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Rectory Red
Ich drückte die Rolle gegen den Eimerrand, ließ die überschüssige Farbe abtropfen und tunkte sie in eine Schüssel mit Terpentin. Die Farbe an den Wänden war gleichmäßig verteilt. Eine große, rote Fläche. Es sollte unser Schlafzimmer werden.
Ich wischte mir an einem feuchten Lappen die Hände ab und sah aus dem Fenster. Ich blickte auf den Garten, ein langes, schmales Stück Land, umgeben von verwittertem Backstein, die Mauern dicht mit Efeu bewachsen, der Rasen seit langer Zeit nicht mehr gemäht. An das Haus grenzte ein kleiner Patio. Auf dem Fundament aus Waschbeton stand ein weißer Plastikstuhl, den der Vorbesitzer dort vergessen hatte.
Ich hörte, wie Ivi die Haustür aufschloss. Sie hatte an der Tankstelle Bier und Zigaretten gekauft und legte die Dosen ins Waschbecken des Gäste-WC.
Gab nur Gaffel, sagte sie und drehte den Wasserhahn an.
Besser als nix.
Was?
Warte, ich komm runter.
Die Treppe in das Untergeschoss war steil, die Stufen schmal, wie in so vielen Bauten der Nachkriegszeit.
Der Handlauf aus Glattholz hing nur noch lose in den Halterungen. Ich stützte mich mit einer Hand an der Wand ab und setzte langsam einen Fuß vor den anderen.
Die Küche war bereits gestrichen, in einem kräftigen Lindgrün, ansonsten aber noch leer. Wir warteten auf die Spedition. Neuer Herd und Backofen, dazu eine Industriespüle aus Edelstahl und passende Schranksysteme. Ivi stand vor meiner alten Doppelkochplatte und rührte in einem Topf. Ich blieb neben ihr stehen und nahm die leere Konservenbüchse vom Fenstersims.
Ravioli …
Musst du mit leben.
Ich trink sogar Gaffel.
Sie lachte und gab mir einen Kuss auf die Wange. Ich legte meinen Arm um sie, zog sie an mich, und dann sahen wir beide aus dem Fenster, auf die Straße und die mintfarbenen Laternen. Die gegenüberliegenden Genossenschaftshäuser alle mit der gleichen schmutzig grauen Fassade.
War das Richtige, sagte sie. Die richtige Entscheidung.
Ich küsste ihren Nacken. Vielleicht fällt doch noch `ne Bombe auf die Siedlung.
Aber ich mag das, das Alte, Schäbige, das wirkt wie, ich weiß nicht …
Wie in Russland?
Du warst doch noch nie in Russland.
Mein Großvater ist in Lemberg geboren, das muss reichen.
Nein, sagte sie und legte ihre Hand auf meine. Das passt zu uns.
Das Alte, Schäbige?
Du weißt, was ich meine.
Wir setzten uns auf den Boden, aßen die Ravioli aus dem Topf, hörten die neue Scheibe der Cowboy Junkies auf meinem alten Karcher und tranken dazu lauwarmes Gaffel
Hättest du das gedacht?
Was?
Irgendwann wieder auf den Stallberg zu ziehen?
Hab ich nie so drüber nachgedacht, um ehrlich zu sein. Hat sich auch viel verändert, oder?
Das musst du mir sagen.
Ich nickte. Hat sich schon viel verändert. Und das hier ist jetzt die beste Ecke, ich sags dir.
Ivi nahm einen Schluck Bier und zeigte mit der Dose auf das Fenster. Streichen wohl bald die Häuser da drüben, die werden kernsaniert, richtig aufwändig.
Ja? Kann ich mir kaum vorstellen. Woher weisst du das?
Ich hab heute nachmittag mit einer Frau gesprochen, die draußen mit ihrem Hund Gassi gegangen ist. Ich glaube, die wohnt in der Nachbarschaft, da oben in einem der Häuser am Hang.
Grafenkreuz?
Genau, ja.
Das sind die Bonzen, denen darf man doch kein Wort glauben.
Sie schien ziemlich genau Bescheid zu wissen.
Also, ich glaube, wer ziemlich genau Bescheid weiß, wohnt nicht am Stallberg.
Wir wohnen jetzt auch am Stallberg.
