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Seelentrümmer

Tex

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12.03.2009
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Seelentrümmer

Frauen in der Physik waren auch an der KMU, Karl-Marx-Universität Leipzig, eine Seltenheit. Die sozialistische Erziehung hatte da nicht all zu viel bewirkt. Ruth war eines dieser seltenen Exemplare. Ihre gut leserlichen Vorlesungsnachschriften hatten sie bei ihren Kommilitonen allgemein beliebt gemacht. Rudi lieh sich besonders gern ihre Ausarbeitungen aus.
Anfangs fanden sie die Ähnlichkeit ihrer Namen lustig: Ruth und Rudi. Später entdeckten sie immer mehr Gemeinsamkeiten.
Sie lernten zusammen für Testate und Prüfungen, diskutierten politische Aufgaben. Irgendwann fanden sie heraus, dass sie auch gemeinsam musizieren konnten, Rudi begleitete am Klavier Ruths Geigenspiel.
Besuchten sie gemeinsam eine Veranstaltung, ein Konzert, dann fanden sich bei bestimmten Melodien ihre Hände, und ein kurzer Blick bekräftigte, dass der Andere im selben Moment das selbe empfand. Das machte sie glücklich und vertiefte ihre Zuneigung zueinander. In politisch angespannten Zeiten war ein zuverlässiger Freund besonders zu schätzen, dem man seine Zweifel und Gedanken rückhaltlos anvertrauen konnte.
Sie waren jung und erfreuten sich des Gedankens, für einander bestimmt zu sein. Schwärmerisch vertiefte Ruth sich in die Biografien berühmter Forscherpaare wie der Curies, Joliot-Curie oder Hahn-Meitner. Sie malte sich aus, wie es wohl wäre, wenn ihr später gemeinsam mit Rudi eine herausragende Entdeckung gelänge. Vielleicht in der Biophysik oder einem anderen Grenzgebiet.
Auch Rudi glaubte, mit dieser Frau an seiner Seite seine wissenschaftlichen Träume verwirklichen zu können. Was sollte sie daran hindern? Er hatte nur noch ein Vertiefungspraktikum vor sich, dann sollte die Diplomarbeit beginnen.
Anfang 1958 brach das Unerwartete herein: In einer FDJ-Versammlung wurden alle männlichen Studenten aufgefordert, sich zum Fahneneid bereit zu erklären. Die Streitkräfte der DDR sollten dem Warschauer Pakt unterstellt werden, dazu brauchte Ostdeutschland eine schlagkräftige Armee. Um der Welt als friedliebender Staat zu erscheinen, wollte die Regierung jedoch den Militärdienst nicht einführen. Ihn aber dennoch durchführen. Jeder Student sollte sich ‚freiwillig‘ verpflichten, an einer militärischen Ausbildung teilzunehmen.
Rudis Wesen widersprach das zutiefst. Es kam zu heftigen Diskussionen mit der politischen Leitung.
Er wolle sich auf keinen Fall zu einem Soldaten erziehen lassen, zu einem potentiellen Mörder. Niemand könne ihm doch weis machen, dass einem die Knarre nur als Spielzeug in den Arm gedrückt würde. Keiner habe das Recht, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen, schon gar nicht mit einer Waffe aus dem Hinterhalt. Nie und nimmer würde er in eine militärische Ausbildung einwilligen. „Mein Vater ist aus dem Krieg nicht zurück gekommen. Ich will nie andere Kinder zu Halbwaisen machen!“
Rudi war ein sehr guter Student und unterlag der trügerischen Hoffnung, er würde ungeschoren damit durchkommen.
Die Parteimitglieder warfen ihm vor, er missachte diesen Staat, in dem er lebe. Er wäre nicht bereit, ihn gegen äußere Aggressoren mit der Waffe zu verteidigen. Den ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden! Wenn er auf seiner Meinung beharre, dann seien auch die Werktätigen dieses Staates nicht länger gewillt, ihm ein Studium zu gewähren. Schließlich sei es eine große Ehre, eine Universität in der DDR besuchen zu dürfen.
Ruth war zum ersten Mal in ihrem Leben froh, kein Mann zu sein. Für Studentinnen stand diese Entscheidung nicht an. