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Schulden unter Freunden
Finnigan suchte nervös nach einem Augenzwinkern, einem Schmunzeln, irgendetwas. Doch Gork, der Wirt der "Bilge", blieb völlig ernst. Er nahm einen weiteren der auf den Tischen gestapelten Schemel und knallte ihn mit Nachdruck auf den Steinboden der zu dieser Tageszeit noch leeren Taverne.
"Nein, Finn. Du kannst hier nicht mehr anschreiben."
Das war schlimm. Die Bilge war immer Finnigans rettender Hafen gewesen, wenn die Geschäfte mal wieder nicht so gut liefen. Und im Moment liefen sie katastrophal.
"Aber Gork, ich ..."
"Kein Aber. Hättest halt nicht versuchen sollen, die Kuttenköpfe auszutricksen. Die hast du jetzt am Hals. Wer will denn jetzt noch mit dir Geschäfte machen?", sagte Gork.
"Fletcher schuldet mir noch mehrere Gefallen" erwiderte Finnigan. "Und da sind noch Buster und Reomer am Stadtor, die schulden mir sogar Geld."
Finnigans Stimme wanderte ein paar feine Tonlagen höher, als die Nervosität in Panik umzuschlagen drohte. Er nestelte an den Schnürbändern seines nicht mehr ganz so weißen Hemdes herum. Gork lächelte schief.
"Finn, jetzt stell dich nicht so an. Tauch einfach für einige Zeit ab, bis du wieder mehr Wasser unterm Kiel hast. Und bis dich keiner mehr von deinen neuen Freunden bei mir sucht. Die vergraulen mir nämlich die Kundschaft."
Bis zu diesem Moment ging Finnigan noch davon aus, sich auch aus diesem Schlamassel wieder herauswinden zu können. Immerhin hatte er, seitdem er damals auf einem der Kauffahrerschiffe angeheuert hatte, schon eine Menge Schwierigkeiten heil überstanden. Aber dann fischte Gork ein zusammengefaltetes Pergament aus seiner Weste hervor und schnippte es direkt vor Finnigan auf den Tisch. Auf dem abgewetzten, rissigen Holz wirkte das saubere Papier wie aus einer anderen Welt. Und mitten auf dem Brief prangte das Siegel des Orgran-Ordens: Ein einfacher Zweig mit einigen wenigen Blättern daran, sonst nichts.
Die Sekunden verrannen, ohne dass Finnigan sich rühren konnte. Der Lärm des nahen Hafens brandete gedämpft durch die zugigen Fenster. Irgendwo in den Räumen hinter dem Tresen klirrte etwas, das wie Glasscherben klang. Doch Gork stand einfach nur mit verschränkten Armen da und ließ Finnigan nicht aus den Augen. Glühend nagte die Sorge in Finnigans Eingeweiden, wie ihn die Mönche so schnell finden konnten. Wie lange hatte er in diesem Lagerhaus gelegen?Er wusste es nicht mehr. Wenn doch nur wenigstens diese Kopfschmerzen nachlassen würden. Er strich mit den Händen über die störrischen dunklen Haare, die er im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden trug. Erst als Gork mit leichtem Rasseln tief einatmete und erneut in Richtung des Papiers nickte, wurde das Schweigen für Finnigan unerträglich. Es tröstete ihn nur wenig, dass seine Finger nicht zitterten, als er den Brief vom Tisch nahm und das Siegel brach.
Zu seiner Überraschung enthielt das gefaltete Papier einen weiteren Umschlag. Ein schwacher süßlicher Duft ging davon aus. Unter dem Umschlag, auf der Innenseite des ersten Schreibens, fand Finnigan einige Zeilen in sorgfältig verzierter Handschrift:
Hoch geschätzter Mr. Thadwick Finnigan,
Ein Bedauern, fast so unermesslich wie die Leiden des Heiligen Orgrans, entfachte die Nachricht des Verlusts der Euch anvertrauten Wagenladung roter Batang-Samen in unseren Herzen. Um so mehr erfreut es uns, dass Ihr noch immer bei bester Gesundheit seid. Gewiss werdet Ihr uns unseren Verlust baldigst entschädigen wollen. Wohl dürfte es aber einige Zeit dauern, bis Ihr die bescheidene Summe von 35.000 Goldrand zu Eurer Verfügung haben werdet. Daher sind wir auch gerne bereit, Eure bemerkenswerten Talente in Anspruch zu nehmen und deren Ertrag Eurer Schuld gegenzurechnen.
Wir haben Euch ein Schriftstück beigefügt, das Euch von der kürzlich aus Siomer zurückgekehrten Lady Talboth gesendet wurde. Durch einen glücklichen Zufall ist es allerdings in unsere Hände geraten. Wir können Euch durch diese unerwartete Fügung schon jetzt ein Angebot unterbreiten, wie Ihr Euch die Dankbarkeit unserer Gemeinschaft verdienen könntet.
Nehmt die von Lady Talboth ausgesprochene Einladung an, bringt in Erfahrung, was die hochgeborene Lady Talboth von Euch wünscht und teilt uns dieses diskret mit. Alle weiteren Geschäfte bleiben Eurem Geschick überlassen. Wir werden in drei Tagen wieder mit Euch in Kontakt treten.
Um Euch die letzten Zweifel an der Ernsthaftigkeit unseres Angebotes zu nehmen, haben wir Euch ein kleines Zeichen unserer Verbundenheit mitgegeben. Der tätowierte Drachen, der Euch sicherlichst schon an Eurem Hals aufgefallen ist, ist wie so vieles nur der oberflächliche Schein einer tieferen Wahrheit. Das Tier lebt - auf eine transzendentale Weise - und es gehorcht unserem Wort. Und seine Krallen reichen bis zu den zerbrechlichen Wirbeln Eures Nackens.
Varogas
Die Stimme war nicht lauter als die ruhige See an einem Kiesstrand.
„Finnigan...“
Die Stimme schwoll an und versickerte sogleich wieder in einem unverständlichen Rauschen. Immer wieder aber tauchte der eine Name empor wie ein Stück Treibholz in der Brandung.
„Finnigan...kannst du mich hören?“
„Wer stört?“ antwortete Finnigan mürrisch.
Er konnte nichts erkennen. Er schwebte scheinbar in einem Nebel, ohne dass sich irgendwo Schatten abzeichnen würden. Ohne Horizont wurde Finnigan schnell übel.
„Gute Manieren sind selbst in Träumen keine Schande“, sagte die Stimme.
„Wenn ich mich zwicke, dann bin ich dich also los?“
„Nur wenn ich Lust dazu habe. Das ist für einen ungeschulten Menschen nicht zu begreifen, also versuch es erst gar nicht.“
Die Stimme schwebte um Finnigan herum. Sie wanderte mal hierhin und mal dorthin. Bald schon gab er es auf, sich der Quelle der Stimme zuwenden zu wollen.
