt und zeigte auf einen Felsvorsprung, wo gerade ein ziemlich ungeschickter Vogel mit roten Füßen gelandet war. „Ein Pinguinfalter“, flüsterte sie. Ich war mir eigentlich sicher, dass diese Vögel Papageientaucher hießen, oder Puffins, weil ich eine Abbildung davon im Reiseführer gesehen hatte. Zwei weitere Vögel landeten auf dem Felsen und es war echt lustig, ihnen beim Fliegen und Landen zuzusehen, ein bisschen wie in einem Trickfilm. Die Puffins hatten ernste, irgendwie traurige Gesichter, die nicht richtig zu ihren kleinen Knuddelkörpern passten.
„Falter sind ja wohl eher Insekten“, gab ich vorsichtig zu bedenken.
„Ha!“, erwiderte Aislinn, „Es gibt massenhaft Vogelarten, die wie Insekten heißen ... Grasmücke zum Beispiel.“
„Aha.“

„Schau genau hin!“, sagte Aislinn und machte ein paar Kniebeugen. „Jetzt sind wir dran mit Fliegen! Hier ist die perfekte Stelle. Wenn der Wind vom Meer kommt wie jetzt – einfach hineinschmeißen und ein Stück in die Luft heben lassen! Nice!“
Mit ihren roten Schnürstiefeln und der schwarzen Opajacke, die wild im Wind flatterte, sah sie selbst aus wie Puffin. Sie lief bis zum Klippenrand und ließ die Spitzen ihrer Stiefel ein Stück darüber hinaus ragen. Dann ging sie leicht in die Knie, breitete die Arme aus und beugte sich nach vorn. Sie rief irgendetwas, aber ich konnte es nicht verstehen. Das Meer donnerte gegen die Felsen und mir klopfte das Herz am Hals vorbei bis hoch in die Ohren. Ich wollte eigentlich nur noch wegrennen.
„Hör auf!“, schrie ich, viel zu schrill.
Kurz sah es so aus, als hätten sich ihre Füße vom Boden abgehoben.

„Easy-peasy,“ sagte sie, als sie wieder gelandet war und sich zu mir umgedreht hatte.
Ihre Augen hatten einen irren Glanz. „Jetzt du, Paul! Du wirst sehen – es ist mega!“
„Ich glaub‘, es hackt …“, murmelte ich.
Danach ließ ich ihre geballte Häme über mich ergehen: Loser, Schisser, Feigling, Warmduscher, Angsthase, Keensmurgel, Soft Egg …

Wir setzten uns auf einen Stein und glotzten ein bisschen aufs Meer.
In der Ferne schaukelte ein Fischkutter auf den Wellen, so winzig und zerbrechlich wie ein Spielzeug aus China.
Aislinn erzählte von Fischern, deren Boote bei ähnlichen Stürmen hier an den Klippen zerschellt waren. Und wie man die Körper sauber abgenagt und in Einzelteilen drei Wochen später am Five Fingers Strand aufsammeln konnte.
„Hoffentlich sind Daddy und die Boys schon zurück ...“, seufzte sie besorgt.
„Was ist eigentlich mit deinem Vater?“, fragte sie plötzlich.
„Weg“, sagte ich und spuckte verächtlich aus, wie jemand Hartgesottenes in einem Film. Der Wind blies meine Spucke an uns vorbei nach hinten. „Tot!“, rief ich angewidert und schleuderte einen faustgroßen Stein über die Klippen. Ich hatte kurz Angst, er würde zurückkommen und mir gegen den Kopf knallen.
„Ah …“, sagte Aislinn.
Dann sagten wir lange nichts.
Das Tosen der Brandung war laut genug, um unser Schweigen zu übertönen.
Irgendwann schrie ich die ganze beschissene Geschichte in den Wind. Wie mein Vater krank wurde, wie er sich wieder erholt hatte, wie er immer wieder blöde Witze gemacht hatte und dann einfach trotzdem gestorben war.
Danach schwiegen wir weiter.
„Im Wind“, sagte Aislinn nach einiger Zeit.
„Was: im Wind?“, fragte ich.
„Dein Vater“, sagte sie, „ich glaube, dein Vater ist jetzt überall – aber vor allem im Wind. Jedenfalls werde ich im Wind sein, wenn ich mal tot bin.“

Die Luft roch nach Salz und Fisch und Unendlichkeit.

Plötzlich sprang ich auf, von mir selbst überrascht, sprintete zum Rand der Klippen, ging in Position wie auf einem Startblock, beugte mich vor und breitete die Arme aus, so wie Aislinn es gezeigt hatte. Der Wind drehte sich kurz um sich selbst, dann hatte er mich gefunden. Er donnerte gegen meine Zähne, schob mir die Augenlider zu und fauchte durch die Nasenlöcher direkt in mein Gehirn.
Ich sah nichts mehr, ich fühlte nichts mehr, und ich war leicht genug, um zu fliegen.

