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Schlachtfelder
“Kirsty”, flüsterte es kichernd hinter ihr.
Sie würde sich nicht umdrehen, wer wusste denn, was die anderen schon wieder Gemeines vorhatten.
“Kirsty, he, ich will dich was fragen!” Es war Marks einschmeichelnde Stimme und die dumme Gans, die so hysterisch lachte, war ihre ehemalige Freundin Anne, die sich wahrscheinlich neben Mark im Sitz lümmelte und bereit war, über jeden sinnlosen Witz zu lachen, den sein Miniaturhirn hervorbrachte.
Kirsty konnte aus den Augenwinkeln heraus Marks roten Pullover sehen, denselben, an den sie sich vor noch nicht ganz zwei Monaten geschmiegt hatte. Unfassbar, dass sie Mark tatsächlich einmal toll gefunden hatte, aufregend gar, interessant. Wo hatte sie da nur gerade ihren Verstand abgelegt ... Nach einem Monat mit ihm war ihr klar geworden, dass sie es keine weitere Minute in seiner Gesellschaft aushalten konnte, seine geschmacklosen Kommentare, seine schwitzigen Hände, die ihr unter dem Pullover herumfuhrwerkten, als ob sie Teig kneteten, ja selbst der angeberische Klingelton an seinem Handy hatten ihr den letzten Nerv geraubt. Und so hatte sie mit ihm Schluss gemacht, freundlich und höflich, in der Meinung, die Sache sei damit erledigt.
Aber einen Mark ließ man nicht einfach so fallen wie eine heiße Kartoffel. Ein Mark wollte erobern und bestimmen, auch den Zeitpunkt der Trennung, die selbstverständlich von ihm ausgehen musste. Es war daher nicht sonderlich überraschend, dass er beleidigt in der Schule herumerzählte, sie sei arrogant und hässlich, fett und frigide. Kirsty hatte das fast erwartet und daher nur mit den Augen gerollt, als Anne ihr davon berichtet hatte.
Doch nichts hatte sie auf die Lawine vorbereitet, die dieser Mistkerl ins Rollen brachte.
“He, Kirsty, wir haben was Schönes für dich!”
An den vielen Stimmen, die in das Kichern einstimmten, erkannte sie, dass wahrscheinlich mittlerweile die gesamte letzte Reihe auf ihren Rücken starrte. Obwohl es in der Schulbusordnung vorgesehen war, dass die Großen hinten sitzen durften, hätte sie jetzt liebend gerne mit einem der Fünftklässler in der ersten Reihe getauscht. Sie überlegte, ob sie aufstehen und sich eine Reihe weiter vorn hinsetzen sollte - neben der dicken Annelie war noch ein Platz frei, die hätte bestimmt nichts dagegen.
Aber es wäre eine Flucht und außerdem die absolute Niederlage. Wer sich mit der dicken Annelie verbrüderte, war praktisch unsichtbar, rutschte sang -und klanglos ins Tal der Nichtbeachtung.
Aber schlimmer konnte es ja wohl kaum noch werden.
Kirsty gab sich einen Ruck und wollte aufstehen, aber es ging nicht.
“Ooooohhh!”, machte es hinter ihr spöttisch, sie konnte Tims prustendes Lachen hören, jemand schlug sich auf die Schenkel, jemand grölte: ”Spitze, Alter!”
Jemand hatte sie mit dem Gurt ihrer eigenen Tasche am Sitz festgebunden.
Kirsty spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, es half alles nichts, sie musste sich den Tatsachen stellen.
Als sie ihren Kopf nach hinten drehte, fühlte sie einen Moment lang den Windzug, von etwas, das durch die Luft flog.
Im nächsten Moment landete ein Joghurtbecher auf ihrem Kopf.
Weisse Pampe verschmierte ihr das rechte Auge und lief hinunter zu ihrem Mund.
“Ablecken, Kirsty”, sagte Mark fast zärtlich. Sein triumphierender Gesichstausdruck war schlimmer noch als der Joghurt in ihren Haaren, schlimmer als der hämische Gesichtsausdruck ihrer ehemaligen besten Freundin und das erstickte Lachen der anderen.
“Du bist so ein Arschloch Mark”, sagte Kirsty mit all der Würde, die sie noch aufbrachte. Sie nestelte die Tasche los und hastete nach vorn, niemand sollte ihre Tränen sehen, die sie nicht mehr zurückhalten konnte.
Zwei Stationen zu früh stieg sie aus, die anderen lachten immer noch und winkten ihr zu.
Den ganzen langen Heimweg liefen ihr die Tränen über das Gesicht, der Joghurt verklebte ihr die Haare, sie musste einen herrlichen Anblick bieten.
Hoffentlich war ihre Mutter noch nicht zu Hause, das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, waren peinliche Fragen, mitleidige Blicke oder gar ein: ”Na, da werde ich mal deine Lehrerin anrufen, wo kommen wir denn da hin!”
Ihre Mutter konnte das hier nicht verstehen, niemand konnte es verstehen. Ihre Mutter fragte immer noch arglos nach den “netten Freunden”, die auf einmal ausblieben, Freunde, die schon längst keine mehr waren, seit Mark sie alle auf seine Seite gezogen hatte. Allerdings wäre er wohl kaum so erfolgreich gewesen, wenn eine gewisse beste Freundin ihm nicht dabei geholfen hätte.
