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Patria o muerte, oder so
Mein Vater war ein kluger Mann. Er sagte einst zu mir: "Du kannst saufen, soviel wie du willst, nur fang niemals mit dem Rauchen an. Denn Rauchen ist des Teufels." Er sprach zwar von Zigaretten, aber sein Rat traf auch auf dieses Zeug zu, dass ich seit meiner Ankunft in Los Angeles täglich konsumierte.
"Selbst angebaut", meinte Linda, als sie mir das erste Mal etwas reichte. Aber es schmeckte nach nichts, flau, merkwürdig leer, nichtssagend. Vielleicht lag es an der Salzluft, am ausbleibenden Winter oder einfach nur an der Erde, die nicht stimmte, hier in L.A.
Obwohl ich bald feststellte, dass diese Hippie-Kommune nichts für mich war, entschied ich mich dennoch zu bleiben. Eine billigere Unterkunft würde ich so schnell nicht finden, zudem waren die Frauen hübsch und die Männer freundlich. Doch insgeheim wusste ich, sie machten einen Fehler. Sie sprachen von Gleichheit, Brüderlichkeit, Befreiung, Revolution, Liebe, aber sie hatten keine Ahnung, worum es wirklich ging. Einmal küsste ich Linda und ihr Freund Bill überraschte uns. Keine Eifersucht, kein Zorn und auch keine Leidenschaft flammte in seinen Augen. Nur ein Lächeln, ein Nicken, dann ging er weiter. Ich fühlte mich seltsam dabei. Ich meine, ich hätte jeden Kerl umgebracht, der meine Freundin auch nur ansah, so gierig ansah, wie ich es vom ersten Abend an getan hatte. L.A. ist anders, sagte ich mir.
Eigentlich wollte ich aufs MIT, Anthropologie studieren. Vorher nur den Sommer in Kalifornien verbringen. Ich hatte ein Stipendium erhalten, eine jener Goodwill-Förderungen, die das MIT jedes Jahr an ausländische Studenten vergibt. Als der Brief kam, war ich der Held meiner Familie. Als ich nach L. A. kam, schlief ich erst mal zwei Nächte am Strand.
Dann traf ich Linda. Sie verkaufte selbstgebackenes Brot. Weil ich kein Geld hatte, schenkte sie mir eines und nahm mich auch gleich mit in die Kommune. Arbeitete dort tagsüber auf den Feldern und diskutierte abends über die Revolution.
Was sie nicht begreifen wollten, diese wohlgenährten amerikanischen Kinder, denen es niemals an etwas mangelte - außer vielleicht an Liebe, und von der verstanden sie sowieso nichts -, war, wie schlecht es den Brüdern und Schwestern in Mexiko wirklich ging.
"Die Revolution ist keine nette Freizeitbeschäftigung, nichts, was wir uns aussuchen könnten!" erklärte ich ihnen in einer meiner flammenden Reden, als wir am Lagerfeuer saßen und Dylan-Songs sangen. "Wir haben keine Wahl - sie muss einfach kommen. Weil wir sonst untergehen. Weil sonst die Reichen noch reicher werden und uns, das geschundene Volk, bis auf die Knochen ausweiden. So wie sie uns jetzt ausschlachten."
Da sah mich Linda bewundernd an und ich holte zum Finale aus. "So wie sie es seit Jahrhunderten tun, seit die Conquistadores über das Land der Azteken herfielen und unschuldige indianische Bauern meuchelten."
Ich hatte Recht. Die Revolution musste kommen. Weil sonst nichts mehr von uns übrig bliebe als dünne, stumme Schatten unserer selbst.
Nachts darauf träumte ich, ich stände mitten in der mexikanischen Wüste, zwischen Kakteen und zwei Bolivianern. Mit nur einem riesigen Satz sprang ich auf die Pyramide von Uxmal und hob ganz Chicén Itza in die Wolken. Da schoss plötzlich ein Lichtstrahl aus dem schwarzen Himmel. Und ich wusste, ich werde erhört.
"Heilige Jungfrau von Guadelupe!" flehte ich auf Knien. "Sende noch einmal einen Zapata. Oder einen Guevara! Oder einen -" Mir fiel der Name nicht ein. Aber was spielte das schon für eine Rolle?
"Dann gründen wir ein Befreiungsheer, eine Armee der einst Schwachen und Wehrlosen!" versprach ich dem Licht, das gütig lächelte und so heilig wie es gekommen war, wieder entschwand.
"Oder ein Allende!" schrie ich dem Licht hinterher und wälzte mich die restliche Nacht schweißgebadet. Ein Allende täte es auch, dachte ich immer und immer wieder, friedlich, besonnen, ohne die Erde mit noch mehr Blut zu tränken. Er war der Richtige. Er gab dem Volk, was dem Volk gehörte. Er erklärte gierigen Großgrundbesitzern den Prozess. Ja, ein Allende wäre der Retter des gequälten Volkes. Dann würden unsere Kinder in Freiheit geboren, in einem stolzen Mexiko, im Land der Maya und Azteken, Heimat von Tlaxcala, Cholula und Teothiuaca. Warum war mir nur der Name nicht eingefallen?
"Vielleicht werde ich ja mal der mexikanische Allende sein", sagte ich später zu Linda, um sie zu beeindrucken. Doch ich konnte meinen Vater lächeln sehen. Nein, schüttelte er den Kopf, das ist nichts für dich, überlass die Politik besser den anderen.
Doch Linda glaubte an mich.
