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Revenge - 27.7.1943
Er streicht mit dem Daumen über die drei Gesichter, dann steckt er das Bild umständlich zurück in die Kartentasche, denn die gefütterten Lederhandschuhe vermitteln kaum Gefühl in den Fingerspitzen.
„20 Minuten bis zu Abwurf, Jungs!“, knarrt die Stimme des Piloten in seinem Kopfhörer.
Vor sich hat er das klobige Bombenvisier, er liegt dahinter auf dem Bauch. Durch die Plexiglas-Fenster links und rechts im Rumpf und durch die große, rundliche Nase sieht er weit unter sich die dunkle Landschaft schemenhaft dahingleiten. Man kann Wälder, Straßen und Gewässer erahnen, Fabriken und Ortschaften, denn der Mond taucht alles in ein schwaches, aber gleichmäßiges Licht. Wolkenfetzen unterbrechen diesen Anblick immer wieder für ein paar Momente.
„15 Minuten bis zum Abwurf!“, tönt es in seinen Ohren und er schreckt hoch.
In der Maschine vermischen sich die Gerüche aus Benzin, Öl und Abgasen. Das Flugzeug schaukelt, bewegt sich auf und ab in unsichtbaren Luftlöchern, aber die vier Propeller fressen sich weiter unaufhörlich durch die eisige Luft. „Zum Glück noch keine Flak. Hoffentlich bleiben uns heute die verfluchten Jäger von Hals.“, denkt er und versucht zur Ablenkung die anderen Bomber draußen zu erkennen, die zu Hunderten mit ihnen in der Luft sind. Mit etwas Glück sieht man kleine, bläuliche Flammen, die aus den Auspuffrohren der 12-Zylindermotoren züngeln. Dabei fällt ihm trotz der Dunkelheit auf, dass die runde Plexiglas-Nase vor ihm viele feine Risse außen an der Oberfläche hat, durch die kleine Wassertropfen wie in Bahnen laufen. Der Fahrtwind presst sie blitzschnell nach hinten, bis sie verschwunden sind. „Ein schönes Bild“, sagt er leise. Ihm ist kalt.
„Noch zehn Minuten bis zum Abwurf!“
Die Motoren dröhnen weiter sonor, er kann ihre Kraft förmlich hören. In der Ferne ziehen Leuchtspurgeschosse am Himmel entlang. „Nicht für uns“, geht es ihm durch den Kopf und er muss lächeln. „Heute Nacht nicht, ihr Banditen.“
Unterhalb des Horizonts ist mittlerweile die Stadt zu erkennen. Das heutige Ziel ist eigentlich nur eine unregelmäßige Fläche aus lauter kleinen, hellen Feuern. Manche haben sich offenbar schon zu größeren Bränden vereint. Dazwischen kann man im Wiederschein der Flammen einen Fluss erahnen, der sich durch das Inferno schlängelt. Die erste Welle muss ganze Arbeit geleistet haben, außerdem braucht man so auch gar keine Zielmarkierungen mehr.
Er sieht plötzlich Bilder seiner Tante vor sich, wie sie mit ihrem ausgefallenen Hut neben der Glasschale mit den Bonbons steht. Aus dieser Schale auf dem Tisch im Wohnzimmer hatte er sich als Kind mit ihrem lächelnden Segen immer so gerne und reichhaltig bedient. Man hat sie erst Tage nach einem Luftangriff aus ihrem eingestürzten Haus gezogen. Stolz, wie sie war, hatte sie sich immer entgegen der offiziellen Anordnung geweigert, in den halbwegs sicheren Schutzkeller zu gehen.
Von draußen kommt mittlerweile Brandgeruch hinein, wie von schwelenden Holz. Trotz der Sauerstoffmaske kann er das deutlich riechen.
"Da unten sind vermutlich überall Frauen und Kinder. Die Stadt ist schließlich groß. Ob sie dort im Luftschutzkeller sitzen, zusammengekauert in ihrer Angst, hinter meterdickem Beton? Oder ob sie wie meine Tante unerschütterlich in ihren Häusern und Wohnungen ausharren, bis der ganze Spuk vorbei ist?" Er will diesen Gedanken schnell wieder vergessen, denn er ärgert ihn. „Sollen die da unten doch sterben, was kümmert es mich denn? Sie sind ja auch mit Schuld am Tod meiner Tante“, murmelt er von sich hin.
