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Serie Samstag: Ein Samstag Abend

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01.07.2001
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Samstag: Ein Samstag Abend

Es war ein Samstag Abend im Juni. Eigentlich ein typischer Samstag Abend, nichts deutete darauf hin, dass sich heute etwas grundlegendes in meinem Leben ändern würde.

Ich war gerade auf dem Weg von meiner Stammkneipe - wo ich mit einige gleichaltrigen Freunden Pool gespielt hatte – zurück nach Hause. Es war etwa halb 12, als ich am kleinen Kiosk an der Thormahnstraße vorbeikam. Eigentlich war das Kiosk eine Garage, aber der Besitzer hatte sie schon vor einigen Jahren in einen kleinen Laden umgewandelt. Hier gab es alles, von Zeitschriften über Bier und Zigaretten bis hin zu Snackartikeln. Das Kiosk lief gut, erstens lag es an einer vielbefahrenen Straße und zweitens war es das einzige in unserem Dorf. Natürlich war das Kiosk - meine Kumpel und ich nannten es scherzhafterweise immer 'Ratties', weil der Besitzer das Gesicht einer Ratte hatte – jetzt schon zu. Eine mit Werbeplakaten diverser Zeitschriften und Zigarettenmarken beklebte Rolllade versperrte den Eingang.

Aber das Kiosk war es auch nicht, was meine Aufmerksamkeit in diesem Moment erregte, sondern der Junge der davor saß.

Mit dem Rücken hatte er sich an die Rolllade des Kiosks gelehnt, die Beine angezogen und mit den Armen umschlungen, den Kopf stützte er auf seine Knie. Den Kopf nach unten, so saß er da. Ab und zu konnte man ihn schluchzen hören.

Eigentlich bin ich nicht der Typ, der auf andere zugeht und sie anspricht, aber die Art wie er da saß, den Kopf mit den kurzen blonden Haaren auf die Knie gestützt, lies ihn so verletzlich aussehen. Und so setzte ich mich neben ihn.

"Hey, was ist los", fragte ich.

Ich hörte nur ein Schluchzen und dann ein Schniefen.

Ich konnte nicht anders, ich musste ihn umarmen und ganz fest an mich drücken, ihn beschützen, vor was auch immer ihm Leid zufügt hatte. Nie zuvor hatte ich dieses Gefühl gehabt, es war so übermächtig. Das ist es wohl, was man 'Beschützerinstinkt' nennt, dachte ich.

Der Junge hörte nicht auf zu schluchzen, nein es wurde sogar noch schlimmer. Aber er wehrte sich nicht gegen meine Umarmung, nein er schien sie sogar zu suchen.

Auf einmal wurde ich mir der Situation bewusst in der ich steckte. Hoffentlich kam jetzt niemand vorbei, was musste derjenige wohl von mir denken, mitten in der Nacht bei 'Ratties' einen fremden blonden Jungen in den Armen haltend.

Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto weniger störte mich der Gedanke. Was kümmert es die anderen was ich mache?

Der Junge schluchzte wieder gar herzzerreißend und schniefte.

Wenn ich etwas hasse, dann ist es wenn Leute schniefen, und so kramte ich ein Taschentuch aus meiner Hosentasche hervor. Es war zwar ziemlich zerknittert, aber sauber und ungenutzt. Ich reichte es ihm hin.

Zögernd griff er danach. Dann schnäuzte er sich die Nase.

Ein Gemurmel, welches wohl "Danke" bedeuten sollte kam unter dem Kopf hervor.

"Keine Ursache", antwortete ich, "aber willst du mir nicht mal erzählen was los ist?"

Hah, ich fasste es ja selbst nicht, ich quatschte gerade mitten in der Nacht einen fremden blonden Jungen auf seine Probleme an.

Als Antwort bekam ich wieder verstärktes Schluchzen zu hören. Jetzt wurde es mir aber zu bunt. Ich fasste den Jungen an den Schultern und drehte seinen Kopf in meine Richtung.

Mir stockte fast der Atem, als das Licht der Straßenlaterne auf sein Gesicht viel.

Der Junge war vielleicht 17, also zwei Jahre jünger als ich. Er hatte tiefblaue – jetzt gerötete - Augen und schmale Lippen. Alles in allem war sein Gesicht recht feminin und recht jugendhaft.

Ich setzte zu einem Satz an, brach ab und versuchte es noch einmal.

"Was...was ist los?"

Er versuchte sein Gesicht wegzudrehen, aber ich hielt ihn fest. Dann funkelten seine Augen kurz.

"Ich bin schwul, das ist los!"

