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Rabenmutter (Erfurt, 1980)
Erfurt, 1980
Vor der Schule stand schon ein Grüppchen wartender Kinder. Die Kleinen aus der Unterstufe standen bestimmt schon seit zehn Minuten hier, sie konnten es nie abwarten, in die Schule zu kommen. Je älter man wurde, dachte Andrea, umso später ging man morgens los. Am Ende der Straße konnte sie ein paar Jungs aus der zehnten Klasse sehen, die betont langsam zur Schule schlurften, kleine Rauchwölkchen stiegen aus ihrer Mitte hoch. Endlich ging die Tür auf.
Sie merkte sofort, dass etwas anders war. Normalerweise öffnete der knarzige alte Hausmeister die Tür, den Mund zu einem missmutigen Strich zusammengekniffen und schon morgens um sieben unglaublich schlechtgelaunt. Aber obwohl er keine Gelegenheit ausließ, jemanden zusammenzustauchen, nahm ihn keiner richtig ernst. Deswegen konnte die plötzlich eingetretene Ruhe und das zügige Voranschreiten der Schüler auch nicht mit ihm zusammenhängen.
Andreas Vermutung stimmte. Hinter der gläsernen Eingangstür stand heute der Direktor, Herr Meissner. Über seinem Kopf hing das Machwerk eines Malers der Arbeiterklasse: geschlechtslose Schüler mit Halstüchern und einfältigen Gesichtern, die mit Zirkeln und Lehrbüchern hantierten, Flöte spielten und Bäume pflanzten.
Mit unbewegter Miene musterte Herr Meissner die Hereinkommenden, ignorierte das zaghaft gemurmelte „Guten Morgen“ der Schulanfänger und wippte mit den Füßen leicht vor und zurück. Wie Stalin persönlich, dachte Andrea. Breite Brust, fleischige Wangen, Augenbrauen wie schwarze Raupen. Der unnahbare Gesichtsausdruck.
„Du!“, seine Hand packte sie plötzlich an der Schulter. Panik stieg in ihr auf. Was hatte sie getan?
„Bist du in der achten Klasse?“
Andrea nickte zaghaft.
„Mit Mario Waldmann?“
„Ja“, getraute sie sich zu sagen. Es ging offenbar nicht um sie.
„Sag deinen Mitschülern, sie sollen in Raum elf gehen. Musik fällt aus.“
Was ihn bewogen hatte, sie zum Boten auszuerwählen, mochte der Himmel wissen. Sie war überrascht, dass er überhaupt wusste, in welcher Klasse sie war. Hastig ging sie weiter, ehe er sich noch einmal an sie wenden konnte. Brav trottete sie zum Musikraum, wo sich die meisten Schüler schon bequem in ihren Stühlen lümmelten. Musik, einst einfach nur ein Gammelfach, hatte sich in den letzten Monaten zum komödiantischen Höhepunkt der Woche gemausert. Seit die hysterische junge Musiklehrerin auf dem Plan erschienen war und „Lilo Hermann – ein Melodram“ eingeführt hatte. Nichts heiterte den sozialistischen Schultag so auf, wie die arme, puddinggesichtige Lilo, die mit ihrer Nickelbrille für den kommunistischen Endsieg gekämpft hatte - nicht ahnend, dass sie einst als Ulkfigur in die Annalen der Schulgeschichte eingehen würde.
„Musik fällt aus, ihr sollt alle in Raum elf“, informierte sie die schläfrige Schar. Sie blickte sich um. Mario Waldmann war nirgends zu sehen.
Mario war auch nicht in Raum elf. Die anderen wollten wissen, was los war, aber Andrea zuckte nur ratlos mit den Schultern.
Plötzlich ging die Tür auf und ihre Klassenlehrerin, Frau Mikosch, schob einen blassen Mario Waldmann ins Zimmer. Seine Augen waren verquollen, wie bei jemandem, der geweint hatte.
Er wich allen Blicken aus und schob trotzig sein Kinn vor. Augenblicklich trat Ruhe ein.
Andrea hob leicht ihre Hand zum Gruß, aber Mario blickte durch sie hindurch.
„Was ist denn nur?“, flüsterte ihr Susanne zu, die neben ihr saß.
„Keine Ahnung. Er muss irgendwas gemacht haben“, flüsterte Andrea zurück.
Sie wusste selbst, wie lächerlich das klang. Mario Waldmann hatte noch nie etwas angestellt. Er spielte Klavier, hatte nur Einsen, war sportlich und beliebt und geradezu gespenstisch normal.
Er wohnte bei Andrea um die Ecke, seine Mutter war Hautärztin, der Vater Wissenschaftler in irgendeinem chemischen Institut.
