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Porphyra
Die Wörter waren Kerzenständer, Teebeutel, Rotalge, Wüste, trauern
„Wenn ich dich anschaue, sehe ich Porphyra vor mir.“
Seth dachte in Worten.
Das tat er, seit sie sich kennen gelernt hatten. Immer dann, wenn sie ihren Gefühlen folgten und sie nicht mehr tun konnte, als ihre Augen weit zu öffnen und ihre Ohren zu schärfen.
Wie oft in den letzten vier Wochen hatte sie den hellen Himmel über sich gesehen, während er mehr zu sich als zu ihr sprach. Wie oft hatte sie gedacht, hatte gehofft, etwas hinter diesen Gedanken zu erkennen – etwas, das ihr Aufschluss darüber geben könnte, wie sein Leben vor dem Ende verlaufen war.
Oder einen Hinweis darauf, warum ausgerechnet sie sich als die anscheinend letzten Menschen getroffen hatten.
„Porphyra?“, stieß sie hervor und keuchte auf, da die Hitze ihre Haut streichelte.
Seth antwortete nicht. Er konzentrierte sich zu sehr auf das, was sie gestern in der Ruine gefunden hatten und handhabte es mit großem Geschick.
Das Gebäude hatte in der Hitze geflimmert und Saliha hatte es zuerst tatsächlich für eine Einbildung gehalten. Doch es war da gewesen.
Altes Holz, ein Skelett in Wellblechhaut, das dem schon längst erfolgten Ende zu trotzen schien. Es beschützte nicht mehr als einen Raum und sie beide hatten nach den Überresten der Bewohner gesucht.
Auch hier schien nichts übrig geblieben zu sein.
Seth hatte angefangen, die Reste zu durchsuchen und nachdem sie in den Trümmern nichts gefunden hatten, hatten sie ihre Suche auf die nähere Umgebung ausgeweitet. Bald hatten sie den Vorratskeller entdeckt, in welchem sie neben Konserven, Wasserkanistern und menschlichem Tand dieses besondere Ding gefunden hatten, welches nun heiß über ihren Körper wanderte.
Sie hatten Wasser und Nahrung an sich genommen, ihren Fund eingesteckt und beiden war schon bei dem Anblick ein Schauer über den Rücken gelaufen. Zusammengenommen entstand dieses Gefühl aus Geben, aus Nehmen und einer gemeinsamen Empfindung des Schicksals, auch wenn sie sich des letzten noch nicht bewusst waren und es mehr einer Vorahnung von Regen glich, dem sich Pflanzen, Tiere und diese letzten beiden Menschen unbewusst entgegenstreckten.
Seitdem gehörte dieses Ding zu ihnen und mit diesem Tag entschied sich Sinn und Schicksal der letzten Menschen.
„Porphyra?“, fragte sie erneut, als sie beide unter den wenigen nackten Hölzern, die ein Dach bilden sollten, zur Ruhe gekommen waren.
Die Nacht kauerte unweit ihres Feuers.
„Porphyra, ja“, antwortete Seth. „Du weißt nicht, was das ist?“
„Nein.“
„Porphyra ist eine Rotalge, die damals an unseren Küsten vorkam. Wahrscheinlich immer noch vorkommt.“ Er schien zurück zu blicken.
Saliha musste lächeln. Es war erstaunlich, wie schnell sie beide das Wort ‚damals’ als Begriff für etwas akzeptiert hatten, das an sich noch nicht einmal sechs Wochen her war.
Seth fuhr sich mit den Fingern durch sein dichtes, schwarzes Haar und erzählte weiter.
„Ich nenne es Nori, das ist das japanische Wort dafür; dort drüben kam es auch recht zahlreich vor. Rotalge ist eigentlich auch der falsche Begriff, denn unter Wasser hat es mehr eine purpurne Farbe. Aber heller, beinahe wie Haut. Es fühlt sich ganz samten an. Wenn es in der Strömung nahe der Küste tanzt, ist es ganz weich und sehr ... anmutig.“
Wieder musste Saliha lächeln. Es war sehr schön, ihn so reden zu hören. „Es muss dir etwas bedeutet haben.“
„Nun, eigentlich war es nicht mehr als ein Vitaminlieferant für uns. Aber Nori hat etwas. Es hat eine besondere Art, sich zu bewegen. Manchmal sehe ich es in dir.“
„Ich weiß. Ich habe dich denken gehört.“
Seth nickte geistesabwesend. „Es ist nur schön, wenn es unter Wasser ist.“
Mehr sprachen sie nicht mehr. Während das Feuer nieder brannte, schliefen sie Arm in Arm ein. Das besondere Ding, welches sie in den Ruinen gefunden hatten, lag neben ihnen und schimmerte leicht im Schein der Flammen.
