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Serie Pater Hendriks Versprechen

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23.02.2004
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Pater Hendriks Versprechen

Pater Hendriks Versprechen

Die Sonne ging allmählich auf und verbannte das Dunkel der Nacht für einen weiteren langen Tag aus Strongwall. Der gelb-leuchtende Lichtball kam über den dichten Tannen des Waldes zum Vorschein, und seine Strahlen spiegelten sich im frischen Schnee. Sie blendeten die weißhaarige alte Frau, die aus dem Fenster ihrer Hütte blickte.
Die Natur konnte so wundervoll sein, so rein, und doch war alles nur ein Trugbild, das wusste Morleen Weed, ein Bild, das die Welt von sich selbst erzeugte, und das so manches Schreckliche verbergen sollte. Schließlich war die Natur auch dafür verantwortlich, dass es für Morleen trotz der Herrlichkeit dieses Anblicks kein schöner Morgen war. Dafür, dass sie seit Jahren schon die schönsten Morgen nicht als solche empfinden konnte.
Natürlich gab es bessere Tage – Tage, an denen die Schmerzen sich auf den physischen Teil ihres Körpers beschränkten, an denen sie den Weg in ihren Kopf nicht fanden. Körperliche Schmerzen waren grausam, doch nichts war so schrecklich wie Schmerzen im Geiste, die traurige Gewissheit, dass ihr Körper in jeder Woche, an jedem Tag und in jeder Stunde weiterhin starb und verkümmerte. Morleen hatte die Tage zu schätzen gelernt, an denen sie ihrer Depression entfliehen konnte, an denen sie ein paar Stunden so leben konnte, wie es normale Menschen diesseits der Weißen Berge taten. Heute war kein solcher Tag.
Sie spürte nicht nur die lähmenden Impulse, die ihre Wirbelsäule auf und ab liefen und jede Bewegung zu einer schieren Unmöglichkeit machten, sondern auch deren Verlängerungen ins Hirn, die ihr das Sehen, Hören und Sprechen, ja sogar das Denken erschwerten. Nein, heute war keiner der besseren Tage, und Morleen wusste auch warum – ihre Medizinlieferung war schon seit zwei Tagen überfällig.

* * *

Langsam erwachte auch der Rest Strongwalls aus seinem winterlich-friedlichen Schlaf. Das kleine Dorf, das von fast allen Seiten von den auslaufenden, weiten Wäldern der Weißen Berge umgeben war, fasste nicht einmal dreißig Bewohner – vor allem Holzfäller und Waldarbeiter waren es, die Strongwall zu dem machten, was es war – eine Holzfällerkolonie in Mitten der Wälder.
Die Männer lebten hier, weil es die Arbeit erleichterte, und ihre Familien, weil sie ihren Ehemännern und Vätern nahe sein wollten. Das einsame Leben war es, was die Menschen hier wollten und schon immer gewollt hatten, seit der Krieg vorüber war und sie aus West Desert, Fairheaven, oder anderen Orten aus dem Westen hergezogen waren.
Auch Morleen Weed war damals aus West Desert gekommen, zusammen mit ihrem Ehemann Derek Weed und ihrem Bruder Brasov Slaught, der im nicht weit entfernt gelegenen Saintville als Dorfschmied Fuß gefasst hatte. Derek hatte zum Kriegsbatallion West gehört und sich hier im Osten, nach den endlosen Schlachten um das Land südlich der Weißen Berge, niedergelassen. Er hatte damals seine Waffen zu Boden gelegt und gegen ein Holzfällerbeil eingetauscht, das er von da an führen wollte – gegen Bäume, statt gegen Bergwesen.
Wer in Strongwall lebte, musste sich mit einem minimalistischen Lebensstil begnügen – es gab hier weder eine Wirtsschenke, noch einen Marktplatz, von einem Arzt oder einem Dorfrat ganz zu schweigen. Wollte man Alkohol trinken, musste man ihn sich wohl oder übel aus Saintville holen (oder kommen lassen), benötigte man Gewürze für die Zubereitung geschlachteter Tiere, musste man ebenfalls nach Saintville, genauso wie man dort hin musste, um all das Holz zu vertreiben, das die Bewohner hier stockten (und das erwies sich als zunehmend schwerer, da in Saintville selbst ein halbes Dutzend Holzfäller lebten).
Was es aber neben all den Holzfällern, die gleichzeitig auch Jäger und Handwerker waren, noch in Strongwall gab, war ein Pater. Pater Hendrik Karos, der von allen Pater Hendrik oder lediglich Der Pater genannt wurde, hatte sich vor Jahren der Holzfällerkolonie angeschlossen und bewohnte eine kleine Hütte in der Mitte des Dorfes.
Genau aus dieser Hütte trat der Pater jetzt heraus, eingehüllt in ein Bärenfell, und mit bis zu den Knien reichenden Stiefeln. Er schloss die Türe hinter sich, rieb sich die Hände und stapfte durch den tiefen Schnee davon. Weiße Atemwolken bildeten sich in der klirrend kalten Luft, während der festgefrorene Schnee unter des Paters ansehnlichem Gewicht knirschte.