Frau Mikosch strich Mario beruhigend über die Schulter, nahm ihre Hand aber sofort weg, als Direktor Meissner mit seinem Gefolge durch die Tür gerauscht kam. Ohne ein Wort zu sagen, schob er Mario vor die Klasse. Frau Lehmann, die Schulsekretärin trippelte hinter ihnen her wie der Hofnarr, mit all ihren klimpernden Ketten. Den Schluss bildete die feiste Frau Kornel, stellvertretende Direktorin, treues Parteimitglied und Kettenraucherin. Sie sah freudig erregt aus und roch schlimmer denn je.
Eine Ahnung beschlich Andrea. Das hier war etwas Ernstes, kein Kinderstreich. Keine eingeschmissenen Scheiben, kein Rauchen auf dem Schulhof. Etwas Politisches.
„Eine Mutter“, donnerte plötzlich Direktor Meissners Stimme durch das Zimmer, „liebt ihre Kinder. Normalerweise.“ Hier machte er eine Kunstpause und sah sich bedeutungsvoll um. Es herrschte Totenstille im Raum. „Eine Mutter, die ihre Kinder wirklich liebt, sorgt sich um diese Kinder. Lässt sie nicht im Stich. Eine Mutter hat Verantwortung für ihre Kinder. Setzt sich dafür ein, dass sie die besten Chancen im Leben bekommen. Manch eine Mutter“, seine Stimme wurde immer lauter, „manch eine Mutter aus dem kapitalistischen Ausland würde ihr Leben dafür geben, ihr Kind in unserem sozialistischen Staat aufwachsen zu sehen. Die Chancen, die unsere jungen Menschen hier haben, davon können die im Westen nur träumen!“
Krachend landete seine Hand auf dem Tisch vor Lucie Neubauer, die erschrocken zurückfuhr.
„Es gibt aber auch Rabenmütter.“ Sein ausgestreckter Arm machte eine Drehung und stoppte genau vor Mario. Dieser starrte auf den Fußboden. „Vor zwei Tagen“, der Direktor sah jetzt aus wie ein wütender roter Stier, „hat Marios Mutter ihrer sozialistischen Heimat den Rücken gekehrt. Sie hat ihren Mann und ihre Kinder eiskalt, ich sage eiskalt, hinter sich gelassen und ist von einer Forschungsreise die WIR ihr bezahlt haben, nicht mehr zurückgekommen!“
Direktor Meissner erweckte den Anschein, als hätte er die Reise persönlich bezahlt.
Andrea fühlte Mitleid in sich aufsteigen. Marios Mutter war weg? Diese freundliche, gutmütige Person, die im Gegensatz zu den meisten Eltern nichts dagegen hatte, wenn eine Horde Jugendlicher in ihrer Küche lungerte und den Kühlschrank leer fraß?
Die Vorstellung ihre, Andreas Mutter, wäre auf einmal im Westen, war unvorstellbar. Die eigene Mutter jahrelang, jahrzehntelang nicht mehr zu sehen?
„Ich fordere euch auf“, schrie Direktor Meissner die Klasse an, „ unserem Freund Mario beizustehen. Mario ist von seiner Rabenmutter im Stich gelassen wurden. Er braucht uns, unser Kollektiv. Zeigen wir ihm den richtigen Weg! Zeigen wir ihm, dass der Sozialismus eine Gesellschaft ist, die ihre Menschen nicht im Stich lässt!“ Er ließ seinen Blick wie ein römischer Feldherr durch das Zimmer schweifen. Schweiß glitzerte auf seiner massigen Stirn.
Du verdammtes Schwein, dachte Andrea.
Es war unmöglich, an Mario heranzukommen. Er sprach mit niemandem, nur kurz mit Steffen, der sich danach wie ein Leibwächter aufführte. Andrea hoffte, vielleicht auf dem Heimweg mit ihm reden zu können, aber Mario wurde an diesem Tag von seinem Vater abgeholt. Er wartete in seinem knatternden Skoda vor der Schule und fuhr sofort mit Mario weg.
Alle kannten nur das eine Thema. Hatte Mario von den Plänen seiner Mutter gewusst?
Würde der Vater nun mit den Kindern ausreisen? Würde man sie lassen?
„Ich wünschte, meine Mutter würde abhauen“, sagte Susanne. „Dann kämen wir endlich in den Westen.“
Niemanden schien zu interessieren, wie Mario sich wohl fühlte. Alle waren sich einig, dass bald eine Flut von Westpaketen auf Mario niederprasseln würde.
Andreas Eltern waren schockiert, als sie ihnen beim Abendessen alles berichtete.
„Die nette Dr. Waldmann!“, ihre Mutter schüttelte fassungslos den Kopf.