Seit einigen Tagen war Wüste um sie. Das Leben war hart, aber sie hatten es bis hier geschafft. Was eigentlich unwichtig war, denn Seth tat es in diesem Moment wieder. Mit diesem besonderen Ding hier, das eines der wenigen Artefakte war, die von der bekannten Welt übrig geblieben waren.
Warum nur so etwas? War da mehr ... Bedeutung?
Saliha spürte die derben Stricke um ihre Handgelenke, um die schlanken Fesseln ihrer Füße und versuchte, sich gegen sie zu wehren. Und dann berührte sie wieder das heiße Wachs, welches von den sieben Leuchtern des Kerzenhalters - ihres teuren Artefakts - tropfte; all ihre Muskeln zogen sich zusammen, und die Gedanken vergingen. Sie spürte den kurzen, scharfen Schmerz, wollte Arme und Beine gegen die Stricke bewegen, konnte es nicht und versuchte es doch wieder, einfach, weil es ihr, ihnen Spaß bereitete. Und weil es sie von den Gedanken über die Einsamkeit in dieser seltsamen neuen Welt fortführte.
Seth führte mit ihr einen nicht enden wollenden Dialog und in einem kurzem Moment erkannte sie, dass sie dabei nie über die alte Welt redeten, nie reden mussten, denn es fehlte ihnen in diesen Augenblicken an nichts. Er weitete langsam das Spielfeld in Breite und Tiefe und führte dabei den Kerzenständer mit immensem Geschick. Während Lippen sich erkundeten, lief die Sonne ihre Bahn ab und es war ihr vollkommen egal, was die Menschheit dort unten je veranstaltet hatte und was aus ihr werden würde. Das lag in der Hand von zwei Menschen, die zu diesem Zeitpunkt mit menschlicheren Dingen beschäftigt waren. Und genau das passte nicht in den Spielplan, der von einer viel größeren Macht ausgedacht worden und seit Jahrtausenden hier gespielt worden war.
Die Wüste schien endlos und Saliha und Seth litten unter den heißen Tagen und den kalten Nächten. Die Spiele und der Sex wärmten die Nächte auf, doch langfristig mehr den Geist als den Körper und so zitterten sie sich oft in den Schlaf.
Seit dem Ende hatten sie keine Menschen mehr gesehen und auch dieser Morgen hatte die leere Weite der Landschaft in samtrotes Licht getaucht. Der Gedanke daran war verwirrend, denn die einzige Tatsache, die sie begriffen, war, dass sie tatsächlich die einzigen Menschen zu sein schienen, die hatten bleiben dürfen.
Saliha hatte nie an Götter geglaubt, hatte Schicksal immer als eine in Form gepresste, religiöse Version des Zufalls betrachtet und war sich sicher gewesen, dass Leben und Sterben, wenn nicht durch Zufall beeinflusst, mehr oder weniger in ihrer eigenen Hand lägen.
Mit den letzten Wochen wurde ihr Atheismus zu einem Kampf. Es hatte keinen großen Knall gegeben, keine Kontinente übergreifende Supergrippe oder andere Katastrophen. Aber es fehlten die Menschen. Von heute auf morgen. Überall. Doch es war Zufall. Sie konnte nicht von sich behaupten, das alles zu verstehen.
Sonst wäre es auch nicht ein verdammter Zufall, oder?
Es war einer. Was sonst hätte ihr Zusammentreffen gewollt?