Ich war geschockt. Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Seit 4 Jahren verheimlichte ich allen, dass ich schwul war, traute mich nicht einmal es meinen Eltern zu erzählen - obwohl gerade meine Eltern sehr aufgeschlossen waren – aus Angst vor der Reaktion der Leute hier im Dorf.

Und da sitzt dieser Junge mit seinen vielleicht 17 Jahren und tischt mir, einem vollkommen Fremden, das auf.

"Na und? Bin ich auch und ich sitze nicht hier rum und heule."

Hatte ich das gerade wirklich gesagt? Ich hatte mich gerade vor diesem Jungen geoutet.

"Wirklich", kam natürlich prompt die Frage.

Was mache ich nun, dachte ich mir. Jetzt könnte ich vielleicht die ganze Sache noch herunterspielen. Aber wollte ich das eigentlich?

Ich nickte.

Nun saßen wir da, schwiegen uns an. Seine Tränen versiegten und ich stellte fest wie wunderschön seine Augen doch waren. Jeden Augenblick rasten kalte Schauer meinen Rücken herab und meine Arme entlang, und obwohl es nicht kalt war bekam ich eine Gänsehaut.

Und dann begann er zu erzählen, ohne das ich ihn nochmals aufgefordert hätte.

"Ich weis seit 2 Jahren das ich schwul bin", ich nickte mit 15 war auch mir es bewusst geworden, "bisher hab ich es niemanden gesagt, aber heute ist mein Vater dahintergekommen. Er hat meine Sachen durchsucht, das hat er wohl schon immer gemacht, ohne das ich es wusste. Und er hat mein Tagebuch gefunden und gelesen."

Er machte eine Pause, als müsse er Energie sammeln um weiterzureden.

"Ich hatte es gut versteckt, es geht nur mich etwas an, verstehst du? Ich hatte es so gut versteckt, trotzdem hat er es gefunden. Er hat es gelesen. Das ganze Buch.

Als ich dann heute Abend wieder nach Hause kam hat er es mir dahin geklatscht. Mich angeschrieen, was diese Perversitäten sollten. Ich wäre eine Schande für die Deutschen, man müsse mich umerziehen und in ein Heim stecken. Ich wäre ja nicht normal hat er gesagt. Eine Missgeburt.

Da bin ich weggelaufen. Ich gehe da nicht mehr hin zurück."

Jedes Wort hatte geschmerzt. Jedes einzelne Wort hatte mich zutiefst betrübt. Ich spürte wie etwas heißes meine Wange herunterlief und einen salzigen Geschmack auf meinen Lippen hinterlies.

Ich sah ihn an, sah in seine tiefblauen Augen, die wieder begonnen hatten zu tränen.

Er war so zerbrechlich, so schutzlos, so wunderschön. Ja wunderschön das war das Wort das ich so lange gesucht hatte um sein Gesicht zu beschreiben.

Ich beugte mich ein wenig vor und küsste ihn sanft auf die Wange. Seine Haut war unendlich zart.

Er sah mich an.

"Komm", sagte ich, "heut' Nacht schläfst du erst mal bei mir."

Er sah mich weiter an.

"Und deine Alten?"

"Das sehen wir Morgen."

 

Eine sensibel geschriebene Geschichte, emotionsgeladen, ohne dabei kitschig zu wirken. Hat mich sehr berührt.
Ist es heutzutage immer noch so schwer, sich zu outen?
Ich habe mein Leben lang versucht, die Menschen so zu nehmen, wie sie sind, aber stimmt: Ich kenne, wenn ich so darüber nachdenke, eine Menge Leute, die gegen alles mögliche Vorurteile haben.
Scheiß einfach drauf... <IMG SRC="smilies/pukey.gif" border="0">

Ingrid

 

Nein, sicherlich ist es heute deutlich einfacher sich zu outen als früher. Die Gesellschaft akzeptiert uns Schwule/Lesben heute mehr denn je. Allerdings vor dem öffentlichen Coming Out steht immer noch das innerliche und obwohl man kaum negative Reaktionen fürchten muss hat man doch Angst vor dem Moment wo es rauskommt. Außerdem ist die Akzeptanz von Region zu Region sehr unterschiedlich. Wer in einer Großstadt lebt hat es im allgemeinen einfacher als jemand der in einem kleinen verschlafenen Nest irgendwo in der tiefsten Provinz lebt.

 

hmm, warum entdecke ich die geschichte eigentlich erst jetzt? grummel...
na gut, also: bis auf ein paar klitzekleine schnitzer find ich es sehr beruhigend, dass die kurzgeschichte nicht von einigen hier zerrissen wurde :-))
na guuut, schreib doch mal mehr der art...

 

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