* * *

Morleen Weed saß auf einem Holzstuhl direkt vor dem Herd, an dem sie ihre Gliedmaßen wärmte. Früher hatte sie oft in ihrem Schaukelstuhl gesessen und dabei gestrickt oder genäht, um sich zu entspannen. Heute waren der Schaukelstuhl und seine Bewegungen eine Zumutung für sie, und Stricken eine Sache, die sie als sinnlos betrachtete – für wen sollte sie das denn tun? Was sollte sie fertigen? Einen Pullover für sich selbst? Sie ging doch nie außer Haus. Einen Schal für Elaine? Ihre Nichte hatte doch alles, was sie sich wünschte, wohnte sie doch bei ihrem Vater Brasov in Saintville und brauchte nur zum hiesigen Schneider zu marschieren, der ihr alle möglichen Stoffe und Pelze aushändigen würde – gegen eine angemessene Dienstleistung ihres Vaters als Ausgleich, versteht sich. Nein, die Zeiten des Strickens waren vorbei, genauso wie die Zeiten des Schaukelstuhls vorbei waren und ebenso die der Freude, des Glücks und der Liebe.
Es klopfte an der Türe.
„Wer ist da draußen?“, fragte Morleen. „Elaine bist du es?“
Die Stimme, die von draußen herein drang, war nicht die ihrer Nichte: „Guten Morgen Morleen! Pater Hendrik hier.“
„Tretet ein“, sagte Morleen, enttäuscht darüber, dass es nicht Elaine war.
Die Türe öffnete sich unter einem Knarren, und der Pater betrat mit seinen hohen Stiefeln die Hütte. „Einen guten Morgen wünsch’ ich Euch!“
„Pater Hendrik! Verzeiht mir, dass ich nicht aufstehen und Euch die Hand reichen kann.“
„Meine liebe Morleen“, sagte der Pater, der die Türe ins Schloss fielen ließ und die eisige Kälte des Morgens nach draußen sperrte. „Wie geht es Euch an diesem jungen Tag?“
„Man lebt, Pater, man lebt.“ Morleens blass-grüne Augen sahen den Pater an, und dieser erwiderte den Blick, als er an den Herd herantrat. Er kniete sich vor Morleens Stuhl nieder, nahm ihre faltige Hand und küsste sie.
„Ihr wisst, gute Morleen, was mich an diesem Wintermorgen zu Euch führt?“, fragte er und erhob sich nach der Begrüßungsgeste wieder vom Holzboden.
„Ich kann es mir denken, Pater, und ich kann nur hoffen, dass Ihr Neuigkeiten für mich habt.“
„Da muss ich Euch enttäuschen“, sagte er. „Ich habe noch keine Nachricht aus Saintville erhalten. Aber Cyrus wird sich heute Mittag mit ein paar Männern auf den Weg dorthin machen. Ich habe ihm bereits aufgetragen, sich nach Elaine zu erkundigen.“
Morleen schluckte, und selbst das tat ihr weh. „Pater, Elaine ist noch nie auch nur einen Tag zu spät gekommen. Sie weiß, dass ich ohne meine Medizin nicht überleben kann – zumindest nicht als ihre Tante Morleen.“
„Ich bin mir sicher, dass es eine Erklärung dafür gibt, Morleen. Der Schnee ist in den letzten Tagen und Nächten stärker gefallen als sonst, und…“
„Papperlapapp!“ Morleens Stimme wirkte trotz ihrer Traurigkeit erbost. „Der Schnee ist ein gegenwärtiges Übel, das es jeden Winter zu bewältigen gilt. Bis heute hat er noch nie zu einer Verspätung geführt.“
„Was ich Euch sagen möchte, meine Liebe, ist, dass Cyrus und seine Männer auf jeden Fall Eure Medizin von Bobbie Guard aus Saintville mitbringen werden – einerlei ob sie auf Euren Bruder oder Eure Nichte stoßen.“
„Das ist gut, Pater. Wirklich gut.“ Sie schlug die Augen nieder, dann setzte sie fort: „Ihr wisst ja, was Ihr zu tun habt, sollte ich meinen Trank nicht innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden zu mir nehmen können.“
„Das weiß ich Morleen, und ich werde auch nicht zögern, es in die Tat umzusetzen, sollte es soweit kommen.“ Pater Hendrik hatte schon einmal erlebt, wie einer der Krieger von einem Venkyl gebissen worden war und kein Gegenmittel verabreicht bekommen hatte – der arme Kerl hatte erst einen Ausfall des gesamten Nervensystems, und dann…dann hatte er…schnell verdrängte er den Gedanken.
„Aber noch ist es nicht soweit. Ihr könnt Euch auf Cyrus verlassen – er wird gegen Abend aus Saintville zurück sein, und er wird die Medizin bei sich haben. Und im besten Falle auch Nachricht von Eurer Nichte.“
Die Wahrheit war, dass es bereits seit zwei Tagen keine Nachricht aus Saintville gegeben hatte. Irgendetwas war dort drüben los, aber niemand in Strongwall wusste, was das war. Wie auch immer – heute Abend würde es sich aufklären, wenn die Männer aus Saintville zurückkamen. Falls sie zurückkamen, bei Gott.
„Weswegen ich eigentlich gekommen bin, Morleen – ich möchte, dass Ihr aufsteht, sobald ich Eure Hütte verlassen habe, und die Türe hinter mir absperrt. Ihr werdet niemanden öffnen, es sei denn es ist Eure Nichte, die ans Holz klopft, und es sei denn ich bin es.“
„Natürlich.“ Morleen war sich bewusst, dass die Bewohner Strongwalls sich langsam aber sicher Sorgen zu machen begannen. Und das waren nun mal überwiegend ehemalige Krieger, die nicht lange zauderten.
„Ihr sollt wissen, dass den Leuten da draußen nichts entgeht. Nicht die geringste Kleinigkeit. Die Bewohner sind sich durchaus bewusst, dass Ihr Eure Medizin diese Woche nicht erhalten habt.“
„Und sie werden alles tun, um sich und ihre Familien zu schützen, nicht wahr?“
Der Pater nickte. „Dessen bin ich mir sicher.“
Morleen starrte ins Feuer, das in ihrem Herd loderte. Sie sagte nichts, ihre Gedanken waren weit fort.
„Gut“, sagte der Pater schließlich. „Ich breche auf. Soll ich Euch vorher noch Holz hereinbringen?“
Morleen schüttelte den Kopf, worauf sich der Pater vom Herd entfernte und zur Türe schritt.
„Pater?“
Er drehte sich nach ihr um. Sie sah in an. „Es ist höchste Zeit.“
„Ich weiß“, sagte Pater Hendrik. „Ich weiß.“
Dann stieß er die Türe auf und schritt in die Kälte hinaus.

* * *

Die Schmerzen in Morleen Weeds Rücken waren schlimm, doch sie waren erträglich – nicht so die Gedanken, die sich in ihrem Kopf abspielten, nachdem der Pater gegangen war. Sie hatte die Türe nicht verriegelt, wie er ihr geheißen hatte. Wenn jemand kommen sollte, um ihr und ihren Leiden ein vorzeitiges Ende zu bereiten, dann sollte es so sein. Sie würde sich nicht verstecken, würde zu dem stehen, was sie war. Und was sie werden konnte.
Morleen hatte sich in ihr Bett gelegt, das sich in einem abgegrenzten Raum hinter der Küche befand. Sie konnte jetzt nicht mehr tun, als zu warten, und während sie das tat trieb die Erinnerung ihr böses Spiel mit ihr. Sie spürte regelrecht, wie das Gift, das schon jahrelang in ihrem Körper schlummerte, sich ausbreitete, sich austobte, ungehalten, ungedämmt, weil keine Medizin ihm Einhalt gebot. Die physischen Schmerzen waren sekundär, als sie das Geschehene von damals noch einmal durchlebte.