Sie waren beide aus verschiedenen Städten geflüchtet. Keiner von ihnen hatte bewusst darüber nachgedacht, aber hier – in der weiten Einsamkeit der Wüste – war ihr bewusst geworden, wie logisch und notwendig diese Flucht gewesen war. Hier draußen war es in Ordnung, war es normal, einsam zu sein. In den Metropolen der alten Welt tat es dem Geist zu sehr weh, die zahllosen Behausungen zu sehen und zu wissen, dass sie alle leer waren.
Ihre Gedanken verwirrten, taten weh und schon fühlte sie wieder den Wunsch nach ihrem Artefakt, an die Stricke und den weiten blauen Himmel über ihrem wehrlosen Körper aufsteigen. Sich hingeben bedeutete mehr denn je Entspannung. Und Loslösung von diesen gemeinen Zweifeln.
Unbewusst rieb Saliha ihre Handgelenke, als Seth sprach.
„Da muss Wasser sein.“
„Was ist?“
Seth deutete auf eine große Ansammlung von Bäumen, die in der Nähe einiger niedriger Felsen beieinander standen.
„Wasser. Wir haben nicht mehr viel. Außerdem gibt es da vielleicht Früchte.“
Sie sah ihn an. Zu rasten kam ihr gerade recht.
„Okay, lass uns hingehen.“
Er sah sie an und grinste. „Da gibt es sicher Wasser. Bäume in der Wüste klingt für mich wie Oase. Und da gibt es doch immer Wasser.“
Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. „Deinen Sarkasmus kannst du für dich behalten.“
Seth lachte, wandte sich von ihr ab und stapfte auf seine Entdeckung zu. Saliha sah vier der sieben Arme des Kerzenleuchters aus seinem Rucksack ragen und folgte ihm. Kurz darauf fühlte sie den warmen Sand unter sich und hatte das leise Rauschen der Quelle in den Ohren. Siebenmal flammte Seths Feuerzeug auf und dann war wieder der weite Himmel über ihr.
Porphyra lag in der Luft.
„Lass uns einige Tage hier bleiben.“
„Ja?“ Seth sah sie mit müden Augen an. Hinter ihm schmolz der Sand in der untergehenden Sonne zusammen.
„Nun“, sagte Saliha und zog ihn zu sich heran, „hier haben wir Wasser und die von dir vorhergesagten Früchte. Außerdem ist genug Holz da. Und ... wo sollen wir sonst hin?“
Er drängte sich an sie und rollte sich zusammen. Sie genoss die Wärme seines Körpers. Es war noch immer erstaunlich, wie schnell die Temperatur absank, wenn die Sonne verschwand.
„Das stimmt“, murmelte er. „Wo sollen wir sonst hin?“
Während er in ihren Armen einschlief, lag Saliha noch lange wach und genoß diese Situation. Es stimmte schon, was hatten sie für ein Ziel? Die Flammen des Feuers hielten die Dunkelheit einige Schritte entfernt und gaben ein Gefühl von Behaglichkeit, zeichneten einen Bereich, den Saliha für sich als den ihren empfand. Außerhalb lag eine riesige leere Welt in der es wenig gab, das sie in diesem Moment begehrte. War es hier nicht mindestens so gut wie an jedem anderen erreichbaren Ort?
Und jene Macht spürte, dass sie eventuell eingreifen musste, um ihren Spielplan aufrecht zu halten.
„Schau, was unter dem Brot lag!“
Seth hielt die Dose in der Hand, die sie in dem Keller des verlassenen Hauses gefunden hatten.
„Was denn?“ Saliha war noch nicht richtig wach, befand sich noch in einem Durcheinander aus Halbträumen.
„Tee, Saliha, Teebeutel. Klasse!”
Sie richtete sich verwirrt auf. „Teebeutel? Was zur Hölle ist so klasse daran?“
Seth grinste ihr ins Gesicht. „Na, wie kann man sein neues Zuhause wohl besser begrüßen, als mit einem frisch aufgebrühten Tee?“
„Zuhause?“ Sie fuhr sich über die Augen und sah ihn an. „Meinst du, du willst auch hier bleiben?“
„Ja, erst einmal schon. Wie gesagt, wo sollen wir sonst hin?“
Er lacht kurz und hell auf und Saliha liebte ihn dafür. Dann schürte er die Reste des Feuers und hantierte mit dem Topf, der ebenfalls zu ihrer Ausbeute gehörte. Sie sah es, drehte sich noch einmal auf die andere Seite. So hatte sie es sich gewünscht.