„Wer bist du eigentlich, dass Du glaubst, mich beleidigen zu können? Verschwinde und erschrecke kleine Kinder im Schlaf“, entrüstete sich Finnigan.
„Das wäre deutlich unterhaltsamer. Aber ein gemeinsamer Bekannter hat dafür gesorgt, dass ich jetzt ein Gefangener in den bescheidenen Verhältnissen deines Kopfes bin.“
„Du bist der tätowierte Drache auf meinem Nacken?“
Stille. Mit einem beleidigten Unterton.
„Das ist nur ein Symbol. Nenn mich einfach Maladorin, das kommt meinem richtigen Namen nah genug.“
„Moment! Der Orden, eine Lady, jetzt ein Geisterdrachen. Was wollen denn plötzlich alle von mir?“
„Was die Anderen wollen? Keine Ahnung. Ich aber habe dieselben Interessen wie du. Eine gute Verhandlungsbasis, denke ich“, sagte Maladorin. „Aber ich sehe ein, im Moment scheinst du nicht in der Stimmung zu sein. Es ist bereits ein Erfolg, dass wir einander überhaupt kennenlernen konnten. Nicht alle deine Vorgänger hatten diese Gelegenheit.“
Langsam versandete die Stimme wieder im Nebel, der noch immer um Finnigan herum wogte.
„Bald schon wirst du mehr Interesse an meinem Angebot haben“, flüsterte Maladorin, bevor sich seine Stimme im Rauschen verlor.
„Und der einhändige Simanel ist ein guter Fidelspieler“, spottete Finnigan sarkastisch, aber er glaubte nicht, dass Maladorin ihn noch hören konnte.
Die junge Frau in sandfarbenen Roben, die Finnigan am nächsten Morgen die Tür öffnete, zeigte ihre Abneigung nur für einen Augenblick.
„Wen darf ich der Lady Talboth melden?“, fragte sie.
Finnigan fiel auf, dass sie mit freundlicher Gelassenheit die übliche Höflichkeitsanrede weggelassen hatte. Er beschloss, nicht weiter auf die kleine Stichelei einzugehen.
„Mein Name ist Thadwick Finnigan. Lady Talboth hat mich persönlich eingeladen.“
„Sie sind spät dran.“
Ohne ein weiteres Wort ließ sie ihn ins Haus eintreten und verschloss die Tür wieder. Das typische mehrfache Klicken ließ Finnigan an die Schlösser mit doppeltem Riegel denken, wie sie in den südlichen Landen üblich waren. Falls er hier einbrechen sollte, würde er sein Glück nicht an der Vordertür versuchen.
Er folgte der Frau durch die Flure der Residenz. Hohe Bodenvasen, Wandteppiche und kostbare Möbel säumten seinen Weg. Mit jedem Schritt quietschten seine Ledersohlen auf krebsroten und leinenweißen Marmorfliesen. Und immer wieder fanden sich kleine, himmelblaue Blumen, deren süßlicher Duft sich sanft durch die langen Flure zog. Es war der gleiche Duft, der Finnigan auch schon von der Einladung in die Nase gestiegen war.
Nach einer kurzen Zeit hielt die junge Frau schließlich vor einem Durchgang an, drehte sich zu ihm um und wies in den Raum hinter dem Eingang.
„Lady Talboth.“, verkündete sie reserviert und verschwand in einem Nebengang. Finnigan ob verwundert eine Augenbraue, trat aber durch den Mauerbogen und fand sich in einem achteckigen Raum wieder. Finnigan blinzelte geblendet gegen das Sonnenlicht, dass direkt gegenüber durch bodentiefe Fenster hineinfiel. Nur undeutlich konnte Finnigan vor den Fenstern zwei Sessel mit hoher Lehne und einen kleinen Tisch mit einigen Gefäßen erkennen. Im linken der beiden Sessel konnte Finnigan die Umrisse einer Gestalt ausmachen. Mit drei gemessenen Schritten trat er daher nach links in den Raum hinein und verbeugte sich vor dem Sessel.
Scheinbar überrascht blickte Lady Talboth von einem kleinen Buch auf und strahlte über das ganze Gesicht.
„Mister Finnigan! Wie schön, dass Sie sich die Zeit für einen kleinen Besuch genommen haben.“
Sie reichte ihm eine in einen teuren Handschuh gehüllte Hand, die er mit einem angedeuteten Handkuss entgegen nahm.
„Ich habe Ihnen einen Platz freigehalten.“ Lady Talboth wies auf den Sessel ihr gegenüber.
Als Finnigan sich setzte und damit aus dem Gegenlicht heraustrat, konnte er Lady Talboth genauer in Augenschein nehmen. Sie trug ein rosa Kleid, dass etwas altmodisch wirkte, und hatte die von grauen Strähnen durchzogenen Haare mit mehreren Perlmuttkämmen zusammengesteckt. Als sie das kleine Buch ablegte, nahm sie stattdessen einen ebenfalls rosafarbenen Fächer auf und blickte Finnigan offen entgegen. Er war überrascht, ein sehr junges Gesicht zu erblicken. Lady Talboth war gut und gerne sogar noch einige Jahre jünger als er selbst. Erst auf den zweiten Blick bemerkte Finnigan, dass die grauen Strähnen sorgfältig gefärbt worden waren.
„Etwas Tee?“, fragte Lady Talboth.
Finnigans Blick wanderte zu dem kleinen Tisch zu seiner Linken, auf dem sich neben einem kleinen Strauss der allgegenwärtigen blauen Blumen eine Sammlung aus Silberkannen und Tassen aus hauchdünnem siomerischem Porzellan fanden.
„Warum nicht?“, nickte er.
Er sah zu, wie Lady Talboth etwas Flüssigkeit in eine der Tassen goss und sie ihm reichte. Er hatte von solchem Porzellan bisher nur gehört. Vom Wert einer einzigen Tasse konnte er eine ganze Woche leben. Mit beiden Händen nahm Finnigan das Porzellan entgegen.
Der Tee war gut, dunkel wie Karamel und mit kräftigem rauchigem Aroma. Um so mehr bedauerte es Finnigan, dass er gleichzeitig noch immer den bleischwer süßen Duft dieser Blumen einatmete.
„Das sind Talresien“, sagte Lady Talboth lächelnd, als sie seinem Blick zu den Blumen folgte. „Mein Bruder hatte sie über alles geliebt.“
„Sie sprechen in der Vergangenheit von ihm“, antwortete Finnigan.
Ein Schatten legte sich über das Lächeln auf Lady Talboths Gesicht. Sie schlug die braungrünen Augen nieder, während sie mit ihrem Fächer herumspielte.
