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Schuldgefühle
Krankenhaus. Ich finde mich an seinem Bett wieder. Intensivstation.
Er ist an lauter Maschinen angeschlossen. Beatmungsgerät, Vitaldatenmonitor, Infusionssystem.
Ich erkenne ihn kaum wieder, er sieht so verändert aus. Es ist meine Schuld, nur wegen mir liegt er jetzt hier.
Es passierte vor wenigen Tagen. Er war mit seinem besten Freund in einen Autounfall verwickelt. Ich war zu Besuch bei einer Freundin. Da er die letzten Tage arbeitstechnisch verhindert war und wir uns dadurch nicht sehen konnten, wollte er mich mit einem spontanen Besuch überraschen. Per Telefon sagte er mir kurz Bescheid. Ich schickte ihm die Adresse und da geschah es auch schon. Das Handy fiel ihm in den Fußraum des Beifahrers. Er beugte sich runter, versuchte sein Handy zu greifen. Sein Freund half ihm nicht. Wie auch? Er schlief tief und fest und lies sich durch die Musik des Radios berieseln. An diesem Tag wollte er unbedingt mit fahren und mich sehen, warum weiß ich bis heute nicht. Während er den Fußraum nach seinem Handy abtastete, kam er auf die linke Fahrspur. Als er sein Handy endlich erreicht hatte und er sich wieder aufrichtete, wurde er durch große und runde Scheinwerfer geblendet. Hektisch und erschrocken zog er das Lenkrad nach rechts. Er verlor total die Kontrolle über das Fahrzeug. Das Auto überschlug sich, mehrfach. Bewusstlos, verletzt und eingequetscht lagen sie in dem demolierten Auto. An der Unfallstelle wurde er mehrmals reanimiert und verlor viel Blut durch seine schweren Verletzungen. Nun liegt er hier. In den Händen von Ärzten, an den Maschinen und um sein Leben kämpfend.
Das ist alles nur meine Schuld.
Wäre ich nicht gewesen, wäre es niemals dazu gekommen.
Wie durch ein Wunder konnte der Unfall mithilfe der Polizei und des besten Freundes rekonstruiert werden. Da ich eine der letzten Personen war, die Kontakt zu ihm hatte, war ich in die Ermittlungen involviert. Somit wusste ich über das Geschehene genauestens Bescheid.
Ich wäre nicht schuld gewesen, sagten sie. Ich solle mir keine Vorwürfe machen, sagten sie.
Aber ... aber wie soll das nur funktionieren?
Ich stehe noch immer wie versteinert an seinem Bett und starre ihn an. Gedankenverloren. Er sieht so friedlich aus. Ich setze mich neben ihn auf einen Stuhl. Nehme seine Hand, und halte sie ganz fest und lausche den Herztönen des Überwachungsmonitors.
Plötzlich überkommt mich ein mulmiges Gefühl. Ich spüre einen Atem im Nacken. Eiseskälte. Hände, die meine Schultern schützend umklammern. Schauder. "Vergiss mich nicht!", haucht jemand in mein Ohr. Schock. Ich drehe mich um, doch sehe ich niemanden.
Er ... er ist hier. In der Zwischenwelt. Panik.
Dann höre ich einen monotonen Piepton und sehe die Nulllinie auf dem Monitor. Ärzte und Krankenschwestern kommen hereingeschossen und schicken mich raus. Ich höre den Defibrillator und die Bemühungen des Teams. Doch jeder Versuch ihn zu reanimieren ist umsonst. Er hat uns verlassen. Sein Leben aufgegeben. Mich aufgegeben.
Es ist vorbei.
Die Polizei und alle anderen können sagen, was sie wollen.
Es steht fest.
Ich habe einen Menschen auf dem Gewissen. NEIN. Nicht einen Menschen. Es ist ein Mensch, den ich aus der Tiefe meines Herzens liebe, mein Freund.
Kurzschlussreaktion. Ich finde mich am Bahnhof wieder. Grelle Lichter kommen auf mich zu.
Hat er sich auch so gefühlt? Was soll ich bloß machen? Was?
Ich wollte nicht, dass es so weit komme. Doch kann ich nicht mit dieser Last leben. Schuldgefühle. Ich will bei ihm sein. Nähe. Es zerreißt mir das Herz. Höllenschmerz. Ich liebe ihn doch. Gefühle.
Er hätte es nicht gewollt. Er hätte gewollt, dass ich lebe und wieder glücklich werde. Doch hat er sein Leben einfach hingeschmissen. Wollte nicht mehr weiter kämpfen.
Wieso darf ich das dann nicht auch?
Im Moment empfinde ich nur große Leere.
Unerwartet sehe ich ihn vor mir. Klar und deutlich. Er kommt auf mich zu, nimmt mich in den Arm. "Mach es nicht, bitte!", sagt er. Da war er auch schon wieder fort.
Die grellen und wunderschönen Lichter kommen immer näher. Sie funkeln wie Diamanten. Ich muss mich entscheiden. JETZT. Welchen Weg soll ich nur einschlagen?
Verzweiflungsvolle Hoffnung.