„Noch fünf Minuten bis zum Abwurf!“
Plötzlich explodieren Granaten. Kleine orange-rote Flecken verteilen sich über den ganzen Nachhimmel, blitzen kurz auf und verschwinden dann wieder. Die krachenden Explosionen der Flak in der Nähe schütteln das behäbige Flugzeug immer wieder durch. Er hatte zuvor die ganzen Maschinen am Boden gesehen, die von den Splittern getroffen wurden und auch die anderen Besatzungsmitglieder, die man oft genug aus den Wracks herausgeholt hatte, die es gerade noch so zurückgeschafft hatten – blutüberströmt und leblos, in 20000 Fuß Höhe zerfetzte Überreste von jungen Männern in gelben Schwimmwesten und grauen Uniformen, mit dicken Handschuhen und Stiefeln. Manchmal fehlten auch ganze Teile der Flieger und die armen Teufel waren durch große Löcher im Aluminium einfach in die kalte Nacht herausgerissen worden. Die galten dann wenigstens als vermisst und nicht als tot. Er denkt sofort an seinen Vater. Handelsmarine, schon vor dem Krieg. Sein Kohledampfer war vor fast zwei Jahren auf eine Seemine gelaufen; sein Vater gilt seit diesem Tag auch als vermisst. Für ihn und seine Mutter macht das aber keinen Unterschied – vermisst oder tot. Dad ist weg und kommt nie wieder. Er robbt etwas nach vorne, blickt direkt nach unten am Bombenzielgerät vorbei und brüllt in die Plexiglasnase hinein: „Auch daran seid ihr schuld! Fahrt zur Hölle! Meinetwegen könnt ihr alle verbrennen, verdammte Bastarde!“ Die Worte verhallen ungehört im Motorenlärm.
„Zwei Minuten bis zum Abwurf! Bombenschütze, übernehmen Sie!“. Die Stimme im Kopfhörer klingt nervös.
Die Bomben fallen kurz darauf aus dem Rumpf und das Flugzeug macht einen spürbaren Satz nach oben, erleichtert um das Gewicht von ein paar Tonnen todbringender Last. Der Pilot dreht ab und fliegt eine lang gestreckte Linkskurve. Unten sieht man die ganzen Brände noch deutlicher, Abertausende weiß-gelbe Tupfen vor einem schwarzen Hintergrund. Der Brandgeruch, der sich in seiner Nase festsetzt, ist jetzt unangenehm und intensiv.
Das Feuer der Flugabwehr wird schwächer. Sie fliegen nun über dem offenen Meer. Lange blickt er auf die sich bewegenden Spiegelungen des Mondes im Wasser unter sich. Er schüttelt dann mit dem Kopf und sagt langsam: „Was – für – ein - Wahnsinn.“
Währenddessen schiebt sich unbemerkt ein Nachjäger von hinten an den schweren Bomber heran. Auch der Heckschütze hat keine Ahnung von der grauen Maschine mit den dunklen Punkten auf dem Rumpf und den Flächen. Wie ein Schatten verfolgt sie ihr Opfer. Bei Tageslicht sieht dieses Flugzeug fast aus wie ein Haifisch, wäre da nicht die große, stachelige Antenne an der Nase. Geduldig hatte der Pilot des Jägers den Himmel abgesucht, nachdem auf dem Radar Feindflugzeuge zu sehen waren. Er sieht jetzt klar die kleinen, bläulichen Flammen vor sich, zum Greifen nah.
Auch der feindliche Flieger hat ein Foto an sein Instrumentenbrett geklemmt. Darauf ist er selbst zu sehen, zusammen mit seiner Frau und ihren beiden Töchtern. Sie alle stehen vor einer kleinen Holzhütte auf einer Wiese und halten frisch gepflückte Blumen in den Händen.