„Er ist tot.“
Stumm beglückwünschte sich Finnigan für sein untrügliches Gespür für Schwierigkeiten.
„Das tut mir sehr leid, Lady Talboth“, murmelte er.
„Sie müssen sich keine Sorgen machen. Ich wollte ohnehin mit Ihnen über diese Angelegenheit sprechen.“
Sie nahm die Kanne vom Tisch und schenkte sich selbst ebenfalls etwas Tee ein.
„Mein Bruder starb unter gewaltsamen Umständen. Meine letzte Reise nach Siomer hat mir die noch fehlenden Antworten erbracht. Aber als ob der Schmerz nicht schon genug gewesen wäre, wurden mir nach seinem Tod auch alle seine Ämter geraubt, die von Rechts wegen mir zugestanden hätten. Und der Strippenzieher hinter all dem ist genau der Mann, der vom schwindenden Einfluss der Talboths am meisten profitiert hat.“
„Ich kenne niemanden, dessen Geschäfte in letzter Zeit zu gut gelaufen wären.“
„Nicht alles dreht sich um Geld, Mr. Finnigan. Wir sprechen über Macht. Die Macht über den Rat der Fünf und damit über die ganze Stadt Silbersand.“
„Sie reden von Hohepriester Varogas?“
„Auf offener Straße sollten Sie diesen Namen nicht so abfällig aussprechen“, lächelte Lady Talboth.
Finnigan sog scharf die Luft durch die Zähne.
„Lady Talboth, ich bin leider nur ein einfacher Händler und nicht sehr geschickt in politischen Beurteilungen. Was hat das alles mit mir zu tun?“
Lady Talboth lachte entschuldigend.
„Ganz Geschäftsmann, ich vergaß. Nun gut, kommen wir zum Geschäft.“ Lady Talboth beugte sich in ihrem Sessel vor und senkte die Stimme.
„Sie helfen mir bei meinem Problem mit dem Hohepriester und dafür entkommen Sie aus den Fängen des Ordens, in die Sie sich kürzlich verstrickt haben sollen.“
Finnigan lehnte sich im Sessel zurück und nippte an seinem Tee.
„Man erzählt sich viel in den Straßen der Stadt“, erwiderte er. „Nehmen wir einmal an, dass ich interessiert wäre. Welche Art von Hilfe haben sie sich denn vorgestellt?“
„Sie sollen Varogas für mich töten.“
Finnigan verschluckte sich an seinem Tee. Lady Talboth setzte sich wieder bequem in ihre Kissen und wartete freundlich lächelnd ab, bis Finnigan nicht mehr hustete.
„Bitte, nun tun Sie doch nicht so entrüstet“, sagte sie. „Ich denke doch, dass Sie sich in den unhöflichen Winkeln dieser Stadt sehr wohl Ihrer Haut zu wehren wissen.“
„Was Sie da vorhaben ist Wahnsinn. Keiner kommt an Varogas ran“, wehrte Finn heftig ab. „Schutzzauber auf der gesamten Zitadelle, ein Heer aus Ordenskriegern und Varogas selbst tötet Besucher mit einem Fingerschnippen.“
„Sie denken also bereits über die Sache nach“, sagte Lady Talboth und fächerte sich kokett etwas Luft zu.
„Nein. Ich bin weder Attentäter noch Selbstmörder.“
„Nein, Sie sind der wohl talentierteste Dieb und Schmuggler der Stadt, wie ich hörte. Und wenn Sie den gefürchteten Hohepriester Varogas besiegen, dann könnten Sie darüber hinaus auch der berühmteste Dieb und Schmuggler der Stadt sein.“
„Der berühmteste tote Dieb und Schmuggler.“
Lady Talboth schob ein unscheinbares Amulett aus Gold über den Tisch.
„Dieses Schmuckstück bringt Sie an der Magie der Zitadelle vorbei. Sie schlüpfen an der Außenmauer ungesehen hinein und hinaus, ehe jemand überhaupt bemerkt hat, dass die Herde ein Schäfchen mehr hatte.“
Verschwörerisch beugte sie sich wieder vor.
„Denken Sie nach. Ein kleiner Einbruch, ein kleiner Stich. Keine Schulden mehr, keine Knechtschaft mehr, keine mordlustigen Geisterbestien an ihrem Hals.“
Sie rückte noch weiter vor, bis ihr Gesicht nur noch wenige Handbreit von Finnigans Nase entfernt war.
„Eigentlich ist es Selbstverteidigung, immerhin hat Varogas Sie zuerst angegriffen. Und obendrauf könnte ich über ein Startkapital für Ihre neue Zukunft nachdenken.“
Finnigan war völlig blockiert. Nichts wünschte er sich sehnlicher, als seine Freiheit wiederzubekommen. Aber würde er dafür auch zum Mörder werden? War es wirklich Mord, über was er gerade nachdachte? Mit Varogas konnte man nicht verhandeln, nur kämpfen oder sterben. Finnigan wünschte, es gäbe einen anderen Ausweg. Es musste einen geben.
„Es tut mir leid, Lady Talboth, aber ich denke, Sie sprechen mit dem Falschen.“
Lady Talboth ließ sich wieder in ihren Sessel zurücksinken. Ganz ruhig sah sie Finnigan an, blinzelte dabei nicht einmal.
Er stand auf und wandte sich mit einer kleinen Verbeugung zum Gehen.
„Natürlich wollen Sie über mein Angebot nachdenken, Mr. Finnigan.“ Mit einem würdevollen Kopfnicken erwiderte sie seine Verbeugung.
„Keysa wird sie wieder zurück zur Tür begleiten.“
Finnigan nickte stumm und verließ den Raum. Er brauchte jetzt dringend frische Luft, ohne jedes süßliche Blumenaroma.
„Finn, wohin rennst Du?“ Die Stimme hallte in Finnigans Kopf wie in einer Steinhöhle.
„Bist DU das? Maladorin, nicht wahr?“, rief Finnigan in die Gasse, in der die sinkende Sonne bereits lange Schatten warf.
„Du erschreckst ja noch die Müllratten mit deinem Gebrüll. Deine Gedanken sind laut genug.“
Finnigan blieb schnaufend in einem Hauseingang stehen, während er sich auf die Stimme in seinem Kopf konzentrierte.
