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Rotverschiebung
Es ist überall rot.
Früher als erwartet, kommt halt darauf an, was man erwartet. Gestern noch dieses zarte Rosa, wie in den letzten Monaten – dann sowas. Die sanften Farbtöne hatten die meisten bald ignoriert, sich damit abgefunden. Es bestand die Hoffnung, dass diese etwas lästige Anomalität jetzt endgültige Normalität war, ungewohnt, aber weitgehend harmlos. Natürlich gibt es einige unangenehme Einschränkungen, darauf hat sich jeder eingestellt, die Umstände gefügig akzeptiert. Das Rot hat mit seinen Tentakeln jede Ritze erobert, bildet ein unruhiges Linienmuster. Von dort ausgehend, ergießt es sich unerbittlich über die restlichen Flächen. Rot vibriert durch die Luft, wabert im Wasser. Es existiert überall, nur Menschen bleiben seltsamerweise von der Umfärbung verschont, wenigstens äußerlich. Ihre so unverschämt vertrauten Unschuldsmienen ergeben ein verwirrendes Bild: Sie scheinen inmitten dieser Rotheit zu schweben, gespenstische Irrlichter im alle Formen auflösenden Farbbrei. Wer weiß, wie viel davon ihren Köpfen entspringt, eigentlich ein Narr, wer hier rätselt. Unser Innerstes, dieses Menschsein: die Quelle verheerender Einfarbigkeit.
Die Zeit hämmert ihre entropische Beschaffenheit gnadenlos in selbstgerechte Gemüter: Sie ist keineswegs das einzige Problem, es gibt auch noch uns.
Menschliches Tun verwandelt sich in monochromen Rausch, Emotionen oszillieren bis zur Erschöpfungsexplosion in sich aufbäumender Resonanz. Stolz und das sonst allgegenwärtige Aufbegehren zerschellen an der rot-kreischenden, absurden Realität. Ein überhandnehmendes Rot, geboren aus immer wiederkehrender Hochmütigkeit, Ignoranz und Gewalt. Die filigranen Gebilde der Fürsorglichkeit werden rot zerstampft. Wir, nur wir: Wir Menschen haben dieses Monster mit gewissenlosen Taten genährt, gestärkt, lebensfähig gemacht; getrieben von Gier und Verblendung – bis hin zur taumelnden Vernichtung.
Es ist unser ureigenes ROT.
–
Putri blickte versonnen aus dem riesigen Panorama-Fenster. Das Rot erstreckte sich bis zu den Kuppeln der Nachrichtentransmitter, die in gelassener Beständigkeit ihre nunmehr rötlichen Laserimpulse in den Himmel schickten.
„Haben Sie sich entschlossen, Putri?“
„Ja, wir wollen diesen Weg gehen, klar, ganz sicher. Irgendwie muss man diesem Rot entkommen können. Wer weiß, wie lange wir dazu noch in der Lage sein werden. Uns stören jedoch die Digi-Gegner. Tayea, wie gefährlich können solche Querköpfe sein?“
Putri und Sagittarius zoomten Tayea näher zu sich heran, dadurch kam ihr freundliches Gesicht mit den goldenen Makropixeln unter der Haut erst richtig zur Geltung. Die Beraterin zögerte einen Moment, bevor sie antwortete.
„Problematisch werden momentan höchstens die anarchistischen Avatare, mit denen man Sie belästigt – eventuell startet jemand Ransome-Hacks. Man wird versuchen, Sie einzuschüchtern. Tatsächlich gibt es Ignoranten die verdrängen, in welche Sackgasse unsere physische Existenz geraten ist. Die blenden das Rot aus – keine Sorge, wir haben sie unter Kontrolle, trotz allen Widerstands. Wir können uns nicht leisten, dass die Leute durchdrehen oder das Digi-Programm ernsthaft in Gefahr bringen.
„Woher wissen die denn, wenn jemand am Digital-Children Projekt teilnimmt? Könnt ihr das kryptographisch verhindern?“
Putri nippte an ihrem Phytocell-Drink. Früher leuchtete das Getränk hellgelb, nun war es blass rot – ungewohnt, aber immerhin gesund. Die leicht nervöse Frau musterte ihren Genpartner intensiv, im Moment erwartete sie von ihm keine Antwort. Er zupfte ständig an seiner Unterlippe, wirkte überfordert. Sie streckte ihren schlanken Körper, schüttelte selbstbewusst ihre langen Glossy-but-Sticky-Look Haare, beobachtete konzentriert Tayea, wartete auf eine Erklärung.
