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Rosenregen
Nun regnet es schon den dritten Tag. Rote Rosen. Angefangen hatte es vorgestern mit einzelnen Knospen. Sie waren vom Himmel gefallen, wie ein sanfter Mairegen. Manche sprangen auf, wenn sie den Boden berührten. Andere blieben in Bäumen und Sträuchern hängen. Einige nahmen sich in den dunklen Haaren junger Mädchen ganz besonders schön aus. Nach etwa einer Stunde war der Boden vollständig bedeckt. Rosen versickern nicht. Dann kam ein Wind auf, die Wolken wurden dichter und was vom Himmel fiel, waren bereits vollständig aufgegangene Blüten. Ein unglaublicher Duft erfüllte zu dieser Zeit die Straßen. Die Leute, die es zunächst für einen Werbegag gehalten und eher mit Zurückhaltung beobachtet hatten, traten zögernd vor ihre Türen, nahmen das Wunder vorsichtig in die Hände, rochen daran, befühlten es, erkannten, daß es sich wahrhaftig um Blumen handelte und waren fassungslos. Einige weinten, einige dankten Gott, einige wurden verrückt an diesem Tag. Die Kinder freuten sich. Sie veranstalteten Rosenschlachten, bewarfen sich gegenseitig mit den sanften Blüten, bauten Hügellandschaften mit ihnen in die Stadt. Und der Regen nahm kein Ende. Gegen Abend versanken die Menschen bereits bis zu den Knien im roten Blumenmeer. Erste Stimmen wurden laut, man müsse etwas unternehmen, sich schützen, das Umweltamt befragen. Aber der Duft benebelte, die Farbenpracht bezauberte, staunend schlief die Welt ein.
Am nächsten morgen war der Regen wieder etwas schwächer. Kleine Kinder verschwanden aufrecht stehend unter den Blättern, Meteorologen gaben ihre verzweifelten Versuche, eine plausible Erklärung zu finden, endlich auf, biologische Test bestätigten, was jeder schon wußte: vom Himmel fielen echte Rosenblüten, nichts anderes. Die städtische Reinigung wußte sich nicht zu helfen und beauftragte die freiwillige Feuerwehr. Die gingen mit Wasser gegen die Pflanzen vor, so daß der luftige Teppich in sich zusammensank. Wie Blut bedeckte er die ganze Stadt, das ganze Land, die Welt. Und es regnete weiter. Mit Lastwagen wurden die Rosen abtransportiert, gepreßt, in großen Halden gelagert, aber viel Sinn hatte das nicht, solange immer neue fielen. Der Versuch, sie in den Straßen zu verbrennen wurde bald aufgegeben. Eine solche Gefährdung der allgemeinen Sicherheit wollte keiner verantworten. Als es Abend wurde maß man eine Blumenschicht von einhundertdreißig Zentimetern, nur wenige fanden Schlaf in dieser Nacht.
Nun regnet es schon den dritten Tag. Rosenblüten, Knospen und vereinzelt Dornen. Jedes Alltagsleben ist zum Erliegen gekommen. Die Menschen haben sich in den oberen Stockwerken ihrer Häuser versammelt und warten. Auf den Straßen ist keiner mehr. Noch lebt man gut von den Vorräten, die man so hat. "Eßt Rosen!" rufen sich die Leute scherzend von Fenster zu Fenster. Sie haben noch Mut. Es sind ja nur Pflanzen und so schöne obendrein. Aber wie es weitergehen wird weiß keiner so genau. Der Himmel ist wolkenverhangen, kein Ende in Sicht. Wir warten.