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Schulmädchen
Das Mädchen betritt die Klasse. Der Schulranzen auf ihrem Rücken fühlt sich unangenehm leicht an. Sie hat noch keine Bücher dabei, nur noch Hefte, neue Hefte, eins für jedes Fach. Die Linien - Keller, Erdgeschoss und Dachboden - sind leer und warten nur darauf, mit ordentlichen neuen Buchstaben gefüllt zu werden. Ein neuer Anfang.
"Hallo..." sagt sie.
Eisiges Schweigen antwortet.
Ihr Gesicht glüht, das Lächeln tropft auf den Boden. Hilfesuchend wandert ihr Blick zur Lehrerin. Ein Tausendwattlächeln, so nennt Vater das immer, strahlt ihr entgegen. „Schön, dass du jetzt bei uns in der Klasse bist. Ich bin sicher, wir werden eine Menge Spaß miteinander haben. Setz dich doch neben Jana, da ist noch ein Platz frei!“ Die Vokale ihrer Stimme sind sanft gerundet, die Konsonanten perfekt geschliffen. Eine Bilderbuchlehrerin an einer Bilderbuchgrundschule. Nur das Schweigen, das ist aus einer Gruselgeschichte.
Der Boden unter ihren Füßen ist hart und kalt, die Schritte hallen, die bunten Tuschebilder an den Wänden fressen den Hall gleich wieder auf. In der letzten Reihe ist ein freier Platz neben einem dicken, dunkelhaarigen Mädchen. Zaghaft setzt sie sich hin, bemüht sich, nicht mit dem Stuhl zu scharren, die Stille nicht aufzustören. Die Schließen des Rucksacks bohren sich in ihre Finger, als sie ihre Federtasche herausholt und sie auf den Tisch legt.
Das Federmäppchen ist noch neu und schön, die Stifte sind gut sortiert und ein rosa-perlmuttfarbener Füller steckt in der großen Schlaufe am Rand der Stiftreihe. Das Mädchen ist stolz auf den Füller, es findet ihn schön.
"Hallo" sagt sie zu Jana. Aber die antwortet nicht, rückt nur ein wenig weiter an die Tischkante und schweigt sie an.
Die Lehrerin beginnt mit dem Unterricht. Die Klasse soll einfache Sätze schreiben. "Fu und Fara fahren Fahrrad", schreibt der Füller. Sie kann bereits schreiben, sie kann auch schon lesen. Eigentlich ist sie in der ersten Klasse fehl am Platz. Aber jedes Kind muss die erste Klasse besuchen, denn hier lernen Kinder die Dinge, auf die es in der Schule ankommt.
Lesen. Schreiben. Hausaufgaben machen. Ordentlich schreiben. Still sitzen.
Das Mädchen wippt ein wenig mit den Beinen, ihre rosa Zungenspitze lugt zwischen ihren Lippen hervor, während sie schreibt. Ihre Sitznachbarin schaut ihr dabei misstrauisch zu.
Es klingelt. Das Mädchen hat in Schönschrift eine Liste mit sinnlosen Sätzen über fahrradfahrende Handpuppen abgeliefert, die mit ihren sprachbehinderten Freunden zusammen Oma suchen, die mit Mama und Papa am See ist.
Die Lehrerin verlässt die Klasse. Stühle scharren, das Schweigen explodiert, Lachen, Reden. Jana sieht das Mädchen aus kalten Augen an.
„Hallo...“, sagt sie leise. Ihre Stimme erstirbt. „Ich heiße...“ Harter Druck in ihrer Kehle. Voller Entsetzen fühlt sie, wie ihre Augen anfangen zu brennen. Eine Träne löst sich, rinnt ihre Wange herunter.
Dann beginnt sie zu weinen.
Die Federtasche gleicht einer Müllhalde. Die Stifte sind abgebrochen, bekritzelt, schmutzig. Die kleinen Hände, die mit ihnen schreiben, sind voller Kritzeleien, mit Kugelschreiber. Alles fliegt kreuz und quer durchs Mäppchen, die Stifte, das Radiergummi, der Anspitzer.
Das einzige, was noch in den Gummischlaufen steckt, sind die Einzelteile eines rosa-perlmuttfarbenen Füllers. Er ist am Schraubgewinde abgebrochen.
Sie weiß nicht mehr, wie lange es her ist, dass sie sich auf die Schule gefreut hat. Die schwarzen Steinplatten geben ein verzerrtes Spiegelbild von ängstlichen Augen wieder, die ihr entgegenblicken. Ordentliche Kleidchen mag sie nicht mehr. Sie trägt lieber Jeans und T-Shirts. Die meisten haben Löcher.
Ihr langes braunes Haar hat sie mit der Papierschere abgeschnitten und im Klo runtergespült. Auf ihrer Wange ist eine dünne, zackige Narbe. Sie zieht sich über das Auge und weit in den Haaransatz hinein.
"Was ist passiert?", hatten ihre Eltern sie gefragt, als sie ihre blutüberströmte Tochter aus der Schule geholt und ins Krankenhaus gefahren haben.
"Ich bin auf der Treppe ausgerutscht."