„Was willst du noch von mir?“
„Dich an einen Handel erinnern. Denkst du noch an das Angebot der Lady Talboth heute morgen?“
„Jedes mal, wenn ich Zweifel an meinen Fluchtplänen kriege. Danach bin ich mir wieder ganz sicher.“
„Du rennst schon den ganzen Tag durch die Stadt. Wie weit willst du ohne Geld denn kommen? Der Lady könntest du sogar entwischen. Aber dem Orden? Was glaubst du, weshalb ich in dieser Rumpelkammer zwischen deinen Ohren festsitze?“
„Was schert mich das? Das ist dein Problem.“
„Das haben deine Vorgänger auch gedacht. Aber durch mich hat Varogas dich in Reichweite, wo auch immer du hinläufst. Und sobald er Zweifel an deiner Nützlichkeit bekommt, bist du für Ihn nur noch ein Entsorgungsproblem.“
Ein stechender Schmerz blitzte durch Finnigans Kopf, als ob etwas sehr Scharfes über seinen Nackenwirbel kratzte.
„Lass das! Such dir Andere, mit denen du dir deinen Spaß machen kannst.“
„Spaß?“ Die Stimme dröhnte, als ob jemand eine Bronzeglocke geschlagen hätte.„Du beschränkter Egoist. Glaubst du, ich hätte keine Heimat, in der ich frei leben möchte? Ich dachte, gerade du könntest das verstehen.“
Finnigan schwieg.
„Ich will nicht deinen Tod“, sagte Maladorin eindringlich. “Wenn du stirbst, dann wird Varogas mich in sein nächstes Opfer bannen. Aber wenn Varogas nicht mehr ist, dann sind wir frei und Lady Talboth ist dir was schuldig. Aus meiner Sicht ist das ein wirklich guter Handel.“
„Ich bin kein Mörder. Es muss noch einen anderen Weg geben.“
„Das ist kein Mord, Finnigan, Varogas zwingt dir seine Spielregeln auf. Schon übermorgen wirst du Besuch vom Orden bekommen. Wenn du dich da nicht verplapperst, dann bestimmt ein anderes mal. Du bist eigentlich schon tot. Lauf weg und stirb. Oder wehr Dich und lebe. Das ist jetzt deine Entscheidung.“
„Varogas ist ein Hexer, keiner kommt an ihn heran. Selbst ich nicht, es ist unmöglich.“
„Das interpretiere ich als ein Ja.“ Finnigan konnte Maladorin regelrecht grinsen hören.
„Und jetzt mach dir nicht so viele Sorgen. Du hast doch mich. Mit meiner Hilfe wird das ein Kinderspiel, vertrau mir.“
„Glauben Sie mir, Mr. Finnigan. Sie werden diese Entscheidung nicht bereuen.“ Lady Talboth trat auf Finnigan zu. Sie nahm seine Hand, die er ihr zur Besiegelung ihres Handels angeboten hatte und drückte sie mit beiden Händen. In dem Lärm und Gedränge, das wie jeden Morgen auf dem Viehmarkt der Stadt herrschte, sahen Finnigan, Lady Talboth und ihre Dienerin Keysa aus wie ganz gewöhnliche Händler. Lady Talboth fischte das Amulett aus einer Tasche ihres schlichten Umhangs und drückte es Finnigan in die hohle Hand.
„Wie versprochen gebe ich Ihnen das Amulett mit auf den Weg. Es wird unserer Sache sehr dienlich sein.“
Finnigan wollte sich bereits wieder verabschieden, aber Lady Talboth hielt ihn noch fest.
„Sollten Sie darüber hinaus noch etwas an Ausrüstung benötigen, sprechen Sie doch mal mit Alarond. Er hat einen Fischstand gleich hier am Ende des Marktes. Sie werden überrascht sein, was noch alles in seinen Netzen hängen bleibt.“
Finnigan runzelte die Stirn, aber Lady Talboth nickte bekräftigend.
„Vielen Dank für Ihre Hilfe, Lady Talboth“, sagte Finnigan.
„Alles nur Teil unserer Abmachung, Mr Finnigan.“ Sie ließ seine Hand los und Finnigan verschwand wieder zwischen den übrigen Besuchern des Marktes.
Lady Talboth drehte sich um und ging mit ihrer Begleiterin in die entgegengesetzte Richtung.
„Was glaubt Ihr, wie weit er kommen wird, Lady Talboth?“, fragte Keysa.
„Ich hoffe, weit genug, Keysa. Wir sollten zur Sicherheit Mr. Finnigans Batang-Samen loswerden, bevor die falschen Leute sie in einem meiner Lagerhäuser finden. Kümmerst Du Dich bitte darum? Und feilsch nicht ganz so streng wie sonst.“
„Ganz wie ihr wünscht, Lady Talboth.“
Die nächtliche Kälte schnitt Finnigan in die Haut. Schmerz krampfte sich durch seine steifen Finger. Schon mehrmals hätte er fast den Halt verloren und nur das dünne Seil aus schwarzer Seide bewahrte ihn vor dem tiefen Sturz in den Innenhof der Zitadelle. Trockenes Knacken erinnerte Finnigan daran, dass der feine Stoff seines Seils bis zum Äußersten belastet wurde. Er zog sich weiter. Wenn er doch nur ein paar Mauerhaken gehabt hätte. Aber zu laut. Er hatte nur lautlos eine Chance. Überall Wachen.
Seine Muskeln verkrampften sich und jeder Meter war eine Qual. Unerträglich langsam kam die Mauerkrone in Sichtweite, mit dem rettenden Dach dahinter, dass ihn schließlich bis an ein Fenster zu Varogas' Privatgemächern führen würde. Nur noch zwei Meter.
In diesem Moment hörte Finnigan langsame Schritte. Eine Wache. Sein durch Maladorins Hilfe verstärktes Gehör konnte den Wächter schon aus über hundert Meter Entfernung hören. Noch war etwas Zeit, aber die Schritte kamen eindeutig näher. Auf den hellen Mauersteinen war er selbst bei Mondlicht leicht zu erkennen. Finnigan musste fort, weg von der Mauer. Trotz der stechenden Schmerzen in seinen Armen zog er sich weiter nach oben. An der Wand ziehen, Bein ins Seil verhaken, Seil nachfassen, wieder ziehen. Handbreite über Handbreite. Noch einen Meter.
Plötzlich rutschte der Wurfhaken aus seiner Verankerung. Metall kratzte über Stein, Finnigan schrammte über die rauhen Steine der Mauer. Schon in der nächsten Fuge blieb der Wurfhaken wieder hängen. Das Seil riss an Finnigans Armen, seine Schultern dehnten sich aus den Gelenken. Die Seide knarrte, aber sie hielt.
Die Schritte hatten innegehalten und kamen jetzt schneller auf Finnigan zu. Nur noch wenige Sekunden, dann würde ein misstrauischer Wächter mit einer Armbrust den Innenhof absuchen.
Finnigan blickte nach oben. Er hatte fast den ganzen letzten Meter verloren. Sein Herzschlag dröhnte in seinem Kopf. Sein Körper schien immer schwerer zu werden, die Luft um ihn herum wurde zäh, seine Gliedmaßen zogen ihn mehr und mehr in die Tiefe, anstatt sie ihn nach oben trugen. Die Schritte kamen näher.