Es ist ja auch nur so eine Theorie.
Ich hatte lange keine Ravioli aus der Dose mehr, sagte sie und legte den Löffel neben den leeren Topf. Und weißt du, was ich noch lange nicht mehr hatte?
Sie behielt das T-Shirt an, die Spitzen ihrer langen, dunklen Haare berührten mein Gesicht, und ich schloss die Augen und legte meine Hände auf ihre Hüften. Ich spürte die Fugen der Kacheln an meinem Rücken, ihre warmen Finger auf meinem Bauch. Sie zog eine lange Gerade über meinen Nabel und öffnete den Reißverschluss meiner Jeans.
Wir haben das Bett noch nicht aufgebaut, sagte ich.
Brauchst du ein Bett dafür?
Sie lachte, ganz leise und wie für sich selbst, als würde ihr niemand zuhören, und ich liebte dieses Lachen an ihr, es klang verwegen und auch ein bisschen hinterhältig.
Du bist ja ganz hart, flüsterte sie und zog mir die Jeans bis in die Kniekehlen.
Ich konnte die Hitze spüren, die Feuchtigkeit an den Innenseiten ihrer Schenkel.
Das kommt sicher von den Ravioli.
Sicher …
Sie schmiegte ihr Becken an meines, beugte sich nach vorne, küsste meinen Hals, die Lippen weich und leicht geöffnet, ein kurzer, feuchter Druck, den ich bis in die Fußspitzen spüre, ihre Wange gleich an meiner; leises Seufzen, der Luftzug kühl an meinem Ohr. Ich legte meine Hand auf ihren unteren Rücken, ließ sie zum Steiß hinabgleiten, fühlte ihre Bewegungen auf der nackten Haut, das rhythmische Anspannen, der kurze Moment des Innehaltens, Schweben wie in Schwerelosigkeit, dann das langsame Pulsieren, der noch zitternde, ertaubte, ausgezehrte Leib.
Eine tiefe Ruhe.
Wir sollten öfter Ravioli machen, sagte ich und küsste ihre Stirn, sog den Geruch ihrer Kopfhaut ein.
Wir lagen für einige Momente so da, ineinander, aufeinander, atmend und erschöpft. Danach duschten wir im Gäste-WC auf der Halbetage, der Wasserdampf beschlug die enge Kabine, wir seiften uns gegenseitig den Rücken ein und lachten über unsere Ungeschicklichkeit dabei.
Später lagen wir nackt auf der Matratze und rauchten bei offenem Fenster.
Ich würd zum Einschlafen gerne Musik hören, sagte sie.
Vielleicht Slayer?
Nein, nicht Slayer.
Okay, sagte ich. Aber nur weil du es bist.
Morning Song to Sally war ihr Lieblingssong. Wir hörten ihn oft fünf oder sechsmal hintereinander.
Und ich hätte gerne mal wieder was zum rauchen, sagte sie und zog die Decke über ihre Schultern. Gutes Gras.
Gibt sicher noch n paar Leute von früher hier. Bisschen Gras besorgen ist sicher kein Problem.
Leute von früher, wiederholte sie und lachte. Klingt, als wärst du schon Siebzig.
Manchmal fühle ich mich auch so.
Hast du schon wen getroffen? Von den alten Leuten, meine ich.
Ja, aber nur einen.
Und?
Keine Ahnung, sagte ich und legte mich neben sie. Ziemlich abgestürzt, wirkte jedenfalls so, aber war schon damals auf Schore, am Bonner Loch rumgehangen, ich weiß nicht, Klassiker eben. Falsche Freunde, die Familie. Jeder kennt doch so einen.
Und jetzt ist er wieder hier.
Wir haben nicht miteinander gesprochen, ich hab ihn nur kurz am EDEKA gesehen.
Vielleicht ist er auch nie weg.
Seine Mutter wird sicher hier noch irgendwo wohnen, nehm ich an, ich weiß es aber nicht.
Ist manchmal schon seltsam, oder? Wenn man wen von früher trifft, ist das ja oft so … als hätten die sich gar nicht verändert, als wäre die Zeit stehengeblieben.
Ja, oder aber so, als wären das irgendwelche Fremde, bei manchen kann man es echt nicht sagen, die drehen sich um hundertachtzig Grad, und dann ist man richtig geschockt, wenn man die wieder trifft.