„Jeder hinterlässt unabsichtlich Spuren im digitalen System. Wenn jemand mit fanatischem Eifer vermeintliche Übeltäter jagt, gibt es keinen ausreichenden Schutz. Leider gibt es Big-Data-Analysten, die relativ leicht nutzbare Hinweise finden. Die enorme Größe der für die digitale Zeugung benötigten Datenmenge macht es unmöglich, den Ursprung der transferierten Informationen zu verbergen.“
Das Gespräch hatte Sagittarius bis jetzt mit einer gewissen Anspannung verfolgt. Dem Zimmer gab er durch Gedanken-Input eine bläuliche Farbe mit einem dezenten Muster aus dunklen Strichen. Binnen weniger Sekunden wandelte sich das Blau in ein auffälliges Rot mit schwarzer Linien-Struktur um. Sagittarius nickte versonnen. Es machte den Eindruck, als wolle er sich vergewissern, inwieweit der Grund für ihre Entscheidung weiterhin existierte. Unvermittelt fixierte er Tayea intensiv mit seinen Sternchenmuster-Augen, ihre Aufmerksamkeit sollte ganz ihm gehören.
„Keine Ahnung, was ein paar ewig Gestrige gegen die Digital Children haben! Sobald man von der Naturgeburt zur Retorte überging, gab es heftige Proteste, ebenso bei der Genom-Optimierung – bis die Gesellschaft die Vorteile erkannte. So viel Leid ist verhindert worden! Anstelle der genetischen Rekombination werden nun halt algorithmische Ableitungen der Erbinformation ausgetauscht. Na und? Wir wünschen das Beste für unsere Tochter, sie soll unter keinen Umständen in einer menschenunwürdigen, von Rot bestimmten Wirklichkeit aufwachsen. Der Digi-Raum bedeutet Zukunft, wer will uns da Vorschriften machen? Niemand hat das Recht dazu.“
„Genau, niemand! Haben Sie noch eine Frage, Sie, Putri?“
„Ja – wie ähnlich wird sie uns sein?“
„Das werden Sie gemeinsam feststellen müssen. Aber Ihre Tochter wird wunderbar sein.“
_
„Warum sind eure Avatare nicht immer bei mir? So, wie es früher war? Ohne euch bin ich doch allein! Kommt doch für immer in den Digi, wenigstens du, Mutter, bitte!“
„Liebling … leider geht das nicht! Du weißt doch – ständig sind Aufgaben zu bewältigen, die man nur mit einem Körper erledigen kann. Das autonome Funktionieren des Digi-Raums ist noch lange nicht selbstverständlich. Aus gutem Grund hat man vorerst den KI-Robotern bloß bestimmte Verantwortungsbereiche überlassen. Schau nicht so misstrauisch! Vielleicht wird man ständig einige Spezialisten im analogen Leben brauchen. Kind – du gehörst zum priviligierten Teil der Menschheit mit der Chance auf einen Neuanfang. Bitte begreif endlich – du, du bist gesund, unabhängig, frei von all dem leidvollen Rot.“
Ahmux rief wütend etwas Unverständliches, rannte durch das hohe, feuchte Gras, bis sie eine etwa fünf Meter hohe, hölzerne Aussichtsplattform erreichte. Flink kletterte sie die Leiter empor.
„Schaut, ich bin ganz oben … und … und springe!“
Tatsächlich nahm Ahmux Anlauf, spurtete bis zum Geländer des Turms, um sich darüber zu schwingen. Sofort blieb sie in einer Art unsichtbarem, zähen Teig stecken. Notgedrungen musste sie, ein wenig beschämt, einige Schritte zurück gehen. Selbstverständlich hätte eine digitale Person den Sprung unbeschadet überstanden. Doch die nach dem Datentransfer eingesetzte Virtual-Life-Software verbot jegliche Aktionen, die unter analogen Bedingungen zu physischen Konsequenzen geführt hätten.