Finnigan zog wieder. Schmerzen explodierten in seiner Schulter, aber er biss die Zähne zusammen, um den Schrei in seinem Kopf nicht herauszulassen. Ziehen, nachfassen, ziehen, nachfassen. Nicht denken, nicht aufhören. Steine glitten vor seinem Gesicht vorbei und verschwanden wieder.
Die Schritte waren jetzt sehr nah, zu nah.
Endlich kam die Mauerkrone in Reichweite. Finnigan legte die Finger an die Kante und zog sich ein letztes mal hoch. Oben angekommen, lehnte er sich vor, schwang die Beine seitwärts über die Mauer und ließ sich dahinter auf das etwas tiefer liegende Dach fallen.
Finnigan nahm den Haken aus der Mauer und zog schnell die Reste des Seils in die Schatten, genau in dem Moment als die Schritte den Hof erreichten und dort verstummten. Lange stand der Wächter nur da, dann entfernten sich die Schritte wieder.
Finnigan war außer Gefahr.
Etwas klopfte ihm auf die Schulter. Genauer gesagt, auf den Schulterknochen.
„Was ist?“, fragte Finn in Gedanken.
„Warte einfach einen Moment, dann zeig ich es dir.“
Ein Gefühl wie warmer Honig durchfloss seine Muskeln. Seine Krämpfe lockerten sich und schon nach wenigen Minuten ging es Finnigan wieder deutlich besser.
„Warum konntest du mir nicht ein klein wenig früher helfen?“, fragte er sarkastisch.
„Vielleicht habe ich das ja. Was würdest du sagen?...Nein, Nein. Nicht soviel Überschwang. Warte erst mal, bis du das hier gesehen hast.“
Finnigans Blickfeld erweiterte sich. Farben überzogen alles, was zuvor noch in schattigen Winkeln versteckt lag. Und in den schillernden Flächen sah er den Umriss eines Menschen, direkt auf dem gegenüberliegenden Dach, unter dem der Priester seine Zimmer hatte. Ein weiterer Wächter, der sich im Schatten verborgen hielt.
„Nun gut, das ist brauchbar“, gab Finnigan zu.„Bin ich jetzt unsichtbar?“
„Unsinn, für Wunder muss man beten. Es reicht, dass du im Dunkeln etwas sehen kannst und die Anderen nicht. Und wenn du jetzt nicht rumzappelst, könnte das sogar so bleiben.“
Finnigan blieb einige Zeit liegen und sammelte in Ruhe wieder seine Kräfte. Erst als der Wächter schließlich seine Runde fortsetzte machte Finnigan sich wieder auf seinen Weg. Er war aber erst wenige Schritte weit gegangen, als ihm ein milchiger Schemen zwischen ihm und dem Fenster auffiel. Er trieb wie ein Nebel über das Dach, allerdings gegen die Windrichtung.
Finnigan brauchte nicht zu wissen, was das war. Wichtig war nur, dass er es jetzt klar sehen konnte. Damit konnte er der Erscheinung leicht ausweichen. Statt direkt über das Dach zu laufen, schob Finnigan sich weiter über die Mauerkante. Immer wieder hielt er inne und lauschte prüfend in die Nacht. Schwache Windböen rauschten an Abflussrinnen, weit entfernt unterhielten sich leise einige Bewohner der Zitadelle, alles blieb ruhig. Irgendwann schließlich erreichte Finnigan das Fenster zu Varogas' persönlichen Gemächern.
Das Fenster lag tief in einer Mauernische, in der träge mehrere Energielinien waberten. Das Fenster selbst war hingegen nur durch einen einfachen Riegel von innen gesichert. Offensichtlich verließ sich Varogas so sehr auf seine Tricks, dass er gewöhnliche Schlösser an seinem Fenster vernachlässigte. Finnigan passte einen günstigen Moment zwischen den wandernden Energielinien ab, schob einen sehr schmalen Dietrich zwischen Rahmen und Fenster hindurch und hebelte den Riegel aus seiner Führung. Mehrmals musste er abbrechen, um den magischen Sicherungen auszuweichen. Aber er hatte Glück und nach einigen Versuchen hatte er den Riegel so weit verschoben, dass der Fensterflügel nach innen aufschwang. Augenblicklich erlosch die magische Barriere. Finnigan war nicht überrascht. Es musste einen Schutz vor Fehlalarmen geben, wenn jemand von innen das Fenster öffnete.
Mit geschmeidigen Bewegungen ließ er sich durch das offene Fenster in das dahinter liegende Zimmer gleiten. Kaum berührten seine Füße den Boden, hockte er sich zunächst in die Schatten und lauschte auf mögliche Bewegungen. Weiterhin blieb alles ruhig. Ein kurzer Blick durch das Zimmer zeigte eine massiv wirkende Tür zur Linken und das Fenster hinter ihm als einzige Fluchtmöglichkeiten. Das Zimmer war stickig, nur wenig frische Luft drang durch die offene Mauernische hinter ihm. In einem gewaltigen Himmelbett in der Mitte des Raumes hoben und senkten sich die Laken. Mit seiner noch immer verfremdeten Sicht konnte Finnigan deutlich eine pulsierende Aura in den Laken erkennen, die sehr viel stärker schillerte als noch bei den Wachen zuvor.
„Scheinbar sind wir richtig. Kannst du was besonderes erkennen, Maladorin?“
„Danke, dass du meine Hilfe langsam zu würdigen weißt. In diesem Zimmer kann ich aber nichts Bedrohliches wahrnehmen. Ich ziehe mich besser wieder etwas zurück.“
Die Farben wichen wieder aus Finnigans Sicht und schon nach einigen weiteren Minuten konnte er auch wieder die Grautöne in den nächtlichen Schatten erkennen. Er zog den Dolch hervor, der sorgfältig verschnürt unter seinem Hemd steckte. Für einen Moment blieb er in der Halskette des Amuletts hängen. Lautlos fluchend fragte er sich, wofür er dieses unpraktische Schmuckstück mit sich schleppte, aber für irgend etwas wird es wohl nütze gewesen sein. Immerhin war er gerade in das am besten gesicherte Schlafgemach der Stadt eingebrochen, oder nicht? Ein Jammer, dass er nicht bei einem kühlen Krug Morass in der Bilge mit dieser Geschichte würde angeben können.
Mit lautlosen Schritten schlich Finnigan bis hinüber zu den Bettlaken. Varogas hatte sich so sehr in die Tücher gewickelt, dass er kaum zu sehen war. Finnigan hob den Dolch und suchte eine verwundbare Stelle, wo schon der erste Stich tödlich sein würde. Er würde nur eine Chance bekommen. Einen zweiten Angriff würde selbst ein verwundeter Varogas nicht zulassen. Die Zeit verrann.