* * *

Es ist Sommer, und sie ist mit ihrem Mann Derek unten am Bach. Wenn er nicht gerade im Wald ist und Holz schlägt, verbringt er seine Zeit gerne damit, den einen oder anderen Fisch zu angeln. Er ist ein liebenswürdiger Mensch und ein guter Ehemann. Dass er einst ein Krieger war, ist kaum mehr zu erahnen.
Morleen hat Wäsche zu waschen, und sie tut dies, indem sie die Leinen- und Fellstücke im kalten Wasser zwischen runden Waschsteinen auspresst. Sie sieht einige Fische und hofft, dass ihr Mann einen davon an die Angel bekommt, um ihnen am Abend ein schönes Mahl bereiten zu können.
Es ist Derek, der es als erstes sieht. „Morleen, ich möchte das du auf der Stelle nach Hause gehst. Jetzt sofort!“ sagt er, ohne sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen oder seinen Blick von dem zu wenden, was da am gegenüberliegenden Flussufer zwischen den Fichten steht.
„Mein Gott!“ sagt Morleen, als auch sie es sieht – es ist ein Venkyl, eines jener alten Wesen, die früher in den östlichen Gebieten hier unter den Weißen Bergen hausten. Als der Krieg vorbei war, und die Menschen den Osten für sich gewannen, hatten sie all diese Bestien vertrieben. Wolfswesen, Herzenfresser und jene geflügelten Kreaturen, die die Vorfahren des Wesens sein mussten, das Derek und Morleen Weed gerade gegenübersteht.
„Hast du mich nicht verstanden, Morleen?“, fragt Derek in einer ruhigen, aber nachdrücklichen Tonlage, während er den Faden zurück an Land kurbelt, den er mit einem Köder behaftet in den Bach geworfen hat. „Geh! Aber beweg’ dich langsam!“
Morleen tut wie ihr geheißen, sie entfernt sich rückwärts gehend vom Bachufer, den Blick abwechselnd auf den Venkyl und auf ihren Mann gerichtet. Das Wesen steht ruhig zwischen den Bäumen am anderen Ufer und scheint abzuwarten.
Morleen hat gerade den Waldrand erreicht, als die Bestie plötzlich nach vorne springt und ihre gewaltigen Flügel spreizt. Sie setzt mit einem einzigen Flügelschlag über den nur wenige Meter breiten Bach und wäre wohl direkt auf Derek gelandet, wäre dieser nicht rechtzeitig nach hinten ausgewichen.
Der Venkyl ist größer als Derek – gute zwei Meter groß – und hat einen mit weißgrauen Schuppen besetzten Körper, der an die Haut einer Schlange erinnert. Das Gesicht, falls man überhaupt von einem solchen sprechen kann, gleicht der Fratze einer Albinoratte – es hat eine weiße Schnauze mit glitschigen Öffnungen darin, die wohl als Nasenlöcher fungieren, und ein mit riesigen Fangzähnen besetztes Maul. Die Augen sind leblose Schlitze im schuppigen Gefüge des Kopfes. Morleen glaubt einmal gehört zu haben, dass die Wesen aus den Bergen nicht gut sehen können.
Das Monster reißt das Maul auf und stößt ein Heulen aus. Derek will sich umdrehen und in den Wald flüchten, doch dazu kommt er nicht mehr. Mit aufgefächerten Flügeln stürzt sich der Venkyl auf Derek und schraubt seine Giftzähne tief in seinen Hals. Wäre das Monster ein Vampir, würde es ihm nun das Blut aussaugen. Doch ein Venkyl ist kein Vampir, und so fließt das Nervengift durch die Zähne der Bestie direkt in die Adern von Derek Weed.
„Derek!“, schreit Morleen und schlägt beide Hände vor dem Gesicht zusammen. „Derek, nein!“
Der Venkyl schnellt von dem zuckenden Körper Dereks auf und späht in die Richtung, aus der die Stimme kommt. Sofort springt er auf, schlägt mit den Flügeln und ist auch schon zwei Meter in der Luft – dann sieht (oder wittert) er Morleen und setzt zu einem Sturzflug an. In einem irrsinnigen Tempo schießt das Monster durch die Luft, vielleicht getrieben von dem anregenden Geruch der Frau, vielleicht in blindem Blutrausch – und prallt gegen den mächtigen Stamm einer Fichte, hinter der Morleen verschwunden ist.
Geräusche ertönen – zuerst der Schlag des Venkyls gegen den Baum, gefolgt von dem Knacken und Brechen unzähliger Äste. Danach der Aufschlag, als er zu Boden fällt.
Ohne sich davon zu überzeugen, ob das Monster tatsächlich tot ist, was sie annimmt, tritt Morleen aus dem Wald hervor und läuft zum Bach hinunter, wo ihr Mann blutend und zuckend im Gras liegt.
„Derek, Schatz!“ Als sie ihn erreicht hat, greift sie ihm unter die Arme und zerrt ihn hoch. „Du musst aufstehen, Derek. Wenn du liegst, erreicht das Gift dein Gehirn umso schneller.“
Morleen hilft ihrem Mann auf, doch er kann nicht von selbst stehen, und sie ist zu schwach, um ihn halten zu können, geschweige denn ihn durch den Wald nach Strongwall zu schaffen. Er benötigt dringend ein Gegengift, das weiß sie, und sie weiß auch, dass dieses erst aus Saintville her geschafft werden muss.
„Derek, hör mir zu“, sagt sie. „Ich werde so schnell wie möglich ins Dorf laufen, jemanden nach Saintville schicken, um ein Gegengift zu holen, und dann mit einigen Männern hierher zurück kommen. Ich kann dich nicht alleine ins Dorf schleppen.“
Derek nickt nur, er bringt kein Wort hervor. Morleen weiß, dass es unterschiedliche Inkubationszeiten gibt und dass Venkylgift bei manchen Leuten zur sofortigen Verwandlung führt, bei manchen aber durchaus Tage oder Wochen dauern kann. Sie hofft, ihr Mann ist einer, der länger durchhält.
„Ich gehe jetzt!“, sagt sie, küsst ihren Mann auf die Stirn und erhebt sich.
Sie erstarrt, als sie sieht, dass der Venkyl, der eben noch wie tot am Waldboden gelegen hat, verschwunden ist. Die Angst fällt über sie her, wie ein Wolfsrudel über ein Stück rohes Fleisch, und doch muss sie jetzt handeln und darf nicht vor Angst und Zweifel gelähmt sein, wenn sie ihren Mann noch länger am Leben erhalten will – in Menschenform.
Sie blickt sich kurz um, kann die Bestie nirgendwo sehen und läuft daraufhin in den Wald hinein. Wenn sie sich beeilt, kann sie in zwanzig Minuten in Strongwall sein.