"Hat dich jemand geschubst?"
"Ich bin gerannt." Sie fragen nicht weiter.
Es ist nicht mehr lange bis zum Klingeln. Und hier sind drei Fluchtwege. Nach links, nach rechts, und durch die Tür und das Fenster vom Klo. Sie macht keine Anfängerfehler. Sie werden sie nie wieder in einer Ecke erwischen, und nur noch fünfhundert Sekunden bis es klingelt, vierhundertneunundfünfzig, vierhundert..., bis sie ins Klassenzimmer huschen kann, ganz kurz vor dem Lehrer, manchmal kommt sie zu spät. Die Lehrer waren deswegen schon bei ihren Eltern. Aber das hat nichts genützt. Die haben ihr nur gesagt, dass sie pünktlicher sein soll.
Sie haben sie nicht ernstgenommen. „Kleines Mädchen mit großen Sorgen“, hat Vater gesagt und ihr die Haare zerstrubbelt. „In den Sommerferien fahren wir nach Malta, was hältst du davon?“
Mama hat wenigstens die Eltern von Maximilian angerufen. Am Tag danach ist Maxi zu ihr gekommen und hat ihren Kopf in eine Toilette im Jungsklo gehalten und abgespült. So lange, bis sie ganz nass war. Nein, sie darf ihren Eltern nichts sagen.
Warum steht sie jeden Tag auf? Warum ist sie hier? Sie hat im ganzen Jahr nichts gelernt, nur ein paar Überlebensregeln. Sie hat sechs Feinde. Sie heißen Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag und Maximilian. Samstag und Sonntag sind mit den anderen verbündet, denn sie gehen viel zu schnell vorbei.
Als Schritte durch den Gang hallen, bleibt ihr fast das Herz stehen. Es sind doch nur noch dreihundertfünfundfünfzig Sekunden! Aber es ist bloß ihre Klassenlehrerin.
„Was machst du denn hier?“, fragt sie, und ihre gerundeten Vokale und die geschliffenen Konsonanten sind so falsch wie ihre Perlenkette.
„Verstecken“, nuschelt sie.“
„Ver-stek-ken?“, jede Silbe perfekt betont, mit zwei k, „wovor denn das?“
Das Mädchen schweigt.
„Ärgert dich jemand?“
„...le.“
„Wie bitte?“
„Alle“, flüstert sie und hasst sich dafür. „Besonders Maximilian. Der ist der Schlimmste.“
„Maximilian? Aus der Vierten? Der ist doch eigentlich ein netter Kerl... bestimmt meint er es nicht so.“ Die Lehrerin beugt sich zu ihr und lächelt. „Das siehst du bestimmt nur im Moment so. Bald seid ihr wieder Freunde.“
Das Mädchen nickt mechanisch. Erwachsene verstehen nichts, und wenn man etwas loslässt, dann fällt es nach unten und geht kaputt, so wie der Füller.
„Morgen scheint die Sonne wieder“, will die Lehrerin sie trösten. „Nicht weinen.“
Sie weint nicht. Schon lange nicht mehr.
„Gehen wir in die Klasse? Es klingelt gleich!“
Fu und Fara fahren Fahrrad. Samstag und Sonntag sind schön.
Sie ist in einer Ecke, zurückgetrieben, Ecken bieten keine Fluchtwege, Ecken sind böse. Sie hat die Arme um den Körper geschlungen, die Arme wissen, was sie jetzt erwartet, dass sie den Körper abschirmen müssen. Sie wünscht sich Tentakelarme, wie ein Tintenfisch, in die sie sich einwickeln kann und nicht mehr da sein.
Tentakelarme, die um sie herumwirbeln, die alles treffen und es fortschleudern, ein Maul mit Reißzähnen, sie ist ein Monster, ein kreischendes Monster, nicht noch einmal, das war zu viel.
Sie springt Maximilian an, schlägt ihre Klauen in seinen Körper, schlägt auf ihn ein, in diesem Moment verwandelt die Wut sie in ein Monster, ein Monster, das seine Finger in seine Augen rammen kann, das an seinen Haaren reißt und sich für Schläge und Stöße und zerbrochene Füller rächen kann.
„Hör auf damit, du bringst ihn ja um!“
Etwas packt sie und reißt sie zurück. Hände. Sie beißt hinein, bis sie Blut auf der Zunge schmeckt, salzig, heiß, nach Genugtuung... Die Tentakel, die Reißzähne und die Krallen verschwinden. Es bleibt nur Müdigkeit zurück.
Der Stuhl ist trotz des Polsters hart. Der Bezug ist aus grauem Stoff, der aussieht wie ganz viele kleine Karos, die auf der Spitze stehen. Um sie herum – Erwachsene. Mama, Vater, der Direktor, die Lehrerin, Fremde.
„Was hast du dir nur dabei gedacht?“
„Warum hast du das getan?“
„Wie konntest du das tun?“
„Was hat er dir getan? Warum hast du...“, Schluchzen.
„Sperrt sie ein! Sperrt sie ein!“, eine hysterische Frau.
Und dann, eine ruhige Stimme: „Gisela, das Kind ist erst sieben...“