Sie nahm einen letzten Zug aus der Zigarette und drückte die Kippe auf einer Untertasse aus. Was meinst du, denken die Leute über dich? Also, die von früher?
Ich schob mir ein Kissen in den Nacken. Keine Ahnung. Ich denk, ich hab mich nicht so sehr verändert. Ich hab mal eine aus der Schule wieder getroffen, ist schon was länger her, paar Jahre, und die meinte, sie hätte nie gedacht, dass ich noch hier bin, also in Deutschland. Die dachte, ich wäre irgendwo in den Staaten unterwegs.
Warum das denn?
Die wusste halt, dass ich in irgendwelchen Bands gespielt hab, und dann dachte die eben, ich meine es ernst.
Mit der großen Karriere?
Mit überhaupt irgendeiner Karriere.
Wäre ja genau dein Ding … Blowjob zum Frühstück und dann erstmal ‘ne Flasche Pappy, zum Soundcheck n Haufen Koks, abends den Gig in der Grand Ole Pry.
Die Flasche Pappy nehme ich auf jeden Fall schon mal.
Komm hör auf, ich kenn dich doch.
Na ja, den Kids von irgendwelchen reichen Pissern ihren ersten Marshall verkaufen ist auch nicht gerade das Schlechteste, oder?
Wir lagen schweigend nebeneinander, ihr Kopf auf meiner Brust, es lief immer noch Jerry Jeff Walker.
Gram Parsons hat übrigens auch mal in der Ole Pry gespielt, mit den Byrds zusammen.
Und?
Sie haben ihn gnadenlos ausgebuht.
Ivi lachte. Dann drehte sie sich zur Seite und legte eine Hand auf das Kissen.
Einer meiner Profs hatte so einen lang gewachsenen Fingernagel, am kleinen Finger meine ich, den nannte er immer meine Koksschaufel.
Echt?
Seltsamer Typ, aber hat mir ne gute Note gegeben.
Komm, du hast ihm schöne Augen gemacht, das ist alles.
Nee, der war schwul. Er mochte aber Walker Evans, das hat einfach gepasst. Der wusste, wo ich hin wollte mit der Diss.
Ich stand auf, legte New West Motel von den Walkabouts auf und zündete mir noch eine frische Zigarette an.
Ich weiß nicht, sagte ich und setzte mich auf den Stuhl, der vor dem offenen Fenster stand.
Die Straße vollkommen ruhig, kein Verkehr und kaum Lichter in den gegenüberliegenden Häusern.
Sind jetzt nur noch zehn Minuten runter in die Stadt, ist auch alles gut, alles in Ordnung, das Haus ist okay, nein, ist n gutes Haus, mehr Platz und Garten, und ich weiß auch, dass wir im Grunde alles richtig gemacht haben …
Aber?
Ich zuckte mit der Schulter.
Fühlt sich doch nicht richtig an?
Ach, ich weiß nicht … war so n junger Typ im Laden, der kommt seit paar Wochen immer mal wieder, testet jedes Mal die gleiche Gitarre, ne Les Paul Standard, eine von den neuen Modellen, und der ist verdammt gut, richtig gut, nicht nur einfach so wie die anderen, und ich seh da einfach was in seinem Blick. Weißt du, was ich meine?
Sie schüttelte den Kopf.
Na ja, das ist so ungefähr der gleiche Blick, den ich auch mal hatte, und ich weiß auch genau, was der vorhat, der geht irgendwo arbeiten, in ner Hühnchenbraterei oder sonstwo und spart die Kohle, der verzichtet auf alles, Konzerte und Clubs und Bier, und in nem halben Jahr kauft der sich die Gibson und n halbes Jahr später n JCM 900, dann zockt der mit seiner ersten Band im Kulturcafe, danach im Kult 41, und dann in allen Läden in Köln, MTC, Blue Shell, Sonic Ballroom, und dann haut der Drummer ab weil er in irgendeiner anderen Stadt studiert, und dann gibts die nächste Band, und wieder das gleiche Spiel, das macht er drei oder vier Mal, und irgendwann rafft ers dann.
So fühlt sich das für dich an?