* * *

An all das erinnerte Morleen sich genau, als sie auf ihrem Bett lag und die Bretter anstarrte, die die Decke ihrer Hütte bildeten. Vielleicht, so dachte sie in diesem Moment, hätte sie damals zuerst Derek und dann sich selbst im kalten Flusswasser ertränken sollen. Ein Schlag auf den Kopf, vielleicht mit einem der Waschsteine, und sie hätte das Bewusstsein verloren, hätte Wasser geatmet, bis ihre Lunge geplatzt wäre.
Oh ja, vielleicht wäre das besser gewesen.

* * *

Morleen kommt mit drei Männern – zwei bewaffneten Jäger und dem Priester Hendrik Karos – zurück. Sie eilt den Männern voraus und läuft zum Ufer hinab. Die Jäger untersuchen mit gespannten Bögen das Flussufer, bevor sie zu Derek hinunter gehen.
Sie fällt neben ihrem Mann auf die Knie, dieser hat die Augen geschlossen. Seine Haut ist bereits grau verfärbt. „Derek!“, sagt sie. „Alles wird gut! Es sind bereits Männer nach Saintville aufgebrochen, zur Apotheke….“
Weiter kommt sie nicht. Derek öffnet blitzartig seine Augen, die sich grau-weiß verfärbt haben.
Der Priester ist noch einige Schritte entfernt, die Jäger noch mehrere Meter.
Dereks Arme schnellen empor, seine Hände, die bereits von Schuppen übersäht sind, greifen nach Morleens Gesicht.
Morleen schreit aus Überraschung.
Der Pater stürzt herbei.
Beide Jäger bleiben abrupt stehen und zielen mit gespannten Bögen in Richtung des Schreis.
Der vom Venkyl gebissene, am Rücken liegende Derek, reißt Morleen zu Boden, schnellt mit seinem Gesicht nach vorne und gräbt seine noch stumpfen Zähne in die Schulter seiner Frau.
Morleen schreit auf – diesmal aus Schmerz.
Die Luft wird von Pfeilen zerrissen.
Der Priester erreicht Morleen und zerrt sie von dem Halbmenschen weg.
Ein Pfeil verfehlt Dereks Kopf und gleitet lautlos ins Wasser des Flusses, der andere bohrt sich durch den rechten Schläfenknochen in sein Gehirn und schiebt Knochensplitter vor sich her. Der Derek-Venkyl grunzt seinen letzten Laut, dann fällt er zurück in den Sand und bleibt dort liegen.
„Er hat Euch gebissen!“, sagt der Priester und ruft den Jägern zu: „Schnell, Männer, helft mir, sie zu tragen!“
Morleen betrachtet die Bisswunde an ihrer Schulter, kann sie jedoch nicht klar sehen. Tränen trüben ihren Blick. Sie trauert, und die Trauer wird von Zeit sein, aber sie hat Glück im Unglück. Derek war noch nicht gänzlich verwandelt, und sein Gift war noch nicht so stark wie das eines echten Venkyls. Und doch steckt es in ihr, es wird nicht aus ihrem Körper verschwinden, solange sie lebt. Wie bei manch anderen Krankheiten auch, kann es eingedämmt, die Entfaltung des Giftes verhindert werden, verlangsamt.
Ab dem heutigen Tag wird Morleen jede Woche einen von Bobbie Guards frisch zubereiteten Trank benötigen, den ihre Nichte Elaine aus Saintville Woche für Woche zustellen wird. Doch wehe ihr, und wehe Strongwall, sollte sie es auch nur einmal versäumen, ihre Medizin pünktlich zu sich zu nehmen.
Wehe ihr, und wehe Strongwall.

* * *

Elaine hatte es in all den Jahren immer wieder gewissenhaft bewerkstelligt, pünktlich zur Wochenmitte den Trank vorbeizubringen. Der Weg nach Saintville war weiß Gott keine Weltreise, das Dorf lag etwa acht Kilometer entfernt – im Winter aber, wenn die Kutschen nicht benutzt werden konnten und selbst die Wölfe ihre Plage mit dem Schnee hatten, stellte er doch einen zweistündigen Fußmarsch dar.
Warum zum Teufel war Elaine diese Woche nicht gekommen? Morleen glaubte nicht, dass das Kind (das gar kein Kind mehr war, außer man zählte eine Vierundzwanzigjährige zu den Kindern) darauf vergessen hatte. Dazu war die Aufgabe zu wichtig, und dafür tat sie es schon zu lange. Elaine war etwas passiert, das war es, was Morleen glaubte, und vielleicht auch ihrem Bruder Brasov. Mein Gott, was war bloß los in Saintville?
Morleen blickte aus dem Fenster, ohne sich vom Bett zu erheben. Die Sonne, die heute Morgen so schön über den Tannen und Fichten geleuchtet hatte, war gerade dabei, hinter den Wäldern zu verschwinden. Der Tag neigte sich dem Ende zu, und wenn nicht bald Hilfe kam, war das Tageslicht nicht das Einzige, das zu erlöschen begann.