Kurze Zeit später brachte er ihr eine Tasse Tee und setzte sich neben sie.
Saliha nippte an dem heißen Getränk und konzentrierte sich auf den Geschmack. Er war etwas Besonderes, begrüßte sie doch so diesen Flecken Erde.
„Habt ihr Porphyra auch als Tee getrunken?“
„Porphyra? Nein, habe ich mal probiert, aber das schmeckt einfach nur salzig. Im Prinzip war Porphyra so eine Art Salat oder, wenn du so willst, Gemüse.“
Saliha legte ihren Kopf auf seine überkreuzten Beine.
„Warum erinnere ich dich daran?“
Er fuhr ihr mit der Hand durch ihr krauses Haar und lächelte sie an.
„Nun, wie ich gesagt habe. Es tanzt unter Wasser – und es lebt. Es sieht aus, als genieße es das Wasser um sich herum. Als lebe es dafür, dort zu gedeihen und uns ... na ja, Gutes zu tun, wenn wir es ernten und essen.“ Er hielt inne, legte die Hand an die Stirn, als dächte er nach. „Es ist so wie du bist, wenn wir es tun.“ Bei den Worten lächelte er wieder und fasste mit der Hand hin zu seinem Rucksack, aus dem wieder die Arme des Leuchters heraus ragten.
Sie folgte seiner Bewegung. „Was bedeutet das für dich?“
„Der Leuchter?“, fragte er. Saliha nickte.
Seth nahm sich einen Moment Zeit, trank seine Tasse leer und stellte sie beiseite.
„Ich hoffe, du denkst nicht, ich mach das nur, um dir weh zu tun.“
Sie schüttelte den Kopf.
Er nickte. „Das habe ich auch nicht erwartet. Weißt Du, früher habe ich einige derbe Sachen gemacht – in solchen Klubs.“ Sie nickte wieder. Auch sie war an solchen Orten gewesen.
„Das war seltsam. Nie besonders schön. Wenn ich da war, habe ich für die Zeit irgendwie ... abgeschaltet. Das war halt nur, um zu ficken und weh zu tun.“ Er lachte trocken auf. „Klar bin ich dabei auch gekommen, aber es war unschön, es war stumpf. Weiß nicht, wie du das als Frau empfindest, aber dieses stumpfe Kommen geht immer. Und man geht immer wieder hin.“
Saliha nickte wieder. Dumpfes Kommen kannte sie. Irgend ein Autor, den sie mal gelesen hatte, hatte es als grimmigen Orgasmus bezeichnet und das passte ihrer Meinung nach sehr gut. Die Gesichter der vielen Leute, die in dem Moment über ihr waren und in deren Mimik sie das Gleiche hatte erkennen können. Wenn ihr die Fesseln an ihren Gelenken mit einem Mal unangenehm waren. Es war ein gemeinsames Ding, zu dem man den anderen brauchte, aber letztendlich war man von seinem Partner fast immer ein halbes Universum entfernt gewesen.
Er fuhr fort: „Nachts habe ich mehr als einmal wach gelegen und überlegt, warum ich mir diese Scheiße antue. Weißt Du, wenn man dann kommt, ist der andere immer Welten weit weg.“
Genau so ist es.
Seth nahm ihren Kopf zwischen die Hände und ließ sie sanft an ihren Wangen liegen. „Weißt du noch, der erste Abend?“
Der erste Abend war seltsam anrührend gewesen. Saliha hatte gespürt, dass sie beide voneinander wussten, was sie mochten und wollten. Schon damals hatte er die Stricke aus seinem Rucksack hervorgeholt und schon damals war es ganz anders als jemals zuvor gewesen. Ihre Welten hatten sich nicht nur kurz berührt, um vor dem Höhepunkt wieder die gemeinsame Dimension zu wechseln.
Seth lachte, als er ihren Blick traf. „Du erinnerst Dich.“
Er fasste sie unter den Armen, ließ sich nach hinten fallen und zog sie mit sich, so, dass sie halb auf ihm lag und sie wehrte sich lachend. Dann umfasste er sie mit den Armen und sie lag still darin. Sein Mund war nah an ihrem rechten Ohr.