Als ich die Augen wieder öffnete und von der Kante zurücktrat, sah ich, dass Aislinn ganz dicht hinter mir stand.
Alter!“, sagte sie und atmete ein bisschen schnell, „Dein Vater ist ziemlich stark. Wenn der so einen Fettkloß wie dich festhalten kann ...“
Das kapierte sogar ich, dass das ironisch gemeint war. Ich bin echt viel zu dünn.
„Wenn du auch mal so stark werden solltest“, sagte sie und boxte mir leicht gegen die Rippen, „was ich nicht glaube, dann kommst du zurück und dann mischen wir beide gemeinsam den Finnegan-Clan auf. Versprochen?“
„Versprochen“, sagte ich.
Sie schaute mich nachdenklich an und drückte mir plötzlich einen Kuss auf die Stirn.
Ich wurde nicht rot.

Und ich freute mich wie wahnsinnig auf alles, was irgendwann kommen würde.

*
„Dahinten wohne ich“, sagte sie und zeigte vage in Richtung einer verwitterten Burgruine,
„ich geh‘ dann jetzt mal.“
Ich musste an Schloss Neuschwanstein denken und bekam Lust, ihre Familie kennenzulernen.
„Kann ich mitkommen?“, fragte ich.
Sie bedachte mich mit einem Blick, der in aller Kürze ihr Mitleid darüber zum Ausdruck brachte, was ihre sieben wilden Brüder und ihr zorniger Vater mit mir anstellen würden.
„Mach’s gut, Fettkloß“, sagte sie.
„Mach’s gut, Aislinn“, sagte ich.
Bei -linn merkte ich, dass meine Stimme tiefer geworden war.

Ich schaute ihr hinterher, hörte sie leise singen, I'll tell me ma, when I go home, sah sie immer kleiner werden, bis sie sich zwischen den trollgrünen Hügeln vollständig aufgelöst hatte.
Irgendwo blökte ein Schaf.

Bierschwaden und leise Musikfetzen wehten aus dem Pub – das gleiche Stück, das wir auf der Hinfahrt im Auto gehört hatten. Ein kleiner, gescheckter Hund kam wütend um die Ecke gewetzt und versuchte, einem vorbeiradelnden Opa in die Reifen zu beißen. Vor dem Supermarkt chillten die irischen Jungs. Jonas Schröder und Sven Finnegan. Jonas machte wieder seine schlitzigen Augen und Sven ein fieses Zischgeräusch.
„Pogue mahone“, sagte ich, als ich an ihnen vorbeigelaufen war, leise genug, dass sie es nicht hören konnten.

*​

„Du hast dich mit einem Mädchen angefreundet?“
Wir saßen beim Abendessen und Mama hielt mir den Brotkorb hin.
„Was für ein Mädchen?“, fragte ich lahm.
„Wir haben euch gesehen heute, von weitem“, sagte Klara. „War das nicht diese Katharina Huber? Die kommen immer im Frühjahr hierher. Die Eltern sind Ornithologen, Professoren aus München. Bisschen crazy, die ganze Familie, aber trotzdem sehr nett. Oder, Paul?“ Sie blickte mich mit diesem pseudowitzigen Augengezwinker an, wie alle Erwachsenen, wenn sie glauben, hinter eines unserer Geheimnisse gekommen zu sein.
„Das war jemand anderes“, sagte ich und nahm eine Scheibe Brot.

*
Auf der Rückfahrt tat ich nicht so, als wäre ich der Fahrer.
Mein Rucksack lag hinten, neben dem Bild. Klara hatte es mir zum Abschied geschenkt. Ich durfte es selbst aussuchen und entschied mich für eins, auf dem sie die Cliffs und den Ozean in total windigen Farben gemalt hatte. Oben rechts war ganz klein ein Pinguinfalter zu erkennen.
Wir fuhren die Scenic Route entlang der Küste. Irgendwann kündigte ein braunes Schild einen Parkplatz an den Klippen an, so einen mit toller Aussicht für Touristen.
„Halt an!“, befahl ich, als wäre das gar nicht meine Mutter, und genau so tat sie es auch.

Ich stieg aus und rannte allein bis zum Rand der Klippen. Der Sturm fauchte und donnerte vom Meer gegen die Küste, wie am Tag zuvor mit Aislinn O’Malley.
Ich breitete die Arme aus, schloss die Augen und ließ mich gegen den Wind fallen, wie ich es gelernt hatte. Ein bisschen achtete ich auch darauf, mich nicht zu weit nach vorn zu beugen, aber mir war klar, dass das nicht wirklich nötig war.
Ich fing an, einen Haufen Mist gegen den Wind zu brüllen: Pogue mahone und Woorsholzshabeen und Verdammter Scheißdreck und dann einfach nur so Waaah Waaaah Waaaaaah Waaaaaaaaaaah! wie ein Behinderter, und ich konnte wirklich mein eigenes Gebrüll nicht verstehen – so laut war der Sturm, aber ich wusste, mein Vater würde es trotzdem hören und er würde lachen und mir einen Vogel zeigen.