„Finn?“
Keine Antwort.
„Finn?“, fragte Maladorin jetzt deutlich lauter. „Worauf wartest du? Stich endlich zu, es ist ein Wunder, dass wir noch hier stehen. Riskiere nicht alles durch deine Trödelei!“
Finn hob den Dolch noch etwas höher, hielt aber wieder inne.
„Ich weiß nicht recht ...“
„FINN!“ Maladorins Stimme dröhnte in Finnigans Kopf wie eine Sturmflut. „Hier kann ich dir nicht mehr helfen, du wankelmütiger Taugenichts. Stich endlich zu und beende die Sache wie ein Mensch.“
Der Dolch in Finnigans Hand zitterte. Er hatte es also geschafft. Es war nur noch ein Stich, wahrscheinlich würden die meisten ihm bekannten Leute sogar gratulieren. Aber der gesamte Orgran-Orden würde ihn für den Rest seines Lebens wie einen Galeerenflüchtling jagen, bis sie ihn irgendwann fänden und ihm den 'Frieden Orgrans' zuteil werden ließen.
„ STICH! ZU!“ Maladorin tobte, heulte in Finnigans Schädel.
„Nein.“, dachte Finnigan und ließ den Arm wieder sinken. „Du hast Recht. Ich beende die Sache wie ein Mensch. Es muss einen anderen Weg geben als diesen.“
Maladorin schwieg. In der plötzlichen Stille spürte Finnigan erst jetzt, wie stark er sich auf dieses Ziel verkrampft hatte, dass er nichts anderes mehr um sich herum wahrgenommen hatte. Aber jetzt war er sich sicher, dass er einen anderen Weg finden würde. Er hatte sich schon aus allen Schwierigkeiten herausgewunden, er würde sich auch vom Orden nicht übers Ohr hauen lassen. Er verschnürte vorsichtig wieder den Dolch unter dem Hemd und wandte sich in Richtung Fenster.
Dann erst fiel es ihm auf. Die Luft in diesem Zimmer war nicht nur stickig, sie trug auch Reste eines leichten Duftes.
Es roch nach Talresien.
Finnigan fühlte sich, als ob ihm der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Irgend etwas stimmte ganz und gar nicht. Er musste weg. Sofort. Er hatte den Gedanken noch nicht ganz verinnerlicht, als er schon das Getrampel von mindestens einem Dutzend schwerer Stiefel vor der Tür hörte. Fäuste hämmerten an das Holz. Befehle wurden gebrüllt. Die Laken des Himmelbetts sanken zusammen, dass Bett war nun leer.
Eine Falle!
Finnigan rannte zum Fenster. Aber bevor er die rettende Öffnung erreichen konnte, prallte etwas Nebliges von außen davor und verschloss den Durchgang. Blitze zuckten über das Fenster.
„Maladorin!“, rief Finnigan in seinen Gedanken. „Maladorin, hilf mir!“
Finnigan blieb mitten im Zimmer stehen, suchte fieberhaft nach einem Ausgang. Decke, Wände, Boden, alles war massiv und ohne irgendeine Spalte.
Die Tür ging auf.
Eine hochgewachsene Gestalt in nachtschwarzem Gewand trat mit gemessenen Schritten herein und blieb kurz vor Finnigan stehen. Die Gestalt schlug die Kapuze ihres Gewandes zurück. Es war Hohepriester Varogas. Hinter dem Hohepriester stürmten schwerbewaffnete Wächter und einige Uniformierte den Raum. Die Wächter bezogen Position um Finnigan herum. Die typischen schmalen Klingen glitzerten im Lampenschein.
„Schau an, ein Besucher“, flüsterte Varogas. Ein fauliger Gestank wehte Finnigan entgegen, der nur zum Teil von den verfärbten Zähnen in Varogas Mund stammen konnte.
Finnigan wünschte, er hätte eine schlagfertige Antwort parat, aber angesichts des leichenblassen, ledrigen Gesichts vor ihm konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Varogas starrte Finnigan mit glasigen Augen an.
„Nachdem du unerklärlicherweise bis in dieses Zimmer kommen konntest bin ich neugierig, was du zu so später Stunde wohl hier zu suchen haben könntest?“
Etwas in Finnigans Kopf ringelte sich zusammen und verkroch sich in einen tief hinten liegenden Winkel.
Eine Bewegung lenkte Finnigans Aufmerksamkeit für einen Moment von Varogas ab. Lady Talboth trat aus dem Halbdunkel des Flures in das von Lampen erleuchtete Schlafgemach. Sie trug ein teures, fliederfarbenes Kleid und ein transparenter Schal war gelassen um Hals und Arme geschlungen.
„Sagte ich es nicht, ehrenwerter Varogas? Ich war mir sicher, ich hätte jemanden an der Außenmauer zu Euren Gemächern klettern sehen. Würde Euer Orden das Wetten nicht verbieten, so schuldetet Ihr mir nun zehn Goldrand.“
Lady Talboth kicherte und stellte sich etwas abseits neben Varogas. Mit rätselhaften Blick lächelte sie Finnigan an.
Varogas seufzte. „Wie so oft zeigt sich in Eurem Ratschlag eine tiefe Weitsicht, wie sie zuweilen meine besten Berater schmerzlich vermissen lassen.“
Er drehte sich leicht zu einem Uniformierten um, der hinter dem Kreis der gepanzerten Wächter stand.
„Wo ich gerade davon spreche. Wie erklärt Ihr Euch, dass ein einfacher Straßendieb Euren ausgeklügelten Schutz überwinden konnte?“
Der Offizier wurde blass und öffnete den Mund. Noch bevor er aber ein Wort sagen konnte, wedelte Varogas ungeduldig mit einer Hand und der Mann verstummte. Entsetzen breitete sich in seinem Gesicht aus, dass in der Zeit weniger Wimpernschläge um Jahrzehnte zu altern begann. Seine Haare wurden länger und zunehmend weißer, auch die Nägel der Finger wuchsen unaufhörlich. Flehend hob der Mann die knotigen Hände zu Varogas, aber noch während der Mann in stummen Schreien verstarb und in einen Haufen Lumpen zusammenfiel, wandte sich der Hohepriester bereits wieder Finnigan zu. Die übrigen Soldaten blickten einander an, umfassten ihre Schwerter aber nur noch energischer. Ein weiterer Offizier trat aus den Schatten und nahm den Platz des Verstorbenen ein. Varogas kostete die angstvolle Stille sichtlich vergnügt aus. Er grinste boshaft, wobei der Hohepriester irritierend spitze Zähne entblößte.