„Weißt Du, es ist ein seltsames Geschick, dass ausgerechnet wir uns getroffen haben.“
Dass ausgerechnet wir die letzen sind, wollte sie sagen, unterließ es dann aber.
„Ich habe immer nach jemandem gesucht, der so ist wie du. Du hast auch nach mir gesucht, nicht wahr?“ Seine Lippen berührten ihren Hals. Sie nickte und spürte die Gänsehaut sehr deutlich.
Er streichelte ihren Körper und ließ seine Hand langsam zur Mitte gleiten. „Als wir den Kerzenleuchter gefunden haben, erschien er mir einfach richtig für unsere Situation.“
Ja.
„Und jetzt gehört er zu uns.“
Das tut er.
„Wie das Wasser der Quelle.“
Aye.
„Wie der Himmel zur Erde.“
So ist es.
Porphyra.
Später am Tag kam Seth noch einmal auf das Thema zurück.
Sie hatten Holz geschlagen und Saliha dankte für das Beil, welches sie im Keller gefunden hatten. Gemeinsam waren sie dabei, eine Unterkunft zu errichten, die ihren einfachen Ansprüchen gerecht werden würde.
Mittags legten sie eine Pause ein, brühten noch etwas Tee auf und aßen einige Früchte.
„Es hilft mir, die ganze Scheiße zu vergessen.“
„Hm?“ Saliha sah ihn an und genoss den Anblick des Fruchtsafts, der ihm über die Lippen lief.
Seth warf den Rest seines Essens beiseite, fuhr mit der Hand über den Mund und sah sie mit seinen tiefen Augen an.
„Fast alles, was ich spüre, wenn wir es tun, ist die Freude daran. Aber es hilft mir, zu vergessen, dass wir beide anscheinend auserwählt sind. Denn davor habe ich Angst.“
Sie sah ihn lange an.
Er fühlte es auch. Dieses Gefühl – und er flüchtete auf die gleiche Weise. Aber - auserwählt?
Er wischte sich über die Augen. Unsicher.
„Wenn ich über dir bin und du wehrlos, habe ich das Gefühl, etwas in der Hand zu haben. Und ich gebe dann gerne, denn ich kann das kontrollieren, die Situation, einen kurzen Moment lang habe ich ...“ Sie fuhr ihm leicht über die Lippen. „Ruhig. Es ist nicht anders bei mir. Du gibst Sicherheit und ich fühle mich bei dir sicher. Vor allem, wenn wir es tun. Wir sind es, die einander festhalten. Außer uns ist da wohl nichts und niemand.“ Saliha spürte wie er sich mit dem Mund an ihre Lippen lehnte, die Bestätigung suchte und fand – und dabei kurz zitterte. Als müsste er kämpfen. Doch es war alles vollkommen in Ordnung und über Dinge wie Schicksal oder Bestimmung musste hier nicht nachgedacht werden. Dafür gab es zu oft die Momente vor dem Einschlafen.
Ihr kurzes Gespräch führte weiter und schon kurz darauf bettelte sie um den siebenarmigen Kerzenständer.
Alles war Porphyra.
Es waren Wochen vergangen. Wie viele, wusste weder Seth noch Saliha zu sagen.
Sie hatten ihre Behausung eingerichtet, so gut es ging. Seth hatte von der Quelle aus einen kleinen Kanal gebaut, der ihnen das Trink- und Waschwasser direkt in ihre Hütte brachte. Saliha hatte aus einer Schalenfrucht sogar eine Art Duschkopf gebastelt und so fühlten sie sich wie ein Königspaar. Der Gedanke weiter zu wandern war gegangen und sie gaben sich ihrem täglichen Leben hin. Das Feuerzeugbenzin war verbraucht, doch sie benutzen den Flint, denn es gab genug Brennholz, wenn sie des Nachts auf die Flammen verzichteten. Dafür gab es mehrere Lagen der langen Blätter, die sie in ihrer Oase ernteten. Wenn sie miteinander schliefen, benutzten sie nur noch einen Arm des Artefakts; das große Paket Kerzen würde so für lange Zeit reichen und wenn Seth manchmal eine zweite Kerze anzündete, so konnte Saliha doch nichts dagegen tun, denn in diesen Momenten bestimmte er.