Ich lief zurück zum Parkplatz. Mama war inzwischen auch ausgestiegen und hatte sich gegen das Auto gelehnt. Sie war ungeschminkt und sah ganz jung aus.
„Was hast du da vorne gemacht?“, fragte sie.
„Nichts“. Ich lehnte mich auch gegen das Auto.
Wir standen einfach so nebeneinander und keiner machte Anstalten, wieder einzusteigen.
Der Wind pfiff uns um die Ohren und man konnte auch hier noch hören, wie der Atlantik gegen die Felsen krachte.
„Weißt du, was Pogue mahone heißt?“, fragte ich nach einer Weile.
„Klar“, sagte Mama. „Küss meinen Arsch!“
Sie schaute mir voll ins Gesicht und ich schaute zurück, wie schon lange nicht mehr. Ihre Mundwinkel zuckten und dann fingen wir gleichzeitig an zu prusten und zu lachen, bis wir nicht mehr konnten, und dann umarmten wir uns, und dann mussten wir heulen und es war uns scheißegal.

 

Hallo @Raindog

Eigentlich hatte ich "Küss meinen Arsch" bereits im Erscheinungsjahr gelesen, habs versäumt, eine anständige Kritik zu schreiben, dann kam Weihnachten und - ach pfff - alles Ausreden. Nun habe ich NGKs Copywrite gelesen und - sag mal, habt ihr euch abgesprochen?
Raindog so: "Ich schreibe 2017 Pauls Geschichte und du machst dann 3 Jahre später die Adaption aus Sicht der Aislinn." Und NGK so: "Klar, bin dabei." Das passt ja wie die Faust aufs Auge.

Bevor ich mich also hinter NGKs Welt der magischen Geschöpfe hermache, hier noch der längst überfällige Leseeindruck zu deiner berührenden Geschichte.
Ich mag deinen Erzählton und die Figuren erhalten diese Authentizität, mir geht es da wie Fliege, der Weg ist das Ziel und braucht dazu keinen übergrossen Spannungsbogen. Du nimmst mich bei der Hand, lässt die Figuren erzählen und wir schauen zu, geniessen die Umgebung, das Setting, dass ich im Übrigen 2019 auch selber er-"fahren" durfte. (Linksverkehr, die Herausforderung meines Lebens, Wasserfälle, Errosionsgefährdete Steilküsten mit lebensmüden Touristen im Wind, Grün in allen seinen Nuancen, weite Trollfelder und Wasserfälle in allen Ausprägungen und - jetzt hör ich auf.)

Mir gefiel, wie du Pauls Wandlung vom pupertierenden Jungen, hin zum jungen Mann darstellst, der den Tod des Vaters endlich akzeptiert, mit Hilfe einer kurzen intensiven Freundschaft mit Aislinn. Die wiederum, herrlich outlaw dargestellt, durch ihr Äusseres provozierend, im Herzen aber sehr empathisch auf Paul eingeht, ihm die Schönheiten der Natur und deren Mystik näher bringt, durch die Paul sein Herz öffnen, dabei die eiserne Bande des Schmerzes sprengt und befreit mit der Mutter wieder auf Augenhöhe die Lebensfreude teilen kann.
Dabei kommt ihm entgegen, dass Aislinn/Katharina sich ebenfalls eine Fantasiewelt erträumt, den Clan, die Haifischjäger, die geflügelte Kuh.

Einziger Punkt, der mich aber erst beim Lesen 2020 und aufgrund meines Irlandaufenthalt 2019 hat stocken lassen:

Sie lief bis zum Klippenrand und ließ die Spitzen ihrer Stiefel ein Stück darüber hinaus ragen. Dann ging sie leicht in die Knie, breitete die Arme aus und beugte sich nach vorn.
Das war mir plötzlich to much, dieses über die Kante hinauslehnen. Ich weiss, dramaturgisch absolut in Ordnung, wir sind hier bei Fiktion und ja, warum nicht, der Wind weht kräftig und stetig, nicht in Böen, aber trotzdem stockt mir der Atem, nicht auszudenken, hörte in diesem Moment der Wind auf ...