* * *

Der Pater zündete sich eine Zigarette an. Das alte, getrocknete Johanniskraut schmeckte zwar nicht so hervorragend wie ein frisches Bündel im Sommer, erfüllte aber seinen Zweck – es beruhigte.
Er saß auf einem dicken Fell auf den drei Stufen, die zu seiner Hütte führten, und blickte in den Nachthimmel. Cyrus war noch nicht zurückgekehrt, und ebenso wenig die Männer, die ihn begleitet hatten. Dabei waren sie gegen Mittag aufgebrochen – zu viert, mit einem Schlitten im Schlepptau. Sie hätten Strongwall längst erreichen müssen.
„Guten Abend, Pater!“, sagte eine Stimme in der Dunkelheit, und der Pater wurde aus seinen Gedanken gerissen. Die Gestalt kam näher, und als das Kerzenlicht, das vom Inneren der Hütte nach draußen fiel, ihr Gesicht zu erkennen gab, wusste der Pater, wer zu ihm gekommen war.
„Denkt Ihr, dass es ein guter Abend ist, Mary-Jane?“, sagte Pater Hendrik und zog an seiner Zigarette.
Die Frau trat näher heran und setzte sich neben ihm auf das weiche und wärmende Fell. „Ich denke vielmehr, dass es ein grausamer wird.“
„Für Grausamkeiten ist es noch zu früh“, sagte der Pater und blies den Rauch in die Nacht hinaus.
„Dies ist der Grund, warum ich Euch aufsuche, Pater Hendrik. Die Männer sind der Meinungen, dass es an der Zeit ist. Sie haben sich untertags zurück gehalten, haben einen Bogen um ihre Hütte gemacht, in der Hoffnung, die Medizin würde rechtzeitig eintreffen.“
„Schickt Euch Euer Mann?“
„Nicht nur dieser. Ein halbes Dutzend Männer sitzen in unserer Hütte beisammen und warten auf Eure Erlaubnis. Solltet ihr sie nicht erteilen, werden sie es ohne Euch hinter sich bringen, sagen sie.“
„Ihr kennt die Regeln, Mary-Jane, und auch die Männer kennen sie – drei Tage darf die Medizin überfällig sein, drei Tage. Morleen hat noch eine Nacht vor sich.“
„Liam und die anderen haben prophezeit, dass Ihr das sagen werdet, Pater. Ich soll Euch daran erinnern, wie schnell es bei Derek damals ausgebrochen war. Damit hatte auch niemand gerechnet.“
Der Pater nahm einen weiteren Zug von dem brennenden Johanniskraut. Er wusste, dass Mary-Jane und die Männer, die sie geschickt hatten, Recht hatten. „Da gibt es einen kleinen Unterschied, Mary-Jane. Derek…“
„Ja“, unterbrach die Frau den Pater, „ich weiß, dass Derek von einem echten Venkyl gebissen worden war, und Morleen nur von einem werdenden. Sagt ehrlich, Pater – warum sollten wir das Risiko eingehen?“
„Haben die Männer irgendetwas von Cyrus und seinen Leuten gehört?“
Mary-Jane schüttelte den Kopf. „Liam meint, dass etwas Schlimmes passiert sein könnte, drüben in Saintville. Vielleicht eine Seuche, wie die Wüstenpest damals in Fairheaven. Kann sein, dass Saintville seine Tore vorerst verriegelt lässt.“
„Es ist etwas geschehen, das liegt auf der Hand. Ich hoffe nur, dass Cyrus und die anderen trotzdem zurückkehren werden. Ob mit Medizin oder ohne. Wir sollten für sie beten. Und für die Bewohner Saintvilles.“
„Vorerst sollten wir für uns selbst beten, Pater.“ Mary-Jane drehte ihren Kopf zur Seite und sah dem Pater tief in die Augen. Sie hatte schöne Augen – es waren die Augen einer liebenden Ehefrau und die einer liebenden Mutter.
„Also gut“, sagte der Pater. Er drückte seine Zigarette im Schnee aus und erhob sich von der Treppe. „Brechen wir auf.“

* * *

„Ihr habt richtig entschieden, Pater“, sagte einer der drei Männer, die den Pater begleiteten. „Der Zeitraum mag drei Tage betragen, doch eine Sicherheit von einer Nacht kann nicht schaden. Wenn Ihr Euch gegen uns entschieden hättet, Pater, hätten wir es selbst erledigt.“
Der Pater schwieg, während sie durch den tiefen Schnee stapften.
„Außerdem“, sagte ein anderer, „sieht es wohl so aus, als würde Cyrus heute Nacht nicht mehr zurückkehren.“
„Das gefällt mir gar nicht, Liam, überhaupt nicht.“
„Mir gefällt es ebenso wenig, doch vorerst müssen wir uns um die Gefahr im eigenen Dorf kümmern.“ Der dritte Begleiter des Paters war der Größte unter ihnen – Liam, Mary-Janes Ehemann.
Sie hatten Morleens Hütte erreicht und blieben vor der Holztüre stehen.
„Seid Ihr sicher, dass Ihr es selbst erledigen wollt? Wir drei hier haben mehr Erfahrung mit dem Töten als ein Priester jemals haben kann.“
Der Blick des Paters war ernst. „Morleen hat ein Anrecht auf einen gesegneten Tod. Sie hat das Recht dazu, von einem Gesandten Gottes verabschiedet zu werden, und nicht von einer Truppe dahergelaufener Holzfäller.“
Die Männer sagten kein Wort. Sie hatten in all den Jahren gelernt, den Pater zu respektieren.
„Und jetzt reicht mir die Waffe.“ Der Pater streckte fordernd die Hand aus.
Liam griff unter sein dickes Bärenfell und brachte ein hölzernes Instrument zum Vorschein. „Könnt Ihr damit umgehen?“, fragte Liam und hielt die Waffe in die Höhe, als wollte er im Dunkel der Nacht auf eine Eule zielen.
„Natürlich kann ich eine Armbrust bedienen. Gebt schon her.“
Liam reichte dem Pater die Armbrust und zwei Bolzen aus Holz, die an einem Ende zu einer Spitze geschnitzt waren.
„Hier“, sagte er. „Ich geb’ Euch zwei Stück, für den Fall dass Ihr einen verschießt, was eigentlich nicht vorkommen sollte.“
Pater Hendrik nahm die Waffe und die beiden Bolzen entgegen. Einen davon spannte er in die Armbrust ein, den anderen ließ er in der Tasche seines Felles verschwinden. Dann kehrte er den Männern den Rücken zu und erhob die Faust, um an die Türe zu klopfen.
Er hielt kurz Inne, dann ließ er die Faust wieder sinken.
Der Pater drehte er sich zu den Männern um und wandte sich an Liam: „Gebt mir lieber noch einen dritten Bolzen, Liam.“
„Einen dritten Bolzen? Ihr könnt unmöglich zweimal verfehlen – so groß ist die Hütte doch gar nicht.“
„Ich sagte, gebt mir einen dritten.“ Die Augen des Paters verliehen der Forderung Nachdruck. Kein Mensch hätte in diesem Moment geglaubt, dass es die Augen eines Geistlichen waren. Liam griff unter sein Fell und reichte dem Pater einen weiteren Holzpflock. „Das ist mein letzter“, sagte er. „Ihr solltet beim dritten Mal wirklich treffen, Pater.“
Pater Hendrik Karos ließ den Bolzen zu dem anderen in seine Tasche gleiten und wandte sich dann wieder der Hüttentüre zu.
Und diesmal klopfte er.