Und das genügte, um sie mehr als zufrieden zu stellen.
Sie waren glücklich.
Und jene Macht schritt ein. Es galt, das Spiel in die richtige Richtung zu lenken – notfalls mit Gewalt.
„Es gibt niemanden außer uns.“
Seth beugte sich über sie und sah ihr in die Augen.
„Was? Was soll das denn jetzt?“
Eine berechtigte Frage, gerade jetzt, wo du kein Ablenkungsmanöver starten kannst.
Seth hatte in den letzten Wochen ab und an davon angefangen, aber immer war es Saliha gelungen, zur rechten Zeit das Thema zu wechseln. Sie wusste, wann er es eher nebenher sagte (was dann zumeist zum Sex führte) oder wann er es ernst meinte – und dabei so seltsam unwirklich war. Dann war es wichtig, das Thema zu wechseln, denn dieser Punkt, den sie schon beinahe erfolgreich verdrängt hatte, war der einzige dunkle Fleck am blassblauen Himmel über ihnen.
Aber jetzt war ein Themawechsel kaum möglich, denn Saliha lag auf dem heißen Wüstensand, Arme und Beine an zwei Bäume gebunden. Ihr Körper war straff gespannt und selbst in der Ruhestellung spürte sie den leichten Zug der Stricke – und sie verlangte nach dem Kuss des Wachses. Seth hielt den Kerzenständer in seiner rechten Hand, weit ab von seinem Körper und viel zu weit von ihrem.
Kein guter Moment für diese Frage.
„Seth, was ist los?“ Sie wehrte sich leicht gegen die Fesseln. Aus Erfahrung wusste sie, dass das motivierte.
Seth zeigte sich völlig unbeeindruckt, viel mehr, er warf ihr Artefakt von sich. Mit einem extrem unspektakulären Zischen erloschen die beiden Flammen. Und seine Augen waren ihr in diesem Moment so fremd.
„Saliha, ich glaube, wir sind nicht umsonst übrig geblieben.“
Sie sah ihn verständnislos an und vergaß für diesen Moment das Gefühl der Stricke um ihre Gelenke.
Er fuhr fort: „Du kennst doch die Entstehungsgeschichte. Adam und Eva. Ich glaube, wir befinden uns in genau dieser Situation.“
Saliha sah ihn stumm an, konnte nicht glauben, dass sie diese Worte tatsächlich gehört hatte. Sie hatte gedacht, dass sie ihn in der gemeinsamen Zeit gut kennen gelernt hatte. Doch Seth hatte nicht ansatzweise erkennen lassen, dass er glaubte. Sie lachte – unsicher.
„Seth, dir ist klar, dass das nicht funktionieren kann, oder? Überleg mal, was du da sagst. Wenn wir Kinder hätten, müssten die miteinander schlafen, um wieder Kinder zu zeugen und allein das ist krank. Und -“
In seinem ruhigen Blick erkannte sie, dass er diese Vorstellung schon durchdacht hatte und sie für anscheinend weniger krank erachtete, als sie es tat. Momente lang sahen sie sich an. Dann reckte sich Saliha wieder in ihren Fesseln.
„Weißt du, das ist keine besonders gute Lage für so eine Diskussion. Mach mich los und dann können wir darüber reden.“ Automatisch wollte sie ihm ihre Hände entgegenstrecken.
Seth fuhr sich mit der Hand über den Mund. „Saliha, ich hab nicht ohne Grund diesen Moment ausgewählt und ich hab mir auch gedacht, dass du nicht viel von meinem Vorschlag halten wirst. Deswegen kann - muss ich dich so allein lassen. Du kannst in Ruhe darüber nachdenken.“ Mit diesen Worten erhob er sich und ging.
Saliha sah ihm ungläubig nach. Er ging tatsächlich. Sie schnappt nach Luft.
„Du Arsch! Hast du überhaupt eine Ahnung, was eine Geburt hier draußen bedeutet? Oder was du gerade kaputt machst?“ Aber er ging. Blieb nicht auch nur einen Moment stehen. Kurz darauf war sie allein.