Habe ich doch bei den Cliffs of Moher eine Gruppe Jugentlicher auf den überhängenden Grasnarben herumtollen sehen und Selfies schiessen - WTF!
Vielleicht bin ich auch einfach nur zu alt für den Scheiss. :D

Also Raindog, verspätete aber herzlich, mir hat die Geschichte total gut gefallen.
Liebe Grüsse,
dot

 

Lieber @dotslash,

dann kam Weihnachten und - ach pfff - alles Ausreden.
- sogar schon DREI Weihnachten und drei Ostern, um genau zu sein, aber du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich über deinen späten Besuch freue! :)
Nun habe ich NGKs Copywrite gelesen und - sag mal, habt ihr euch abgesprochen?
...
Das passt ja wie die Faust aufs Auge.
Ja, das habe ich auch gedacht, als ich NKGs Version gelesen habe: wie füreinander geschaffen!
Ich mag deinen Erzählton und die Figuren erhalten diese Authentizität, mir geht es da wie Fliege, der Weg ist das Ziel und braucht dazu keinen übergrossen Spannungsbogen.
Danke, das freut mich wirklich. Diese Geschichte wollte einfach so geschrieben werden. Ich habe damals als Schreibneuling auf überhaupt keine gängigen Regeln geachtet, weil ich sie schlichtweg noch nicht kannte ... Dass die Geschichte dann soviel positive Resonanz erfahren hat, hat mir natürlich einen Schreib-Kick verpasst. Aber nie wieder seitdem ist mir irgendwas so leicht aus der Feder geflossen wie hier, was sicher auch an dem von mir geliebten Setting liegt:
das Setting, dass ich im Übrigen 2019 auch selber er-"fahren" durfte.
Und? Einfach schön, oder??? :)
Linksverkehr, die Herausforderung meines Lebens
Du sagst es! Ich bin zwar (bis auf einmal, da war ich aber Beifahrerin mit Rucksack auf dem Schoß) immer mit dem Fahrrad dort unterwegs gewesen und das klappt soweit ganz gut - allerdings habe ich mich dann zuhause sehr gewundert, warum mir auf meiner Fahrspur plötzlich ein LKW :eek: entgegenkam ...
Wasserfälle, Errosionsgefährdete Steilküsten mit lebensmüden Touristen im Wind, Grün in allen seinen Nuancen, weite Trollfelder und Wasserfälle in allen Ausprägungen und - jetzt hör ich auf
Nein, mach bitte weiter! :herz:
Mir gefiel, wie du Pauls Wandlung vom pupertierenden Jungen, hin zum jungen Mann darstellst, der den Tod des Vaters endlich akzeptiert, mit Hilfe einer kurzen intensiven Freundschaft mit Aislinn
Das habe ich gehofft, dass diese leise Wandlung beim Leser auch so ankommt und ausreicht, die Geschichte zu tragen, natürlich mit Untestützung von
Aislinn. Die wiederum, herrlich outlaw dargestellt, durch ihr Äusseres provozierend, im Herzen aber sehr empathisch auf Paul eingeht, ihm die Schönheiten der Natur und deren Mystik näher bringt, durch die Paul sein Herz öffnen, dabei die eiserne Bande des Schmerzes sprengt und befreit mit der Mutter wieder auf Augenhöhe die Lebensfreude teilen kann.
Ich bin auch der Meinung, @Nichtgeburtstagskind hat völlig recht. Aislinn ist in Wirklichkeit eine gute Fee!
Das war mir plötzlich to much, dieses über die Kante hinauslehnen. Ich weiss, dramaturgisch absolut in Ordnung, wir sind hier bei Fiktion und ja, warum nicht, der Wind weht kräftig und stetig, nicht in Böen, aber trotzdem stockt mir der Atem, nicht auszudenken, hörte in diesem Moment der Wind auf ...
Habe ich doch bei den Cliffs of Moher eine Gruppe Jugentlicher auf den überhängenden Grasnarben herumtollen sehen und Selfies schiessen - WTF!
Ja, manche ... Und hast ja recht, zur Nachahmung ist die beschriebene Szene nicht empfohlen. Soll halt schon so aussehen können, als ob es ein bisschen ins Mystische abdriftet an der Stelle, aber eigentlich soll es nur eine etwas verschobene Wahrnehmung von Paul sein. Kommt dem doch eh alles bisschen seltsam vor ...
Vielleicht bin ich auch einfach nur zu alt für den Scheiss. :D
Nein! Vielleicht einfach noch nicht alt genug, lieber Dot! Und außerdem, vergiss nicht - beim letzen Gathering gehörten immerhin wir beide zu den wenigen Todesmutigen, die es gewagt haben, auf diesen sturmumtosten Aussichtsturm im Dreiländereck zu klettern ... :thumbsup:
mir hat die Geschichte total gut gefallen.
Und ich habe mich so sehr über deinen schönen Kommentar (und die damit verbundene Erinnerung ans Gathering) gefreut, Dotslah! :)
Viele Grüße von Raindog

 

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