* * *

Als Morleen Weed nach einer Minute immer noch nicht geantwortet hatte, versuchte der Pater die Türschnalle nach unten zu drücken. Diese gab nach und die Holztüre glitt mit einem leisen Knarren auf. Sie hat nicht auf mich gehört, dachte der Pater. Sie hat die Türe nicht abgesperrt, wie ich es ihr geraten habe. Sie weiß, was auf sie zukommt, und sie wird es nicht zu verhindern versuchen.
Der Pater trat in die warme Hütte, schloss die Türe und ließ die Nacht und die wartenden Männer hinter sich. „Morleen?“, sagte der Pater laut. „Ich bin’s, Pater Hendrik.“
Das Einzige, das sich in der Küche bewegte, war das lodernde Feuer unter dem Herd. Der Stuhl, auf dem Morleen heute Morgen gesessen hatte, war leer. „Morleen, seid Ihr da?“
Er vernahm ein leises Stöhnen und zielte intuitiv mit der Armbrust in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Der Nebenraum.
Entsetzt über sich selbst ließ der Pater die Waffe wieder sinken und stieß die Türe zum Schlafzimmer auf.
Da lag sie, in ihrem Bett – Morleen Weed, jene gutmütige und arme alte Frau, die vor Jahren von einem Venkyl gebissen worden war, der kurz zuvor noch ihr Mann gewesen war. Der Anblick Morleens, die ihre Decke bis zum Kinn herauf gezogen hatte, und deren Wangen eingefallen und deren Augen in dunkle Schatten getaucht waren, erinnerte den Pater daran, wie er damals kurz nach dem Vorfall am Bach zu ihr gekommen war.

* * *

„Geht es Euch schon besser, Morleen?“, fragt Pater Hendrik die Frau mittleren Alters, die da im Bett liegt und gegen das Venkylgift ankämpft.
„Besser“, sagt sie und greift nach der Hand des Paters. „Mein Mann. Wo ist er?“
Der Pater umschließt ihre Hand mit seiner. „Er liegt noch draußen, am Bach.“
„Derek. Die Männer werden ihn dort liegen lassen, hab’ ich Recht?“ Ihre Stimme ist leise und zittert ein wenig.
„Sie werden sich davor hüten, einen toten Venkyl ins Dorf zu holen, das müsst ihr verstehen.“
Morleen schließt die Augen, eine Träne bahnt sich ihren Weg unter dem geschlossenen Lid hervor und rollt über ihre Wange. „Ihr müsst mir etwas versprechen, Pater“, sagt sie schließlich und öffnet die Augen wieder.
„Was immer ihr wollt, Morleen.“
„Geht hinunter zum Bach. Nehmt einen Spaten aus der Gemeinschaftshütte und bereitet meinem Mann ein Grab. Derek war ein angesehener Mann, und er war ein guter Christ. Er hat es nicht verdient, da draußen zu liegen, mit einem Pfeil im Gehirn, und den Tieren des Waldes ausgeliefert zu sein.“ Sie sprach langsam, und der Pater unterbrach sie nicht.
„Begrabt ihn direkt am Bach. Er hat das Wasser geliebt, und er hat das Fischen geliebt. Es soll ein Grab bekommen, das seiner würdig ist. Würdet Ihr das für mich tun?“
Der Pater drückt ihre Hand. „Ich werde ihn für Euch beisetzten, wie ihr wünscht.“
„Gebt Ihr mir Euer Versprechen darauf?“
„Ich verspreche es Euch.“
Morleen lächelt unter Tränen. „Danke, Pater Hendrik, vielen Dank. Ihr wisst gar nicht, was das für mich bedeutet.“
„Doch“, sagt der Pater, „das weiß ich.“
Dann geht er, doch bevor er das Schlafzimmer verlässt, spricht sie noch einmal zu ihm: „Pater!“
Er dreht sich um und blickt auf ihre traurige Gestalt hinab. Ihre Augen sind jetzt fast wieder klar, die Tränen scheinen sie rein gewaschen zu haben. In diesem Moment weiß der Pater, dass sie überleben wird.
„Und bitte entfernt den Pfeil aus seinem Kopf.“

* * *

Jetzt, wo er wieder vor ihrem Bette stand, fühlte sich der Pater nicht besser als damals.
„Guten…Abend… Pater“, sagte Morleen. Ihre Stimme war ein einziges Zittern, und sie sprach, als wären es ihre letzten Worte.
Pater Hendrik beugte sich über ihr Bett und küsste sie auf die Wange. „Heute Nacht wird alles gut, Morleen.“
Ihre Haut war blasser als die eines Toten, und auch die Augen waren bereits weiß-grau und nicht mehr so groß und rund wie einst. Liam und die Männer hatten Recht gehabt. Sie verwandelte sich bereits und würde wahrscheinlich noch vor Mitternacht ein wahrhaftiger Venkyl sein.
Der Pater setzte sich zu ihr ans Bett und legte die mit einem Bolzen bestückte Armbrust auf die Decke.
„Es….ist….soweit, Pater. Meine Zeit…ist….gekommen.“
„Psssst“, sagte der Pater. „Ihr dürft nicht soviel Sprechen. Ihr habt seit dem Tod Eures Mannes gelitten, Morleen, und das Schicksal – glücklich oder unglücklich, wie man es sehen möchte – hat entschieden, dass Ihr Eure Medizin diese Woche nicht bekommen sollt. Heute Nacht hat das Leiden ein Ende.“
„Ich….“, sagte Morleen, brachte aber keinen vollständigen Satz mehr zustande. Stattdessen stöhnte sie nur ein einziges Wort: „Rücken.“
„Euer Rücken?“, fragte er, und sie drehte sich zur Seite, sodass der Pater ihren Rücken einsehen konnte. Das weiße Nachthemd, das Morleen trug, war dort an zwei Stellen eingerissen und von dunklem Blut verfärbt. Unter dem zerfetzten Stoff kamen zwei riesige Auswüchse zum Vorschein, die den Pater an die Tumore der Wüstenpest erinnerten, deren Opfer er damals in Fairheaven geölt hatte.
„Kein Sorge, Morleen. Das werden die Flügel“, sagte er und half ihr, sich wieder ordentlich hinzulegen.
„Wisst Ihr Morleen, in wenigen Stunden wird alles vorbei sein. Und bis dahin werde ich Euch etwas erzählen. Ich werde Euch von dem Tag erzählen, an dem ich Euren Mann zu Grabe getragen habe.“