Unser erster Proberaum war hier gleich die Straße runter, keine fünfhundert Meter …
Und jetzt bist du wieder hier, nach fünfzehn Jahren Ehrenfeld, ohne Band, ohne Plattenvertrag, gelandet im Reihenhaus wie so ein ...
Ganz genau.
Ja, sagte sie und legte ihre Hand wieder auf meine Brust. Das ist wirklich eine Tragödie, weil du ja eigentlich auf die Bühnen in Nashville gehörst, oder wenigstens hinter die Neve in Muscle Shoals.
Universal Audio, sagte ich. Muscle Shoals hatte keine Neve.
Jetzt musst du eben hier in der Provinz darben, während du natürlich viel lieber mit Lucinda Williams auf Tour gehen würdest, weil das eben deine einzige und wahre Bestimmung ist. Schon klar.
Also, Lucinda Williams hatte ja nur ein gutes Album, wenn man es genau nimmt, aber so vom Prinzip her … Ich nahm ihren Blick auf und musste lachen. Klinge ich wirklich wie so ein weinerlicher alter Sack?
Ja, und das weißt du auch.
Ich drehte mich auf den Rücken und blickte an die Glühbirne, die ohne Lampenschirm von der Decke hing.
Du hast ja Recht. Uns gehts gut, oder?
Verdammt gut, sagte sie.
Am nächsten Morgen stand ich früh auf, ließ Ivi schlafen und holte an der Bäckerei am Kreisverkehr belegte Brötchen und ein paar Nussecken. Dann machte ich leise eine Scheibe von Coleman Parker an und kochte Kaffee.
Die erste Tasse trank ich im Garten. Ich setzte mich auf den alten Plastikstuhl und zündete mir eine halbe Toscano an. Es war zu viel Nikotin auf nüchternen Magen, doch ich mochte das Gefühl, der schnellere, hart schlagende Puls, der leicht werdende Kopf und der kurze Schwindel nach jedem Zug.
Rauchst doch sonst nicht so früh morgens?
Sie trug mein altes Aerosmith-Shirt und hatte sich einen Becher Kaffee mitgebracht.
Hast du gut geschlafen?
Ja, sehr.
Ich auch. Wie n Stein.
Warst aber früh raus, hab dich gar nicht gehört.
Ich wollt dich noch schlafen lassen und war beim Bäcker um die Ecke. Die Brötchen sind gut. Hab dir noch was Süßes besorgt.
Ein wahrer Gentleman. Sie nahm mir die Toscano aus der Hand und gab sie mir nach einem Zug wieder zurück. Ist mir noch zu früh.
Mir normalerweise auch, aber heute hatte ich irgendwie Bock drauf, keine Ahnung … arbeitest du heute von zuhause?
Ich telefoniere nachher nochmal mit den Kuratoren, was das jetzt genau für ein Text werden soll, das kann ja wirklich alles und nichts sein, aber ich bräuchte da schon irgendwie eine ungefähre Richtung.
Walker Evans in Bottrop …
Ja, seine erste Retrospektive in Europa. Schon krass, oder?
Ist ne große Sache für dich.
So groß auch wieder nicht.
Jetzt stapel mal nicht tief …
Wir werden sehen. Du musst langsam los, oder?
Ja, sagte ich. Ich verkauf den Söhnen von irgendwelchen reichen Pissern ihren ersten Marshall und such mir die Nummer von Lucinda raus.
Ich parkte in der großen Tiefgarage neben dem Rathaus und ging durch die Fußgängerzone zum DRÖHNLAND. Unten im Hauptgeschäftsraum schaltete ich die Beleuchtung an, ließ die Fronttür aber noch abgeschlossen. Viertel vor zehn stand Mick mit zwei Bechern schwarzen Kaffee im Nebeneingang.
Why you’re still using this plastic cups? We got some proper ones here in the shop.
Well, its shitty coffee anyways. So?
Ich schüttelte den Kopf.
How could you damn americans win the war?
You know, my granddad once told me this story. He said that the Germans could make either weapons or bread, while we could make both. We meaning: us damn americans. I guess that’s how we won the war.
Wir setzen uns in die alten Ledersessel vor den Fenstern der ersten Etage, wo sich neben dem Lager die Reparaturwerkstatt befand. Mick stammte ursprünglich aus North Carolina und war während einer Tour seiner Indie-Band in Deutschland hängen geblieben, natürlich wegen der Liebe. Er sprach nahezu perfektes Deutsch, aber ich wollte im Training bleiben und mochte außerdem seinen southern drawl.
