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Schuld

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02.04.2004
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Schuld

Ein letzter Blick in den Spiegel. Wie jeden Morgen. Sie seufzte, stellte sich besonders gerade hin und band sich ihre blonden Locken streng nach hinten zu einem Pferdeschwanz zusammen. Nun musste sie sich konzentrieren, hob erst die Augenbrauen leicht an, zog dann die Winkel ihres vollen Mundes nach oben und kniff schließlich die Augen zusammen. Es entstanden tausend kleine Lachfältchen, die jedoch noch immer unter salzigen Tränen glänzten.
Genervt gab sie für einen Moment lang ihr Kunstwerk auf, rieb sich mit den Ärmeln ihres Pullovers über die Augen bis sie rot waren. Noch einmal den geballten Schmerz, der sich wie jede Nacht in ihrer Kehle gesammelt hatte, runterschlucken und auf geht’s. Ein neuer Versuch. Augenbrauen wie Mundwinkel nach oben, die Augen ein wenig kneifen, und bitte. Die Maske schien perfekt und schaffte es für einen Augenblick sogar sie selbst zu täuschen. Zufrieden betrachtete sie sich und gab sich das okay, es nun zu wagen, hinauszugehen und einen Schultag so normal wie jedes andere Mädchen im Dorf zu verleben.
Doch etwas war anders als sonst. An jedem anderen Morgen der letzten vier Jahre war die perfekte Maske, sobald sie die Türschwelle ihres Elternhauses übertreten hatte, eins mit ihr geworden, in sie übergegangen und sie konnte sich sicher fühlen, dass niemand ihr darunter verborgenes Geheimnis lüften würde. Aber heute brach ihre Mimik nach wenigen Schritten bereits zusammen, musste immer wieder erneuert werden, benötigte Konzentration, so dass sie schon fast keine Kraft mehr hatte, als sie in der Schule ankam und wie immer herzlich begrüßt wurde.
Unendlich lang lag der Tag vor ihr und sie wusste nicht, wie sie ihn überstehen sollte. Von der Masse ließ sie sich hinauf in den dritten Stock des Schulgebäudes ziehen, lächelte ab und an nach links und nach rechts, als höre sie den Witzen und Scherzen ihrer Kameraden zu. Benommen wankte sie zu ihrem Platz. Der Lehrer war noch nicht da und so herrschte ein Durcheinander und Chaos in dem kleinen Zimmer, hinter dem sie wunderbar in die Unauffälligkeit verschwinden konnte.
Mit wirrem Blick verfolgte sie eine harmlose Rauferei zwischen zwei Jungen, die sich lautstark auf dem Boden wälzten und im Spaße schrieen. Schläge, Knuffe, Gezerre. Nach einigem hin und her hockte der Stärkere schließlich auf dem kleineren und zückte einen Bleistift, wie als Waffe.

Ihr Blick wurde jetzt ganz starr, sie driftete in ihre eigene Welt.

Um Himmels Willen, was geschah denn dort? Der größere stach wieder und wieder zu, ließ sich in seinem Wahn nicht beirren. Ein schrecklich brutales, aber vertrautes Geräusch von reißendem Fleisch. Das Blut spritzte aus der Wunde auf den Boden, auf den Mordenden. Er wollte und wollte nicht aufhören und ließ, auch als es sich nicht mehr wehren konnte, nicht von seinem Opfer ab.
Ihre Maske hatte sie längst fallen gelassen. Warum unternahm denn niemand von den anderen etwas? Sah denn keiner was sie sah? Verwirrt erhob sie sich, starrte zunächst weiter auf die beiden Raufenden in der wachsenden Blutlache. Sie kannte diese Szene ganz genau. Aber diesmal würde sie nicht wegsehen, sich kaufen und erpressen lassen. Nein, sie würde Mut beweisen.
Doch etwas ließ sie innehalten. Sie fühlte Kaltes an den Händen. Ihr Blick strich langsam hinunter und sie sah, dass sie ebenfalls mit Blut bedeckt waren, das auf die Fliesen des Klassenzimmers tropfte. In Panik versuchte sie, es abzuwischen, an der Hose, am Pullover, der auch die Tränen so gut aufgesaugt hatte, aber es floss weiter. Bald hatte sich ein kleiner See an ihren Füßen gebildet, der allen ihre Schuld präsentieren wollte. Sie wischte und rieb weiter, doch das Blut kannte seinen Weg.
Ihr wurde ganz kalt und sie begann zu wanken. Kein Stuhl, keine Wand konnte ihr jetzt mehr Halt geben, und sie machte sich langsam auf den Weg von ihrem Platz zur Fensterfront, die ganze Zeit auf die beiden Jungen in der Blutlache starrend. Der Größere führte maschinen-ähnlich die Stechbewegung weiter aus. Er war viel stärker als sie, und sie wollte nun auch gar nicht mehr eingreifen. Sie hatte aufgegeben.

Leise öffnete sich ein Fenster im dritten Stock des Gymnasiums und vom Rest der Klasse unbemerkt entkam ein unschuldiges blondes Mädchen in die Freiheit.

 

Hi peanutmonster,

obwohl sehr traurig, eine wirklich bedrückende Geschichte. Da ich selbst Kinder habe, treffen mich solche stories immer besonders hart.
Die Tatsache, daß das kleine Mädchen keinen Ausweg mehr gesehen hat ... Schreckliche Vorstellung.
Für mich eine sehr gut geschriebene Geschichte, die mich sehr berührt hat (Du merkst, ich kann gar nicht mehr aufhören).
Ich fand sie nicht unbedingt spannend, aber es hat Spaß gemacht, sie zu lesen (obwohl mich das Thema sehr stark... nein, lassen wir das jetzt)

Auch der Anfang ist Dir besonders gut gelungen. Die Beschreibung der Maske, super!

An jedem anderen Morgen der letzten vier Jahre war die perfekte Maske, sobald sie die Türschwelle ihres Elternhauses übertreten hatte, eins mit ihr geworden,
... einfach genial!!!

Denke, gerade durch solche Passagen schaffst Du es, solche Emotionen beim Leser hervorzurufen.

Bis demnächst! Salem

 

*genüsslich sonn* jaja, solche Kritiken retten den Tag...danke! :bounce:
Über die Spannung denk ich trotzdem nochma nach... :susp:

Peanutmonster
(dein Trauma überwindest du sicher bald ;) )

 

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