* * *

Die Sonne brennt vom Himmel, ein angenehmes Rauschen klingt vom Bach herüber, und der Wald riecht intensiv nach Tannennadeln und Pilze. Ein weiterer, weniger angenehmer Geruch mischt sich in die Nase des Paters, der mit Schweißperlen auf der Stirne über dem Erdloch steht. Es ist der Geruch des Todes und der Geruch von Gift. Es ist Venkylgestank.
Der Pater ist alleine hier draußen, und er ist es nicht freiwillig. Er fürchtet sich davor, dass eines der schrecklichen weißen Flugwesen zum Bach zurückkehren könnte, um sich ein weiteres Opfer zu schnappen. Aber er hat jemandem ein Versprechen gegeben, und – so wahr Gott helfe – er wollte kein Geistlicher mehr sein, sollte er es wagen, ein solches zu brechen.
Nein, er hat das Grab bereits vollständig ausgehoben. Alleine, versteht sich. Die Männer im Dorf brauchen nicht zu wissen, was hier unten am Bach geschieht, sie brauchen nicht zu erfahren, dass der Priester dem Toten, der hier draußen liegt und halb Mensch, halb Monster ist, ein Grab bereitet. Nichts brauchen sie zu wissen, es genügt, wenn Morleen Weed es weiß.
Der Pater wischt sich den Schweiß von der Stirn und sieht dann zu dem Toten hinüber, der wenige Meter vom Bachufer entfernt im Gras liegt. Er ist vollständig weiß geworden, und da er bereits einen Tag und eine Nacht hier draußen lag, wird er wohl auch schon steif wie ein Stück Holz sein. Der Pater will das hier schnell hinter sich bringen.
Er stößt den Spaten in die feuchte Wiese neben dem Loch und geht zu dem Toten hinüber. Pater Hendrik hat schon viele Tote gesehen, ja selbst für einen Priester viel zu viele, und so ekelt er sich kein Bisschen vor dem Wesen, das da vor ihm liegt. Er packt Dereks Leiche an den Knöcheln, die ein brechendes Geräusch von sich geben, und schleift ihn durch das Gras bis zu der Stelle, an der er das Loch gegraben hat. Der Mann ist schwer, doch der Pater ist ein kräftiger Kerl, und so befördert er den Leichnam schließlich in sein Grab.
Schon will er damit beginnen, den Erdhaufen, den er neben dem Loch aufgeschüttet hat, abzutragen, und die Erde schaufelweise auf den Toten zu schütten, da erinnert er sich plötzlich an die Worte Morleens.
„Und bitte entfernt den Pfeil aus seinem Kopf.“
Verdammt, denkt der Pater, ringt sich dann aber doch dazu durch, selbst ins Grab zu steigen. Er greift nach Dereks Kopf, dreht in zur Seite. Wieder ertönt das Geräusch brechender Knochen, doch Pater Hendrik weiß, dass es nicht die Knochen sind, sondern nur der erstarrte Leib, der diese Geräusche versucht.
Da steckt er, der Pfeil, der Derek vor einem ewigen Leben als Venkyl bewahrt hat. Er steckt nicht sehr tief im Kopf, doch als der Pater den Schaft des Geschosses ergreift und daran zieht, will er sich nicht lösen. Er umschließt den Pfeil mit seiner Faust, doch er muss Acht geben, dass er nicht abbricht, er will ihn als ganzes Stück herausziehen, damit Derek in Frieden ruhen und Morleen in Frieden leben kann.
Plötzlich löst sich der Pfeil aus dem Schädelknochen, die Hand des Paters rutscht ab und dann geschieht es.
Niemand außer dem Pater selbst sieht, wie sich die blutige, scharfe Klinge des Pfeils, an der noch Blut und Gewebe des toten Venkyls klebt, in die Handfläche des Paters schneidet. Kein Mensch und kein Tier ist Zeuge, wie sich das giftige, verpestete Blut des toten Dereks mit dem reinen, christlichen Blut des Priesters vermengt. Kein Vogel singt, als das schwache aber immer noch vorhandene Gift durch eine Schnittwunde in der Hand in die Blutbahnen des Paters gelangt. Kein Fisch springt vergnügt im Wasser, als Pater Hendriks Leben sich von einer Sekunde auf die andere verändert.
„Aua!“, flucht der Priester. Erst nach und nach wird ihm bewusst werden, was gerade geschah:
In ein paar Sekunden wird er merken, was geschehen ist.
In ein paar Minuten werden die Keime des Bösen sich vollständig in seinem Körper verbreitet haben.
In ein paar Stunden wird er zu Hause in seiner Hütte sitzen, und er wird sich ausrechnen, dass das Gift nicht mehr sehr stark sein kann, da der Venkyl noch zur Hälfte Mensch, und außerdem bereits tot war. Er wird sich darüber hinaus bewusst werden, dass er es nicht so schlimm erwischt hat, wie Morleen Weed, aber wird außerdem wissen, dass auch er ab jetzt regelmäßig Medizin brauchte. Regelmäßiges Gegengift, um die Keime in seinem Körper in Zaum zu halten. Andernfalls wird er sich verwandeln – nur langsam, und nicht so schmerzvoll wie Morleen Weed, aber letzten Endes doch vollständig.
In ein paar Tagen wird er nach Saintville gehen, und er wird mit Elaine reden. Er wird der Tochter des Dorfschmieds jede Woche einen Taler zahlen, wenn sie von der Medizin, die sie ihrer Tante Morleen bringt, jedes Mal einen kleinen Schluck in ein Fläschchen füllt, und dieses im Wald versteckt. Da, wo der Pater es finden kann. Sie wird die Einzige sein, die es je erfahren soll.
Was der Pater nicht weiß, ist die traurige Tatsache, dass die Bewohner Saintvilles eines Nachts auf grausame Art und Weise ausgerottet werden. Dass Elaine Slaught eines Nachts kein Herz mehr unter ihrem einst prächtigen Busen tragen wird. Dass sie wie so viele andere Bewohner Saintvilles in einem Schlachtfeld aus Rot und Weiß im Schnee liegen wird – tot, für immer, nie wieder fähig, Medizin ins Nachbarsdorf Strongwall zu bringen.
Das alles weiß der Pater nicht, er wird es erst Jahre später merken, als er zu dem vereinbarten Plätzchen im Wald geht, und ein Fläschchen findet, das leer ist, anstatt wie sonst mit Medizin befüllt.