„Wo war ich stehen geblieben?“, flüsterte Varogas. „Ach ja, wir wollten uns näher kennenlernen.“
Varogas hob einen Zeigefinger und stechende Schmerzen durchzogen Finnigans Schulter. Er taumelte zurück, doch Varogas setzte nach, die Finger weiter erhoben. Dünne Rauchfäden stiegen aus Finnigans Kleidung auf.
„Ehrenwerter Varogas.“, sagte Lady Talboth amüsiert. „Ein derartig unfähiger Schattenkriecher ist doch wohl kaum eine ernsthafte Bedrohung für Euch.“
Eine unsichtbare Kraft schob Finnigan bis an die Wand des Raumes, Schmerzen peitschten mit noch nie dagewesener Kraft durch seine Gliedmaßen. Finnigan wurde schwarz vor Augen, die Knie sackten ihm zusammen und seine Arme hingen nur noch baumelnd an ihm herunter. Er spürte etwas Warmes aus seiner Nase tropfen.
„Urteilt nicht nach dem ersten Augenschein, Lady Talboth. Ich spüre Magie, aber ein Magier ist unser Besucher nicht. Was mache ich also nun mit dem dummen Meuchelmörder, der den im Schlaf ermorden wollte, der
keinen Schlaf mehr benötigt?“, fragte Varogas heiser. Ein weiterer Schlag auf Finns Körper. Ihm wurde schwarz vor Augen. Sein ganzer Leib klebte an den kantigen Mauersteinen fest. „Ich denke, Ich werde dein Gastgeschenk ganz besonders würdigen. Dich werde ich sogar mit eigenen Händen töten.“
Varogas trat bis an die Wand heran und ließ seine langen Finger über Finnigans Nacken gleiten. Eine unnatürliche Kälte ging von ihnen aus und wo immer sie Finnigans Haut berührten, hatte er das Gefühl, beschmutzt zu werden. Mit tödlicher Langsamkeit schlossen sich Varogas' Finger um Finnigans Hals
„Was ist das?“, fragte Varogas überrascht, als er das Amulett an Finnigans Hals erblickte.
Er riss die Halskette von Finnigans Körper und betrachtete das Schmuckstück nachdenklich. Plötzlich weiteten sich Varogas' Augen. Er atmete heftig ein und drehte sich um.
„Wie ich sehe, erkennt ihr das Schmuckstück wieder, Varogas“, sagte Lady Talboth. Ihre Stimme hatte jeden amüsierten Klang verloren. Ruhig und zielstrebig ging sie auf Varogas zu.
„Es gehörte meinem Bruder. Und nachdem Ihr ihn ermordet habt, wart Ihr so hochmütig, es einfach auf dem Schwarzmarkt zu verhökern. Von dort nahm es seinen Weg bis Siomer, wo ich es schließlich fand. Und ich werde wieder an mich nehmen, was mir gehört, sobald ich Euch getötet habe.“
Varogas keuchte. Erst nach einigen Momenten wurde Finnigan klar, dass Varogas lachte. Der Hohepriester hob die Hand, aber Lady Talboth lächelte nur müde.
„Varogas, Schätzchen. Glaubt Ihr, Ich würde Euch herausfordern, ohne mich gegen Eure Zaubertricks gewappnet zu haben? Wusstet Ihr schon, dass es in Siomer auch Hohepriester gibt? Und das sie Euren Ehrgeiz mit Sorge beobachten?“
„Was schert mich Siomer?“ Varogas ließ seine Hand sinken und ging Lady Talboth einen Schritt entgegen. „Wenn ich erst die Stadt und dann ganz Kylrasien in meiner Gewalt habe, ist Siomer nur noch eine Figur auf einem Spielbrett.“
„In der Tat“, sagte Lady Talboth mit dunkler Stimme. „Das meinte Lord Zao auch. Er bat mich, Euch folgende Nachricht zu überbringen...“
Sie intonierte einen fremdartigen Gesang, mit Worten, die Finnigan nicht verstehen konnte. Er sackte an der Wand zusammen, aber er konnte sich wieder bewegen. In seinem Hinterkopf vibrierte etwas. „Finn, verschwinde da. Jetzt.“ Finnigan schob sich, so schnell er noch konnte, an der Wand entlang.
Das Amulett in Varogas' Hand strahlte auf. Eine Wolke wuchs daraus empor und nahm eine groteske Gestalt an, die nur aus Fangarmen und Zähnen bestand. Der Hohepriester schrie auf, ließ das Amulett fallen und hob abwehrend die Hände.
Aber das Wesen glitt einfach durch seine Hände hindurch und verschwand in seinem Körper. Varogas taumelte, blickte hilfesuchend im Raum umher. Aber wie zuvor rührte sich keiner der Anwesenden von der Stelle. Alle beobachteten das Schauspiel nur aufmerksam. Plötzlich schrie Varogas auf und sein Körper knickte unnatürlich ein, faltete sich zusammen. Trockenes Knacken klang durch den Raum. Varogas zog sich wie ein Einsiedlerkrebs in sich selbst zusammen, während unaufhörlich etwas in ihm zu brechen schien. Erst als Varogas sich schon lange nicht mehr rührte, schwebte das Wesen wieder empor und löste sich auf.
Lady Talboth nahm das Amulett auf und legte es mitsamt der Kette in einer Hand zusammen. Dann wandte sie sich an den Offizier mit den meisten Abzeichen auf seiner Uniform.
„Ihr seid der Befehlshaber der Wachen in der Zitadelle?“
„Aller Wachen und Ordenskrieger, Mylady. Seit gerade eben“ erwiderte er mit einem Seitenblick auf das Lumpenbündel auf dem Boden.
„Wie Ihr soeben beobachten konntet, hat Hohepriester Zao aus Siomer den Hohepriester Varogas für seinen gottlosen Ehrgeiz bestraft. Dieses Amulett trägt Lord Zaos Zeichen auf der Rückseite und weist mich als seinen Botschafter aus.“
Lady Talboth hielt dem Offizier das Amulett unter die Nase und lies es kurz darauf wieder in ihrer Hand verschwinden.
„Gleich morgen wird eine Delegation aus Siomer hier eintreffen und die Führung dieser Zitadelle übernehmen. Werdet Ihr bis dahin alle Formalitäten vorbereitet haben?“
Eine kurze Pause entstand, in der der Offizier zuerst Lady Talboth und dann das Amulett in ihrer Hand musterte.
„Zu Befehl, Botschafterin.“
Lady Talboth neigte huldvoll den Kopf. Der Offizier drehte sich auf dem Absatz herum, kommandierte mit knappen Worten die Wächter hinaus und verließ den Raum hinter dem letzten Bewaffneten.
