- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Rache
Er eilte mit seiner Frau, deren linken Arm er über seinen Nacken geworfen hatte, aus dem Saal in ein Schlafzimmer, das gleich nebenan lag. Vorgezogene Gardinen verdunkelten den Raum und das schwache Licht aus dem Flur machte ihn nur ein wenig lebhafter. Im Saal wurde währenddessen zu den Klängen moderner klassischer Musik getanzt und gespeist, doch für ihn und seine Frau sollte es heute Abend anders kommen.
Sie wussten, dass sie schwanger war. Immerhin war so ein großer Bauch nicht leicht zu übersehen.
Als einige Köche aus der benachbarten Kantine kamen und gemeinsam ein riesiges Silbertablett mit einem Spanferkel in die Höhe hielten, setzten die ersten Wehen ein und die Schmerzensschreie der Frau übertönten mit Leichtigkeit die durch den Saal schallende Musik. Sofort war ihr Mann zur Stelle und half ihr vom Stuhl. Nun lag sie dort auf dem Bett des Gastes und befeuchtete das weiße Seidenlaken mit Tränen, Schweiß und Erbrochenem. Das helle, fast durchsichtige Kleid klebte mittlerweile an ihrer Haut und brachte die Unterwäsche zum Vorschein. Der hilflose Mann hatte sich neben sie aufs Bett gesetzt und rieb vorsichtig mit seinen Handflächen an ihrem rechten Oberarm.
»Beruhige dich doch, du wirst es schaffen«, er wollte sie besänftigen, aber konnte sich nicht gegen die höllischen Schmerzen durchsetzen, die ihren Unterleib zum Brennen brachten. Nichts als Schreie gab sie von sich.
»Hör mir zu, ich hole Hilfe!«, versuchte er ihr klar zu machen und stürmte aus dem Zimmer über den Flur in den Saal zurück, dessen in die Höhe ragende Wände und Säulen von etlichen Goldverzierungen, Gemälden und Skulpturen übersät waren.
»Hilfe! Meine Frau bekommt ihr Kind!« Er brüllte und wollte auf sich aufmerksam machen, indem er seine Arme durch die Luft schwang.
»Gibt es hier eine Hebamme? Ich brauche eine Hebamme!« Inzwischen ging er von Tisch zu Tisch und fragte jede Person, die er zu Gesicht bekam.
»Ich bin Hebamme. Ich... Ich kann Ihnen vielleicht helfen«, eine schwarzhaarige, junge Frau erhob sich von ihrem Stuhl und antwortete verunsichert.
»Kommen Sie mit, schnell!«, der Schnurrbart des Mannes ragte über seine gesamte Oberlippe und bewegte sich beim Sprechen auf und ab. Er lief los und das Fräulein folgte ihm, nachdem sie ihr Kleid hochgezogen hatte.
»Hier, da liegt sie! Bitte, Sie müssen ihr helfen«, er streckte den rechten Arm zu seiner Frau und zeigte der Hebamme den Weg. Diese setzte sich sofort aufs Bett und blickte suchend um sich. »Haben Sie ein Messer oder eine Schere?«
»Da auf dem Tisch« Er schnappte sie sich und reichte sie dem Mädchen, das das Kleid und die Unterwäsche zerschnitt, um Beine und Bauch freizulegen. Danach stemmte sie ihre schmalen Arme gegen die Oberschenkel der Schwangeren und prüfte den Genitalbereich. »Pressen! Pressen Sie!«, rief sie und wollte mit ihrer zarten Stimme gegen die qualvollen Schreie ankommen.
Es war eine Stunde vergangen, doch das Kreischen wurde nicht leiser und das Baby wollte noch keine Luft schnappen. Die Hebamme erkannte, dass ihr Handeln zu nichts führte, also tastete sie vorsichtig im Bereich des Unterleibs herum und führte schließlich nach einigen Sekunden des Dehnens ihre Fingerkuppen in die Vagina. Neben klebrigen Flüssigkeiten spürte sie allmählich den Säugling. »Ihr Kind wird bald rauskommen. Sie müssen pressen!«
»Klara, du musst es schaffen! Pressen!«, hörte man nun auch den Mann rufen, der sich im Hintergrund unruhig von links nach rechts bewegte. Voller Anstrengung schöpfte sie ihre letzten Kraftreserven aus und presste, so stark sie nur konnte. Dann führten die Finger der Hebamme ein Köpfchen heraus und das kleine Wesen kam zum Vorschein. Die Mutter wurde ruhiger, nachdem das Mädchen die Nabelschnur durchgetrennt hatte und das Neugeborene sanft mit einem Tuch umhüllte. Sie schaukelte es hin und her und summte ein Lied zur Beruhigung, dennoch kreischte es fürchterlich; das musste von der Mutter kommen.
»Schauen Sie, es ist ein Junge«, strahlte die Hebamme und wollte ihn gerade seiner Mutter übergeben. Doch die gab mittlerweile keinen Laut mehr von sich. Ihr Mund stand offen und ihre leeren Augen starrten hinauf zur Decke.
»Sie haben sie getötet! Mörderin! Geben Sie gefälligst meinen Sohn her«, der Vater schrie das Mädchen an und riss ihr das Baby aus den Armen.
»Es ist normal, dass Frauen bei Geburten sterben. Sie müssen mir glauben! Es tut mir Leid«, sie versuchte es ihm zu erklären, doch er ließ sich nicht überzeugen.
»Verbreiten Sie keine Lügen! Hinter Gittern bringen, werde ich Sie! Nennen Sie mir schleunigst Ihren Namen, bevor noch meine Hand ausrutscht!«
»Ich heiße Goldstein. Rachel Goldstein ist mein Name«, stotterte sie und fing an zu weinen.
»Eine Jüdin!«, der Mann war völlig außer sich und zog mit seinen Pranken an ihren Haaren.
In der Linken das Kindchen haltend und mit der Rechten drosch er auf das Mädchen ein, das sich von ihm zu befreien versuchte, was sie nach einem kleinen Kampf schaffte und nun verängstigt mit tränenbefleckten Wangen aus dem Zimmer floh.
»Ihr werdet noch sehen, was ihr davon habt!«, brüllte er ihr hinterher und fuchtelte mit seiner Faust.
Der zornige Blick seines Gesichtes legte sich langsam und er wandte sich zu seiner Frau, die in Körpersäften lag, welche den Raum mit einem widerwärtigen Geruch erfüllten. Er setzte sich neben ihren leblosen Leib und das Baby fing erneut an zu kreischen. Der Vater senkte den Kopf und kitzelte seinen Sohn behutsam am Bauch. Währenddessen zogen seine kleinen Fingerchen an nur einem Daumen des Vaters und er redete beruhigend auf ihn ein. »Kein Grund zur Sorge. Dafür werden sie schon noch bezahlen. Nicht wahr, Adolf?«