* * *

„Ihr….Ihr seid….“
„..ebenfalls infiziert, ja, meine Schöne, und wie es aussieht bin ich ebenfalls dazu verdammt, mich in einen Venkyl zu verwandeln.“
Der Pater lächelte. „Wisst Ihr, als Geistlicher lernt man schnell, die Dinge zu akzeptieren wie sie sind, und sich nicht gegen Unaufhaltsames zu sträuben. Das Schicksal hat uns beiden unsere Medizin verwehrt – dann soll es so sein. Während Ihr schon beinahe vollständig verwandelt seid, wird es bei mir noch Tage, vielleicht auch Wochen dauern. Doch ich kann bereits die Instinkte des Wesens in mir spüren, das mich befallen hat. Und die Instinkte sagen, ich will leben.“
„Auch…“, sagte das Ding, das einmal Morleen Weed gewesen war. Die weiß verfärbte Haut war teilweise abgefallen – darunter kamen grauen Schuppen zum Vorschein. Die Augen hatten sich zu kleinen, weißen Schlitzen verengt, die Haare mitsamt der menschlichen Kopfhaut vom Schädel gelöst.
„Ja“, sagte der Pater. „Ihr auch.“
Er griff nach der Armbrust, die immer noch auf der Decke ruhte. Ein Schnalzen ertönte, und dem Pater wurde bewusst, dass es das Reißen von Haut war. Das Morleen-Ding richtete ihren Oberkörper auf. An ihrem Rücken durchschlugen Flügeln die Haut und erfüllten den Raum. Der Pater stand auf und wich zurück.
Das Monster, das ein helles Nachthemd übergestreift hatte, das an allen möglichen Stellen gerissen war, erhob sich aus dem Bett.
„Ihr seid so schön, Morleen. Wollt Ihr mit mir zusammen fliehen? In den Bergen gibt es noch Orte, wo Geschöpfe wie Ihr und ich einen Platz zum Leben finden. Ich denke, für Venkyle gelten die Gesetze der Kirche nicht.“
Das auf eine Größe von beinahe zwei Metern herangewachsene Wesen gab keine Antwort. Stattdessen reichte es dem Pater die mit Klauen besetzte Hand. Pater Hendrik ergriff sie. „Ist das ein Ja?“
Die Venkyl-Dame gab ein Heulen von sich.
Sie schritten in die Küche, und das Wesen musste seine Flügel zusammenfalten, um durch den Türrahmen zu passen.
„Kommt, meine Schöne. Lasst uns drei Bolzen an drei Männer verteilen.“
Mit diesen Worten stieß der Pater die Türe nach draußen auf, und die Venkyl-Dame folgte ihm.

© 2005 Markus Böhme

 

Hallo,

Die Sonne ging allmählich auf und verbannte das Dunkel der Nacht für einen weiteren langen Tag aus Strongwall. Der gelb-leuchtende Lichtball kam über den dichten Tannen des Waldes zum Vorschein, und seine Strahlen spiegelten sich im frischen Schnee. Sie blendeten die weißhaarige alte Frau, die aus dem Fenster ihrer Hütte blickte.
Ja. Der erste Absatz. Also inhaltlich ist das gar nix. Die Sonne geht auf, es hat geschneit, eine alte Frau guckt aus dem Fenster. Was ist das denn für ein Anfang?
Also wird versucht, mit Stilmitteln den Leser bei der Stange zu halten.
Die Sonne geht nicht auf, sondern der gelb-leuchtende Lichtball kommt allmählich zum Vorschein und verbannt das Dunkel der Nacht für einen weiteren langen Tag.

Herrje! Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen, was das für ein Schmus is. Also tschuldigung.
Mal der Reihe nach.

„Die Sonne ging allmählich auf“. Okay.
„und verbannte das Dunkel der Nacht für einen weiteren langen Tag aus Strongwall“. Wofür braucht es hier „das Dunkel“ – warum nicht einfach: die Nacht.
„der gelb-leuchtende Lichtball“ – geht mal echt gar nicht
„Kam über den dichten Tannen des Waldes“ – warum nicht einfach Tannenwald?
„Sie blendeten die weißhaarige alte Frau“ – Greisin?

Tage, an denen die Schmerzen sich auf den physischen Teil ihres Körpers beschränkten
Ein Körper hat per Definition nur physische Teile.

an denen sie ihrer Depression entfliehen konnte
Und hier wäre statt Depression so eine Metapher angebracht. Schwermut, irgendwas mit Schwermut.

und jede Bewegung zu einer schieren Unmöglichkeit machten
Hö? Und jede Bewegung unmöglich machten?

aus seinem winterlich-friedlichen Schlaf
Das „friedlich“ braucht’s hier nicht.

und ihre Familien, weil sie ihren Ehemännern und Vätern nahe sein wollten.
Ihren/ihren – 1. zu nem deren

Wer in Strongwall lebte, musste sich mit einem minimalistischen Lebensstil begnügen
Mäh, die Erzählstimme passt nicht zum Szenario. Holzfällerdorf und dann „Impulse, Depressionen, minimalistisch“. Da lassen sich auf Anhieb bessere Wörter finden.

Ja, sorry. 4 Jahre alte Geschichte, da hab ich jetzt auch keinen Nerv mehr, groß weiter zu machen. Ich hoffe, was mich am Stil gestört hat, ist rausgekommen.
Erzähltechnisch … also irgendnen Hook sollte der Anfang einer Kurzgeschichte idealerweise schon haben, ja, gut, man hat hier diesen Konflikt der Frau, die Schmerzen hat, aber zum Weiterlesen reicht mir das jetzt nicht unbedingt. Es wird eine Situation beschrieben, ein Szenario. Das kann man ja alles machen, aber bei so angelegten Geschichten, ist mir ein direkter Einstieg allemal lieber.

Gruß
Quinn

 

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