Mit verschränkten Armen wandte sich Ahmux trotzig an ihre Eltern:
„Ich will auch einen natürlichen Körper, möchte empfinden, wie ihr es könnt! Will unbehütetes Leben erfahren! Warum habt ihr mich zur Beta-Version eines Menschen verdammt!“
Ihr Vater wirkte wie jemand, der gleich die Beherrschung verliert, er schluckte. Nach einem kleinen Seufzer antwortete er mit ruhiger, deutlich rauer Stimme.
„Jederzeit kannst du die analoge Welt als Simulation erfahren, damit du verstehst, wie viel Aussichtslosigkeit dort herrscht. Aber ein Körper ... unmöglich, jedenfalls im Moment, warum auch? Wichtig ist: Wir lieben dich, spätestens seit deiner Zeugung haben wir eine bessere Existenz für dich gewollt …“
„Ja, dieser komischen ‚Informationsverschränkung‘, aus der ich entstanden bin …“
„Was soll der Spott? Ahmux, bitte! Sieh doch ein: Dir soll es gut gehen, ohne Schmerzen oder Alterserscheinungen, ohne dieses Rot, diesen belastenden Fluch. Nutze deine Chance, die riesigen Gestaltungsmöglichkeiten des Digi-Raums, erschaffe mit den anderen Digis einen lebenswerten Ort! Ihr seid doch anders als wir, ihr müsst nicht unsere Fehler wiederholen.“
„Ahmux, versteh uns. Warum wohl habe ich dir erzählt, wie dein Vater trotz seiner erst 108 Jahre manchmal kämpfen muss, wenn er seine Pflichten erfüllen will? Er besitzt keinen Regenerationsanspruch mehr. Dir bleiben solche Einschnitte zum Glück erspart.“
Sagittarius saß zusammengesunken am hinteren Ende der Animations-Einheit. Er genoss es, das Grün der künstlichen Natur anzuschauen, den blauen Himmel mit seinen Wolken. Aber im Moment hätte er seinen virtuellen Stellvertreter am liebsten im Digi-Raum abgemeldet. Der erschöpfte Mann unterließ es, das würde ihm seine Partnerin nie verzeihen. Wo waren die tollen Digital-Children-Adviser, wenn man sie brauchte? Gut – sie waren total überlastet, ohne Selbsthilfegruppe waren DC-Familien ziemlich allein mit ihren Problemen.
„Ihr habt für mich, nein, über mich entschieden, mir keine Wahl gelassen, Putri, wie konntest du das zulassen!“
„Mein lieber Schatz! Eltern haben immer unbequeme Entscheidungen getroffen, in jedem Zeitalter. Menschen müssen handeln oder sie bleiben untätig und sind somit leblos: Das ist seit tausenden von Generationen so. Meinst du, es war früher einfach, zu sagen: ‚Dieses Kind adoptiere ich, das da bleibt im Heim? Dieses Kind gebäre ich, selbst wenn gerade Krieg tobt‘?“
Putri wirkte aufgebracht. Offensichtlich fühlte sie sich in der Verantwortung, eine Art Rechtfertigung zu geben. „Wir haben uns deine digitale Entstehung ausgiebig überlegt, abgewogen, wollten einen Ausweg aus dem Rot erschließen. Gerne hätten dein Vater und ich manches besser bedacht, nur – jeder Mensch, auch du, kann lediglich das ihm Mögliche tun.“
Ahmux kauerte auf dem Boden, ihr digitaler Körper bebte. Sie weinte nicht – niemand wusste, ob sie es unterdrückte oder diese Emotion praktisch unmöglich war.
„Mutter …“
„… meine Liebe, ihr bestimmt, welche Welt ihr erschaffen werdet. Wir sind die letzte Generation, ihr seid die erste.“
„Rot ist mein Ballon,
er fliegt schnell davon,
in das viele Rot,
morgen sind wir tot,
keiner ist mehr da,
la, la; la, la, la.“
„Kind, lass das! Warum loggst du dich dauernd in die grässliche Realität dieser Kinder ein?“
„Weil ich richtiges Leben spüren will!“

!)
!
? Ich dachte schon, jetzt werde ich aus deinem Gedächtnis gelöscht (oder in den Digi-Raum verbannt oder du hetzt per Voodoo sämtliches Rot auf mich!).


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