"Du musst deine Botschaft hinaus schreien", sagte sie eines Abends, als sie am Strand in meinen Armen lag und ihr langes, dunkles Haar wie schimmernde Seide ihren zarten Körper umrahmte. Ein Engel, dachte ich, ich bin in der Stadt der Engel. Da schloss ich die Augen und sah sie fliegen, weit über das Meer, über die Berge, über die Wolken, in die brennende Sonne hinein, die ihr kein Haar krümmte, sondern sie umarmte, ihre Tochter, und sie sanft in ein Nest aus Sternen und rubinroten Träumen bettete.
"Ich will dich malen", flüsterte ich ihr ins Ohr. Sie kicherte leise. "Eine ganze Wand will ich mit deiner Schönheit schmücken, mi corazón."
Doch da sprang Linda wütend auf. "Es geht hier nicht um dich und mich!" rief sie tobend, ganz atemlos. "Es geht um mehr. Es geht um – la revolucion!" Sie warf ihre Arme gen Himmel, den Kopf wütend in den Nacken. Und hinter ihr leuchtete das Mondlicht, silbrigweiß fing es sich in dem schweren Amulett, das sie an einem Rosenkranz gebunden um ihren nackten Leib trug. Wie eine Heilige stand sie vor mir, eine wahre Erleuchtung. Von da an glaubte auch ich. Denn Linda besaß die Weisheit, den Weitblick, an dem es mir bisher gemangelt hatte.
Auf einem Spaziergang entdeckte ich sie dann, die Wand eines Lagerhauses. Kalkweiß, wie die getünchten Mauern Mexikos, nur größer, höher, erhabener. Das war der Ort, würdig genug, um diesem Volk, seiner Geschichte, unserer Zukunft ein Denkmal zu setzen.
Aufgaben fallen leichter, wenn man nur über genügend Entschlossenheit verfügt. Zudem mir Maria Mutter Gottes seit jener Nacht wohlgesonnen war. Denn der Besitzer des Lagerhauses war ein Kamerad und auch er wollte seinen Teil zur Revolution beitragen.
"Nur ein kleiner Teil", räumte er ein. Doch ich klopfte ihm auf die Schulter, nannte ihn einen hombre heroico y honorifico. Gemeinsam machten wir uns an den Entwurf. Ein Fest für Mexiko sollte unser Wandgemälde werden, und eine Botschaft an die Welt.
"Patria o muerte!" feuerten wir später gemeinsam die Hippies aus der Kommune an, die mit Farbeimern und Leitern angerückt waren, um sich ganz in den Dienst der Revolution zu stellen. Einen Monat lang, Tag für Tag, zogen wir so zu dem Lagerhaus, tranken Tequilla, aßen Hamburger, tranken Mescal, aßen Taccos, tranken Tequilla, aßen Marshmallows, rauchten dieses Zeug in Massen und feierten nebenbei den Beginn eines neuen Zeitalters. Nicht des Wassermanns. Mars sollte der Herrscher sein.
"Oder Lenin", schlug mein Kamerad, der Lagerbesitzer vor, während wir das Werk der Hippies begutachteten.
"Oder Rudi", warf ich ein. "Oder Rainer!"
"Fritz, Fritz", sang mein Kamerad und wechselte plötzlich zu einem barschen Tonfall. "Hey du da!" Er stupste einen der Hippies an. "Ein bisschen mehr Rot für die mexikanische Flagge, caramba!"
Linda bestand auf ein Portrait von Frida Kahlo und ich bestand auf ein Portrait von Linda und mir, vor Frieda Kahlo. Selbstverständlich malte ich nicht selbst. Schließlich würde ich bald Führer einer neuen Revolution sein. Da konnte ich mich nicht mit Farbe bekleckern. Nur ein bisschen legte ich Hand an, am Schnurrbart von Zapata.
"Ich werde nicht auf meinen Vater hören!" versprach ich dem fertigen Gemälde, obwohl es wusste, dass er ein kluger Mann war. "Ich werde die Zukunft Mexikos selbst in die Hand nehmen und in die Hände meiner Kameraden legen." Linda schmiegte sich an mich. Das war unser letzter gemeinsamer Abend. Morgen wollte ich nach Mexiko aufbrechen. Was für einen besseren Ort gab es für unseren Abschied als hier, vor dem Pamphlet für die Freiheit?
"Denn wir sind die Kämpfer der Unterdrückten, die Verkünder der Befreiung!" rief ich in die Nacht und schwenkte die Flasche Mescal. "Wir sind die Soldaten Moctezumas, seine Rache! Wir sind Zapatistas Armee. So wie es damals war, so wie es sein wird."
"Ruhe!" brüllte jemand ein paar Häuser weiter, doch es war mir egal. Meine Arbeit war getan.
Ich ging dann doch ans MIT und kehrte nach zwei Semestern nach Deutschland zurück, um weiter Spanisch und Musikwissenschaften auf Lehramt zu studieren. Mein Vater fand die Idee nicht besonders lustig, Revolutionär in Mexico zu werden. Was mich nicht weiter gejuckt hätte, wäre nicht der Scheck ausgeblieben.
Aber in dem Moment, als ich aufhörte, dieses Zeug von Linda zu rauchen, sah ich sowieso wesentlich klarer. Doch in meinem Herzen bin ich noch immer Mexikaner. Oder Kubaner. Oder Chilene. Oder whatever.
Venceremos!
[Beitrag editiert von: Endorphina am 31.03.2002 um 00:46]