Did you check the new Jack White record?
Not yet, sagte ich. But what I did check is the new Tyler Childers.
Yeah, well, that one fuckin sucks! I mean, come on! Why can this dude not just record twelve proper songs like it’s 1988?
This other fellow ruined him.
You mean Sturgill?
I saw Tyler in Amsterdam a couple of years ago, and I swear, this dude was obsessed, he fuckin brought the house down. Then all of a sudden he is produced by Mr. Outlaw Country Big-Shot and gets his soul sucked right out of him … the new album is a pile of bull, man.
Word!
By the way, we need to put these new greenbacks into the Framus speakers asap, that dude called again.
Ah, when did they arrive? Today?
Yesterday.
First thing I’ll do, just lemme finish this shitty coffee.
Nachdem ich meinen Kaffee ausgetrunken hatte ging ich nach unten, wo ich eine Scheibe der Georgia Satellites auflegte und mir eine Zigarette anzündete. Ich brauchte diesen kurzen Moment des Innehaltens: das Beobachten der Fußgänger und wie sie die Ladenfront passierten, alle in ihren eigenen Gedanken verloren und in unterschiedlicher Geschwindigkeiten, manche lässig und langsam, andere schnell und zielstrebig.
Ich kannte keinen von ihnen, manche Gesichter kamen mir zwar bekannt vor, doch ich erinnerte mich an keinen Namen, keine Begebenheit, sie blieben immer Fremde, die rein zufällig ins Schaufenster blickten, auf das alte Marshall-Stack, aus dessen Logo Mick und ich das M und das ALL herausgeschnitten hatten, die elektrischen und akustischen Gitarren, die dort hingen, das alte Townes van Zandt-Poster über der Theke und die KISS-Miniaturfiguren auf der Kasse. Wie der Blick in den Fernseher, wenn ein obskurer Film im Nachtprogramm läuft, so kam es mir immer vor.
Ich zog ein letztes Mal an der Zigarette und schloss dann die Tür auf. Mick schraubte in der Werkstatt an den Framus-Boxen, ich erledigte ein paar Telefonate und sortierte eine neue Lieferung Ernie Ball Saiten in die Ständer.
Gegen Mittag tauchte Mick unten auf.
Call this dude, sagte er. Speakers are ready. But charge him double. Who’s playin’ Framus anyways?
Dude wears white leather pants on stage …
Some dumb fuck who can’t decide what he’s more into, his POISON records or his F-150?
Nah, I think he’s serious.
Like really serious?
Spandex-serious.
Jeez …
I have to admit though, when I was like fifteen, I was totally obsessed with Guns ‘n’ Roses.
Dude, I get your love for Bob Seger and John Cougar Mellencamp, although in a somewhat fucked up and twisted way, like someone drilled a hole in your skull when you were just a little kid, and thats why you like these douches … but Axl? The Axl?
Appetite for Destruction is a masterpiece.
Yeah, for douches. I mean, come on, does Ivi know about this? Does she fell in love with you while you were rocking out to Sweet child o’ mayayayayin?
She was born mid nineties, I think she has no clue about Axl or Guns ‘n’ Roses.
Yeah, I forgot your such an old fuck.
Wait, what? Who’s like sixty and is still dreaming about playing the drums in R.E.M?
I’m not sixty, you arsh.
Well, short of.
Plus Michael Stipe is a real arsh from what I’ve heard.
I mean, what do you expect from a guy who wrote songs like Nightswimming?
In der Pause gönnten wir uns Frikandel spezial vom Belgier und zwei Dosen eiskalte Cherry-Coke. Der Nachmittag begann schleppend: Kids, die billige Saiten kauften und uns mit dem Gerede über ihre Lieblingsbands nervten, dann ein Gitarrenlehrer, der mit einem seiner Schüler in den Laden kam um ein paar der Konzertgitarren zu testen: anderthalb Stunden klassisches Rumgewichse, um schließlich ohne etwas zu kaufen wieder zu verschwinden.