„Nur die besten gehen in Westen“, zitierte ihr Vater und griff nach der Leberwurst. „Da wird der Mario auch nicht mehr lange hier bleiben. Schade, ein netter Junge. Wenn das so weitergeht, sind wir bald die letzten und machen das Licht aus!“
Am nächsten Morgen war großer Appell. Andrea konnte die Anspannung fühlen. Alle wussten Bescheid, alle starrten Mario an. Nachdem ein Jungpionier mit quäkiger Stimme ein Gedicht von Teddy Thälmann ins Mikrophon geplärrt, sie alle ihren Gruß gemurmelt und die Pionierleiterin stolz die Ergebnisse der Altpapiersammlung wie die Lottozahlen präsentiert hatte, war es so weit.
Direktor Meissner trat ans Mikrophon und rief: “Mario und Sabine Waldmann! Kommt nach vorn!“
Sabine, Marios Schwester! Andrea hatte ganz vergessen, dass er eine kleine Schwester in der ersten Klasse hatte. Steif stand sie jetzt neben ihrem großen Bruder, ein paar Haarkringel fielen über ihr rundes Kindergesicht, ihre Augen waren glasig, die kleine Hand krallte sich in den Reißverschluss ihrer gelben Regenjacke.
„Ihr wisst es sicher mittlerweile alle, was diesen armen Kindern hier widerfahren ist.“ Direktor Meissner sprach heute behutsam, salbungsvoll, wie ein guter Märchenonkel. Eine neue Strategie.
„Eine Mutter hat ihren Kindern das Schlimmste angetan, was man sich vorstellen kann. Sie hat sie aus eigennützigen Gründen verlassen, weil sie den Versprechungen des Westens auf den Leim gegangen ist. Es ist ihr“, hier wurde seine Stimme wieder lauter, er konnte es eben doch nicht lassen, “vollkommen egal, was aus ihren Kindern wird!“
In Andrea ballte sich die Wut wie ein Klumpen zusammen. Hör auf, wollte sie schreien, siehst du nicht, wie sie leiden! Marios kleine Schwester hatte angefangen zu weinen. Der Direktor legte seine Hand priesterlich auf ihren Kopf. „Helfen wir den beiden, ihren richtigen Weg zu finden!“
Direktor Meissners Stimme schallte über den Schulhof, über die Masse verlegen gesenkter Köpfe hinweg. Andrea vermeinte, einen winzigen Ausdruck des Ekels in Frau Mikoschs Gesicht zu sehen.
Der Appell wurde mit einem Lied beendet.
Diesmal lief Mario nach Hause, seine kleine Schwester hielt er an der Hand und sprach leise auf sie ein.
„Mario!“, rief Andrea, bevor sie sich noch stoppen konnte, denn was wollte sie eigentlich sagen?
Es tut mir leid? Hast du’s gewusst? Zieht ihr nach?
„In welcher Stadt ist denn deine Mutter?“, fragte sie endlich.
„In Göttingen.“ Mario sah ihr offen ins Gesicht.
„Schön“, stotterte Andrea. Sie hatte keine Ahnung, wo Göttingen lag.
Mario nickte ihr kurz zu.
Neun Monate später war er auch in Göttingen.
Erfurt, 2002
Andrea hatte sich endlich breitschlagen lassen und war ihrer kleinen Tochter zu einer der vielen Eisdielen in der Erfurter Innenstadt gefolgt. Zum zweiten Mal heute bestellte die Sechsjährige sich „Engelblau und Vanille bitte“. Es war aber auch verdammt heiß.
„Mama, koste doch mal!“ Ihre Tochter schob ihr das Eis unter die Nase und schmierte Andreas Tasche voll.
„Pass doch auf Schatz!“ Andrea trat einen Schritt zurück und dem Mann hinter ihr auf den Fuß.
„Verzeihung“, sagte sie lachend und blickte sich um. Blickte in das Gesicht eines alten Mannes, mit weißen Augenbrauen, dick wie Raupen. Unnahbar, wie eh und eh.
Das Verlangen, dem alten Mann in sein Gesicht zu schlagen, war geradezu überwältigend.
Er hingegen hatte sie nicht einmal erkannt.
„Na, schmeckt‘s?“, sprach er ihre Tochter an. Der gute Märchenonkel. Er hatte eine Tüte der Rossmann Drogerie in der Hand und trug trotz der Hitze eine rentnerbeige Jacke.
Sie griff nach der Hand ihrer Tochter und wandte sich ab.
„Als ich klein war“, sagte sie so laut sie konnte zu ihr, „da gab es nicht so leckeres Eis. Da gab es auch nicht so schöne Schulen wie jetzt. Wir hatten ein paar ganz böse Lehrer. Der gemeinste von allen hieß Herr Meissner. Er hat Kinder gehasst.“
Sie zog ihre Tochter mit sich und blickte sich nicht mehr um.