Finnigan stand leicht schwankend in einer Ecke und blickte Lady Talboth bohrend an.
„Was schaut Ihr so? Wir haben keine Zeit für Blutfehden, das kostet nur Geld.“
„Ihr habt mich benutzt“, antwortete Finnigan.
„Ja“ sagte Lady Talboth ungerührt. „Ihr solltet nur dafür sorgen, dass das Amulett und Varogas zusammenkommen. Er verließ die Zitadelle nie, also musste das Amulett zumindest über die Außenmauer der Zitadelle hinein. Und ich konnte es ja wohl kaum durch die Vordertür hereintragen.“
„Aber Varogas Tod wird bei einigen Leuten der Stadt für einen Haufen Fragen sorgen. Man könnte Euch zur Rechenschaft ziehen.“
„Mit Zaos Unterstützung und den zahlreichen Feinden, die Varogas sich in der Stadt gemacht hat? Ich denke, schon in ein paar Wochen hat sich der Staub wieder gelegt und ich sitze wieder im Rat der Fünf.“
Lady Talboth raffte ihren Schal ein wenig.
„Aber das wird nicht mehr Eure Sorge sein. Was uns anbelangt, so habt Ihr Euren Teil des Handels wie vereinbart erfüllt. Im Gegenzug seid Ihr frei und Eure Schulden sind vergessen. Und Ihr seid sogar noch am Leben. Wir sind also quitt.“
„Bis auf ein Detail. Ihr erwähntet ein Startkapital für meine neue Zukunft.“
Lady Talboth sah Finnigan abschätzend in die Augen, aber Finnigan hielt ihrem Blick unerschütterlich stand. Sie schürzte nachdenklich die Lippen. Dann nahm sie aus einer versteckten Tasche ihres Kleides einen klaren, algengrünen Stein und gab ihn Finnigan. Er wog den Edelstein prüfend in der Hand.
„Jetzt sind wir quitt“, sagte er. „Was ist mit dem Drachen?“
„Wie ich diese Dämonen einschätze ist er längst über alle Berge. Nur die Tätowierung wird Euch als Andenken bleiben. Ihr könnt also wieder tun, was Ihr wollt.“
Lady Talboth sah Finnigan neugierig an. „Was wollt Ihr denn als nächstes tun?“
„Meine Belohnung nehmen und dann erst mal zurück in die Bilge, einige Darlehen zurückzahlen. Und dann, nun, mal sehen...“
Lady Talboth blickte nachdenklich auf einen Punkt irgendwo rechts von Finnigan.
„Ihr könntet den Rest Eures Geldes in Teetassen investieren.“
„Was sollte ich mit Teetassen anfangen?“ Finnigan hob fragend die Augenbrauen.
„Sie an die feine Gesellschaft der Stadt verkaufen. Porzellan aus Siomer, also genau solches, wie ich es zufälligerweise benutze, könnte bald heiß begehrt sein.“
Lady Talboth legte die Finger ineinander und lächelte schelmisch.
„Und nun stellt Euch vor, wenn nun die Hafenmeister bei einem Händler die Ladung nicht so genau prüfen würden. Es müsste natürlich ein überraschend fähiger Händler sein, damit er das siomerische Handelsembargo unterlaufen und damit überhaupt erst an das Porzellan herankommen könnte.“
„Mit einem schnellen Schiff wäre dieser Händler in kurzer Zeit sehr vermögend.“
„Ja, das wäre er dann wohl...“
Lady Talboth deutete eine leichte Verbeugung in Finnigans Richtung an.
„Ich wünsche Euch viel Erfolg auf Eurer Reise, Thadwick Finnigan. Doch ich warne Euch“, zwinkerte ihm Lady Talboth zu. „Nutzt meine Dankbarkeit nicht zu sehr aus.“
Finnigan verbeugte sich besonders tief, aber er konnte sein breites Grinsen nicht sehr gut verbergen.
Auf einem verlassenen Teil der alten Stadtmauer saß Finnigan und blickte über das Meer in die aufgehende Sonne. Die Luft war kühl und trug noch immer die Feuchtigkeit der Nacht. Trotz der frühen Stunde klang schon das Knarren der riesigen Ladekräne vom Hafen herüber. Neben Finnigan schwebte ein Schemen in der Form eines Drachen, mehr als doppelt so groß wie Finnigan.
„Wann wirst Du aufbrechen?“, fragte Maladorin, mit einer Stimme wie tausend kleine Glöckchen.
„Sobald die Flut einsetzt, in etwa drei Stunden. Und du? Warum bist du nicht abgehauen?“,
fragte Finnigan.
„Oh, ich bin so gut wie weg. Ich wollte nur ...“ Maladorin kratzte mit einer transparenten Klaue über den verwitterten Stein der Mauer.
„...mich noch bedanken.“
„Wofür, ich habe doch gar nichts getan.“
„Doch hast du. Du hast mir gezeigt, dass es auch bei Menschen noch Ehre gibt. Das hat mir viel zu Denken gegeben.“
„Aber durch meine Entscheidung wärst du wohl noch Jahre an mich gebunden gewesen.“
„Ach, ich lebe schon so viele Jahrhunderte. Manchmal ist etwas wichtiger als ein paar Jahre Langeweile.“
Maladorin blickte zu Finnigan herüber und schaffte es, trotz der Zahnreihen so etwas wie ein Lächeln zustande zu bringen. Finnigan grinste schief und blickte wieder über die See.
„Eins noch“, sagte Maladorin. Er hob die linke Tatze und ein Nebel aus Sternen erschien darin. Der Nebel kreiste, verdichtete sich zu einer kleinen Kugel und formte schließlich einen Kieselstein. Maladorin ließ den Stein in Finnigans Hand fallen.
„Du bist der einzige noch lebende Mensch, der einen meiner Namen kennt. Bewahre dieses Wissen in deinem Herzen. Und wenn du mich brauchst, rufe mich in Gedanken bei meinem Namen und durch den Stein werde ich dich hören können.“
Finnigan betrachtete den Kiesel. Wenn man genau hinsah, war es, als ob man in den Sternenhimmel einer klaren Sommernacht blickte. Die Sterne drehten sich langsam, aber erkennbar.
„Dann werden wir uns wiedersehen?“, fragte Finnigan.
„Falls ich Lust dazu habe“, lachte Maladorin. „Aber ich kann es mir gut vorstellen, mein Freund.“
Dann saßen sie noch eine Weile schweigend zusammen und lauschten gemeinsam den Geräuschen der erwachenden Stadt. Und selbst als Maladorin sich verabschiedete und sich scheinbar in Nichts aufgelöst hatte, blieb Finnigan noch lange sitzen und hielt den Kieselstein fest in seiner Hand umschlossen.