Er kam kurz vor Ladenschluss. Er besaß diese seltsame Qualität, ohne eine Gitarre in der Hand unsichtbar zu bleiben, man nahm seine Präsenz einfach nicht richtig wahr. Das änderte sich jedoch sobald er eine Gitarre in die Hand nahm. Er hatte diese langen und dünnen, aber kräftigen Finger, die es ihm erlaubten, noch die wildesten Akkorde sauber zu greifen, und dann spielte er improvisierte Soli, die direkt aus Eat a Peach von den Allmanns zu stammen schienen.
Sparst du eigentlich für die Paula? fragte ich ihn und setzte mich auf eine VOX-Combo in der Testecke.
Er zuckte mit der Schulter.
Ich hab schon ne Hagstrom …
Ist aber natürlich n Klassiker, die Standard hier.
Ich weiß, sagte er. Schon auch n geiles Teil.
Spielst du inner Band? Wir hören dich ja hier immer … ich meine, du hast’s schon drauf, so isses ja nich.
Danke dir, aber nee, ich spiel in keiner Band. Ich geh ab und an mal zu den Sessions im Kunsthaus da bisschen zocken, hab aber nix Festes.
Wenn ich’s so drauf hätte wie du, wär ich schon lange nich mehr hier - ab nach L.A, New York, London. Oder wenigstens Berlin!
Er lachte.
Na ja, ich kenn n Typen, der in Leipzig Jazzgitarre studiert hat und jetzt in Coverbands die Top 40 nachzockt, um sich die Euros für die Miete zu verdienen! Nee, is mir alles zu unsicher, ich mein, wer sich da noch drauf verlässt, Musik und Band und Karriere … oder?
Nee, klar, auf jeden Fall.
Ich mach erstmal die Schule fertig, und dann mal sehen. Studium, irgendwas Kreatives, wo auch das Geld stimmt, und mit der Musik … ich mein, wenn sich was entwickelt, klar, da sag ich nicht Nein, aber ich setz jetzt nicht alles auf eine Karte, muss halt einfach passen.
Na, klingt doch absolut vernünftig und richtig, sagte ich. Hör mal, wir machen gleich zu. Fünf Minuten haste noch, okay?
Er nickte.
Auf dem Nachhauseweg hielt ich bei REWE, streifte dort ziellos durch die Gänge und wollte abgepacktes Sushi kaufen, entschied mich dann aber für eine Flasche Jack Daniels. Danach fuhr ich langsam den Seidenberg hoch, hielt in der Einfahrt und blieb noch im Wagen sitzen. Licht im Obergeschoss. Ich lehnte mich in den Sitz, drehte den Verschluss von der Flasche auf. Diesen Geruch hatte ich fast schon vergessen gehabt - süß und scharf, phenolisch … er machte mir eine Gänsehaut.
Dann klopfte Ivi gegen das Seitenfenster.
Was hast du da?
Flasche Jacky.
Hast noch was vor heute Abend.
Ich weiß nicht. Vielleicht. Keine Ahnung.
Wasn das für ne Antwort, sagte sie und öffnete die Beifahrertür.
Wir saßen für einen Moment schweigend nebeneinander, dann drehte ich die Flasche wieder zu.
Ich würd gern ne Runde drehen. Einfach rumfahren.
Kleiner Roadtrip durch die alte Gegend?
Ich nickte und startete den Motor. Ivi nahm mir die Flasche aus der Hand und schob sie zwischen ihre Schenkel. An der Kreuzung bog ich nach rechts ab und fuhr an den Genossenschaftshäusern vorbei, ein Block nach dem anderen,
Früher haben wir nur Jacky Cola getrunken, nein, gesoffen haben wir das.
Wie Slash, sagte Ivi.
Ganz genau.
Ich sah zuerst sie an, dann die Flasche in ihrem Schoß.
Slash und Tas Pappas waren die großen Idole vom Stepi. Hab ich dir das nie erzählt?
Dein Bruder hat Guns ‘n’ Roses gehört? Das ist ja eigentlich ne Sache, die man sonst gerne verschweigt.
Nein, mein Vater musste mit ihm sogar zum Konzert ins Müngersdorfer Stadion, weil er da noch nicht alleine hin durfte, da gab’s ja nix für ihn. Muss super gewesen sein, obwohl Stepi nachher meinte, Soundgarden hätte er fast noch besser gefunden als die Gunners.