Es war früher Vormittag. Ein früher Vormittag des neuen Spiels, das jene Macht spielte, die sich ihre Figuren zurecht schnitzen lassen wollte.
Später Nachmittag.
Schatten in ihren Gedanken. Sonne auf ihrem Körper.
Warum sie die beiden Bäume abseits ausgesucht hatten, wusste Saliha nicht. Aber es war so und diese beiden warfen kaum Schatten. Die Stricke scheuerten die Haut an Armen und Beinen wund und der stetige Zug tat ihren Gelenken weh. Doch am schlimmsten war die Sonne.
Saliha hatte nicht geglaubt, dass es so schnell so arg werden könnte, aber es wurden Schmerzen vom Himmel gesandt. Kein helles Blau mehr über ihr, enormes Weiß, das Augen und Haut weh tat.
Die erste Stunde über hatte sie sich gegen ihre Fesseln gewehrt, doch Seth hatte fest und gut gebunden. Der Sand unter ihr schmerzte auf der Haut, jede ihrer Bewegungen – und keine führte einen Schritt weiter.
Die Sonnenstrahlen hatten ihre Haut verbrannt. Sie hatten ihr Fleisch ausgedörrt, ihre Muskeln schwach gemacht und die Gedanken verflüssigt. Die Quelle plätscherte nicht weit von ihr und erzählte von Wasser in einzelnen, langsamen Tropfen.
Saliha hatte ihren Kopf gedreht und war in dieser Haltung verharrt, vor mehr als einer Stunde. Den Blick auf das Wasser gerichtet, darbte sie und ihre weichen Gedankenflüsse gingen an diesem Tag in viele Richtungen.
Allein ... zu zweit und Adam ist gegangen. Und eine leere Welt.
Porphyra. Es bewegt sich im Wasser, eine Farbe ähnlich der Haut und Anmut.
Seth? Porphyra ist eine Pflanze, nicht wahr? Seth? Das ist eine ...
„Seth?“
Ihre trockene Stimme kroch über den glühenden Sand, hinüber zu der Quelle, die so schön zu plätschern vermochte. Kämpfte sich unbeholfen durch die Unzahl an Sandkörnern, blieb hier und dort haften und kam doch schließlich an – ein leises Echo des Flüsterns, das sich von ihren Lippen stahl.
Es war nicht Seth.
Der Schatten flimmerte in der Hitze und verschwand für Sekunden zwischen den Luftschichten. Aber er war da. Und sah sie mit etwas an, das vielleicht Augen waren.
Und was ist das?
„Bitte, mach mich los“, schickte sie das nächste Echo über den langen Weg durch den Sand.
„Das kann ich nicht. Das kannst nur du.“
Zu verwaschen, um das zu verstehen.
„Bist du nicht in der Lage, um zu verstehen, was ich sage? Wohl kaum, bei dem Mangel an Glauben, mein Kind.“
Ihre Zunge fuhr zwischen die Lippen, wollte befeuchten, um eine Antwort zu ermöglichen. „Glaube ... ?“
„Ja. Du bist kurz davor, alles über den Haufen zu werfen. In deiner Uneinsichtigkeit, du starrsinniger Mensch. Jetzt stelle dir mal eine Welt vor, die vor knapp sechs Wochen noch von Milliarden Menschen bewohnt war. Und jetzt gibt es derer noch zwei. Der eine von ihnen wandert in diesem Moment durch die Hitze, richtig geglaubt hat er, aber ist nicht in der Lage, zu erzwingen. Denn er ist schwach, da er liebt - als Mensch. Als Mann. Der andere Mensch liegt hier vor mir und hat nichts, aber auch gar nichts außer der Möglichkeit zu glauben und zu akzeptieren. Doch es geht nicht in diesen kleinen Kopf hinein. Und mit jeder Stunde trocknet er mehr und mehr aus.“
„Ich ...“
„Ja, ich weiß, du glaubst nicht.“
„Nein, ich ...“
„Du hast nicht mehr viele Möglichkeiten. Zweifelst du daran, dass ich dich hier lassen könnte – für eine lange, lange Zeit? Kurz davor, aber nie daran, zu sterben? Ich kann ihn so lange durch die Wüste rennen lassen, bis er eines Tages nur noch ein hässliches und trockenes, einem Menschen nur beinahe ähnelndes und zwischen zwei Bäumen aufgespanntes Etwas wiederfindet, um das er nicht einmal trauern könnte. Ich weiß, du liebst diese Position und es kommt dir regelmäßig dabei. Aber nicht nach so einer langen Zeit. Nicht nach so einer Spanne an Zeit.“
Der Schatten nickte mit dem Kopf, bestätigte seine eigenen Worte und spielte mit einem schwarzen Auswuchs in den Wassern der Quelle. Dann sah er sie wieder an.