Anne, das hinterlistige Stück.
Anne hatte sich wochenlang ihre Klagen über den Trampel Mark angehört, gemeinsam hatten sie sich über ihn mokiert, hatten kreischend vor Lachen sein lächerliches: ”Whatsup Baby?” nachgemacht.
Zwei Tage nachdem sie Schluß gemacht hatte, war Anne an seinem Arm auf dem Schulhof erschienen und hatte so getan, als hätte sie Kirsty noch nie im Leben gesehen.
Glücklicherweise war ihre Mutter noch nicht zu Hause, so dass sie sofort unter die Dusche stürzen konnte. Als ihre Mutter eine halbe Stunde später hereinkam, saß sie schon mit nassen Haaren am Computer.
“Na, mein Schatz?”, sie guckte neugierig auf Kirstys Bildschirm, “machst du schon wieder Hausaufgaben?”
“Hmmm.”
Kirstys Handy klingelte und sie ging ran.
“Na, Joghurtkopf!”, sagte eine Jungsstimme. Jemand lachte im Hintergrund.
Kirsty schaltete das Handy aus.
“War das Anne?”, fragte ihre Mutter, der hoffnungsvolle Ton war nicht zu überhören.
“Falsch verbunden”, antwortete Kirsty. “Mama ich habe wirklich zu tun.” Ihre Wangen brannten wie Feuer.
Der nächste Tag war an Scheußlichkeit kaum noch zu überbieten.
Es schien, als hätte Mark die gesamte zehnte Klassenstufe aufgehetzt, spöttische Blicke verfolgten sie durch alle Korridore.
In der Mittagspause setzte sie sich draußen mit einem Buch auf die Bank.
Annelie kam vorbei und winkte ihr zögernd zu.
Kirsty hatte plötzlich das Bedürfnis, mit jemandem zu reden. “Gehst du auch nicht essen?”
Annelie zuckte mit den Schultern. “Hab keinen Hunger.”
Kirsty schielte Annelie von der Seite an. Das war so eindeutig gelogen, dass sie sich nicht einmal die Mühe machte, darauf einzugehen. “Sie können echt fies sein, was?”
Annelie antwortete nicht.
Kirsty ließ ihrer Wut freien Lauf. "Sie sind bescheuert! Sie sind totale Arschlöcher, allen voran dieser widerliche Mark."
“Aber trotzdem willst du gern mit ihnen befreundet sein.”
Kirsty schaute Annelie verblüfft an.
“Wie kommst du darauf? Natürlich nicht, sie sind mir egal!” Aber das stimmte nicht, dachte sie im selben Moment, wie konnten sie ihr egal sein, wenn sie sich so darüber ärgerte. Annelie hatte Recht. “Ich will einfach nicht alleine sein”, gab Kirsty zu. “Niemand will das gern, man braucht eine Gruppe, zu der man gehört.”
“Ich bin lieber alleine, wenn das da die Alternative ist!” Annelie nickte mit dem Kopf in Richtung der lärmenden Masse, die jetzt aus dem Speisesaal quoll.
“Sie haben nichts, was ich will oder brauche. Sie kommen nur an dich heran, wenn sie merken, dass du dazugehören willst. Ich habe andere Freunde."
Annelie stand schwerfällig auf und nahm ihre Tasche. “Wir stellen historische Schlachten nach, manchmal kommen Hunderte von Leuten. Es macht unheimlichen Spaß, sieh es dir doch einmal an!” Damit ging sie weg.
Historische Schlachten? Kirsty war so verblüfft über diese unerwartete Offenbarung, dass sie den ganzen restlichen Schultag darüber nachdenken musste und die Stänkereien der anderen gar nicht richtig registrierte.
Den ganzen Abend lang googelte sie sich durch diese seltsame Schlachtenkultur, von deren Existenz sie bislang keine Ahnung gehabt hatte.
Was gab es eigentlich noch alles, wovon sie keine Ahnung hatte?
Eine ganze Menge, wie sich herausstellte. Wieso hatte sie nur ihre Zeit mit Gedanken an Mark und seine Handlanger verschwendet?
In den nächsten Tagen überkam sie ein paar Mal das unbestimmte Gefühl, dass es einigen Leuten langweilig wurde, sie zu ärgern, als ob sie merkten, dass Kirsty gar nicht richtig bei der Sache war.
Zwei Wochen später klingelte es an ihrer Tür und eine völlig verheulte Anne stand davor.
“Er hahat eine Andandere..., wimmerte sie. “Er sagt ich bin…ich bin… ihm zu juhung!”
Sie wollte ihre Arme um Kirstys Hals werfen, aber Kirsty trat einen Schritt zurück.
“Das tut mir leid für dich, Anne”, entgegnete sie, “aber damit musst du schon selber klarkommen."
“Was?”, schluckte Anne. “Aber du brauchst mich, wir sind Freundinnen, du hast doch sonst keinen! Außerdem”, hier blitzten ihre Augen triumphierend, “hat er dich doch auch sitzengelassen!”
Obwohl das nicht der Wahrheit entsprach, zuckte Kirsty nur mit den Schultern.
Anne hatte nichts, was Kirsty wollte oder brauchte.
Die erste Schlacht war geschlagen.