Ja, auf dem Gig war ich auch, sogar im abgeschlossenen Vorraum. Soundgarden und Faith no more, muss 92’ gewesen sein. Da hab ich noch alles auf Platte gehabt … immer in die Bahn nach Köln, Saturn am Hansaring, jede Mark hingebracht, und heute Scheiß-Spotify, ein Klick und du hast alles da.
Ivi hob die Augenbrauen.
Again?
Ja, schon gut.
Wir fuhren über die alte Panzerstraße durch das militärische Sperrgebiet, an der Wahner Heide vorbei bis nach Lind.
Wo seid ihr früher immer zum Rummachen hingefahren?
Keine Ahnung, ich war noch Jungfrau, bis ich dich kennengelernt hab, antwortete ich, und sie schlug mir mit der flachen Hand auf den Oberarm.
Jaja, schon gut. Also, es gab da diesen Platz, oben an den Wolsbergen, da sind wir schon ab und zu mal gewesen.
Ab und zu?
Vielleicht zwei oder drei Mal.
Sie lachte.
Wir fuhren über den Steilhang der Weingartsgasse, unter uns die in der Dämmerung liegenden Höhenzüge und der sich durch die Talsohle windende Fluss, dunkel und ruhig.
Ich habs noch nie auf nem Rücksitz gemacht, sagte Ivi auf einmal.
Du meinst, auf dem Rücksitz hier?
Nein, auf gar keinem.
Ah, ich versteh schon, sagte ich. Ich kann dir aber nicht versprechen, dass es da noch genauso aussieht und genauso still und heimlich ist wie früher.
Finden wir es einfach heraus …
Es war ihr Lächeln. Es war schon immer ihr Lächeln gewesen. Sie sah mich an, ein kurzer Blick, wie rein zufällig, dann lächelte sie und ich wusste, dass alles richtig so war; sie und ich und das Haus und Dröhnland und Mike und der ganze Rest.
Ich fuhr bis an den Rand der Wiese, auf der ein paar vereinzelte Kühe standen und uns mit feuchten Augen anglotzten, dann schaltete ich Motor und Standlicht aus.
Und jetzt?
Jetzt trinke ich mir erstmal Mut an, sagte ich und griff nach der Flasche.
Aha, also so lief das … die Mädels zuerst besoffen machen und dann …
Nee, ich hab nie wen besoffen gemacht, hatte ich gar nicht nötig.
Moment mal, ich dachte, du warst noch Jungfrau?
Ich drehte den Verschluss ab, nahm einen Schluck und stellte die Flasche in die Mittelkonsole. Der Whiskey brannte auf der Zunge, breitete sich langsam und warm in den Eingeweiden aus, und ich lehnte den Hinterkopf gegen die Nackenstütze und schloss die Augen.
Hey, flüstere Ivi, und als ich die Augen wieder öffnete, hatte sie das Top ausgezogen.
Ich berührte die glatte Haut ihrer Brüste, spreizte meine Finger und legte meine ganze Hand flach unter ihre Kehle, spürte den Puls sanft in ihrem weichen Fleisch schlagen.
Deine Nippel haben die Farbe von Creme Brulee, sagte ich.
Du bist bescheuert.
Ja, stimmt, ich bin bescheuert, du hast Recht.
Komm her … Sie legte ihre Hände auf meine Wangen, zog meinen Kopf langsam zu sich und küsste meine Stirn, ihre Lippen geschlossen und kühl. Dann öffnete sie die Beifahrertür und stieg aus.
Ich wartete einen Moment in der Dunkelheit, trank noch einen Schluck Jack Daniels, und als ich mich neben sie setzte, schob ich meine Füße unter den Sitz, streckte meinen Arm auf dem kalten, harten Polster aus und sagte: Ich hab noch nie hier hinten gesessen, fällt mir gerade auf. Und übrigens hab ich dich belogen …
Du warst gar keine Jungfrau mehr?
Ich lachte. Nein, aber ich glaub, ich war öfter als drei Mal hier.
Dreißig Mal?
Vielleicht fünf. Oder sechs.