„Ich habe nur leider nicht die Geduld, mir so viel Zeit zu nehmen. Es gibt noch viele andere, um die ich mich kümmern muss. Wirst du also die dir schon seit eurem Entstehen erdachte Rolle weiter spielen oder wird das alles –„
„Maul halten!“
Die Worte waren ein staubiger Auswurf, der sich gegen alles richtete, was Er gesagt hatte.
„Fick dich du Wichser!“ Saliha richtete sich auf, so gut es möglich war. Ihre Lippen brannten. „Die seit unserem Entstehen erdachte Rolle? Die Frau, die für Adam die Beine breit macht, sich schnell vögeln lässt, um so wieder eine neue, konstant abhängige Rasse zu erschaffen, nur damit du wieder deine kleinen Spielfiguren hast und in vielleicht tausend Jahren wieder eine Frau in dieser Situation ist und du dein perverses Spiel noch einmal zum Höhepunkt treiben kannst? Es ist schon abartig, dass es dich selbst nicht längst anödet.“ Sie versuchte, auszuspeien.
„Schweig, Frau! Schon immer hast du Unterdrückung genossen. Nur deshalb hab ich dich –„
Saliha lachte auf und der Schatten hielt inne. Unsicher. Sie sah ihm in das, was wie Augen erschien.
„Übrig gelassen? Wolltest du das sagen? Du begreifst mich nicht einmal ansatzweise. Du hast mich und alle anderen erschaffen, so viel Unheil mit uns getrieben, bist krank und geil auf deine Macht. Und verstehst nicht einmal unsere einfache und tief empfundene Lust? Missverstehst sie? Du bist echt arm.“
Der Schatten schwieg. Und erzitterte in der Luft.
„In den Momenten, in denen Seth und ich miteinander sind, sind wir so viel stärker als du mit all deiner Macht.“
Saliha sah Ihn sich in aller Ruhe an und wurde sich der Schwachstelle bewusst, die Er hatte, schon immer gehabt hatte. Und jetzt waren sie nur noch zu zweit und außer ihnen gab es niemanden, der Ihm sonst auf dieser
seiner
Welt Halt hätte bieten können. Seth hatte nie geglaubt, war bis eben nur ein Spielball gewesen, das erhoffte As im Ärmel. Und sie?
Sie spannte ihre schwachen Muskeln ein letztes Mal und entschied das Los der letzten Menschen: „Ich glaube nicht an dich. Geh und spiel an anderen Orten.“
Saliha spürte das Zurren an den Fesseln und öffnete die Augen. Seth sah sie an und sie sah seine Verwirrung. „Seth.“
„Saliha, ich weiß nicht, was –„
„Es ist gut. Ich weiß es.“
Er nickte und löste unsicher ihre Fesseln.
Sie rieb sich die Hände. „Wir sind wirklich alles, was übrig ist – und es gibt keinen Grund, das nicht unser Leben lang zu genießen. Genauso, wie wir es wollen und wie es uns gefällt.“ Er half ihr hoch und führte sie zu ihrer kleinen Hütte hinüber. Die Sonne senkte sich wieder zum Horizont und tauchte die vielen Sandkörner, die raue Rinde der Bäume und die beiden Menschen in ein tiefes Rot.
Sie stützte sich auf ihn, stöhnte, denn ihre Haut brannte und loderte. Und während die letzen Menschen in ihr Leben hinein gingen, lachte die Siegerin hell auf.
„Jetzt sind es nur noch wir.“
ENDE