Sie setzte sich auf mich, legte eine Hand um meinen Nacken, ließ die andere auf meiner Schulter liegen, ich spürte die Spitzen ihrer Finger an meinem Hals, den leichten Druck, den sie ausübten, dann küsste ich die warme Stelle zwischen ihren Brüsten und sog den Duft ein, malzig und süß, verharrte einen Moment lang so, atmend, abwartend, das Zittern in meinen Lenden, die Erregung, dieses alte, ewige Gefühl, das einen immer wieder zurückführt, einen immer wieder zurückbringt zur Ursprünglichkeit, zu den nackten, rohen Gefühlen der Lust, des Verlangens.
Ihr heißer Atem strich an meinem Gesicht vorbei, und in dem Atem war dieser ganz bestimmte, betörende Geruch der mich wahnsinnig, der mich wild machte. Ich drückte Ivi auf die Sitzbank, küsste sie mit halb geöffneten Lippen, biss ihr leicht in Kinn und Ohrläppchen, ließ meine Zungenspitze ihren Hals bis zur Vertiefung über dem Brustbein gleiten und leckte die straffe Haut, nahm ihren salzigen Geschmack in mich auf, und sie griff in mein Haar, ihre Hand an meiner Wange, ihr Gesicht nur eine Ahnung, ein heller Schemen in der Dunkelheit, doch ihr Körper war überall, der Duft ihres Geschlechts streng und präsent, eine uralte Verlockung. Ich schob eine Hand unter ihren Rock, strich mit dem Daumen langsam über die pralle, feste Haut des Schenkels, kam dem heißen, pulsierenden Punkt immer näher, ihr Atmen nah an meinem Ohr, und meine Finger tanzten über den weichen Hügel ihrer Scham, fuhren durch die biegsamen Haare.
Wir beide hielten den Atem an, als ich in sie glitt, ein kurzer Augenblick des Erstaunens, als würde man etwas wieder zum ersten Mal tun, als müsse man alles erst lernen, und dann bewegte ich mich in ihr, behutsam, ungeschickt, ein Reiben, ein Kreisen, und sie zog mich auf sich, weiter in sich, umschloss mich ganz, und ich legte meine Stirn auf ihre Schulter, spürte das Beben leise beginnen, ein langsames und langes Vibrieren aus den Tiefen meines Körpers, das stärker und stärker wurde.
So hast du das also fünf oder sechs Mal gemacht, sagte Ivi, und ich küsste ihren Hals, hielt meine Lippen geschlossen, genoss unseren Geruch und ihre samtige, erregte Haut.
Ivi, sagte ich. Ivi …
Wir zogen uns wieder an, setzten uns auf die noch warme Motorhaube, rauchten abwechselnd eine von meinen Toscano und tranken kleine Schlucke Jack Daniels, sahen schweigend auf den Sternenhimmel über der Stadt, die sich schon für die Nacht bereit machte, immer mehr Lichter erloschen, nur die Abtei blieb in bläulichem Licht illuminiert. Auf der Rückfahrt legte Ivi eine Hand auf meinen Oberschenkel und ließ sie dort liegen, sie war klein und warm und zart, und ich umschloss sie mit meiner und wusste, dass da etwas zusammengehört.
Als wir auf der Matratze in unserem unfertigen Haus lagen, spielte ich wieder Jerry Jeff Walker für sie, und wir lagen eng nebeneinander, spürten die Haut des anderen und den Wind eines warmen Oktobers, rauchten filterlosen Zigaretten und waren eins mit der Welt.
Hast du es wirklich noch nie auf ner Rückbank gemacht?
Spielt das eine Rolle?
Ich schüttelte den Kopf, drehte mich auf den Rücken und betrachtete die Wand hinter uns, das satte, tiefe Rot.
Rectory Red, sagte ich. So nennt sich der Farbton. Hat man Man früher vor allem in Kirchen und Pfarrhäusern benutzt. Hab ich gelesen …
Ja, sagte sie. Ist gut, eine gute Farbe. Dann küsste sie meine Schulterspitze.
Ich ließ das kleine Licht solange an, bis sie eingeschlafen war und rauchte noch eine Zigarette. Ich starrte in die Dunkelheit, und ganz allmählich bekam der Raum wieder Konturen, wurden die Dinge sichtbar. Ich lag noch lange wach, den Geschmack des Whiskeys und ihrer Haut in meinem Mund, und als ich die Augen schloss wusste ich, dass sie Recht hatte, dass sie Recht behalten würde.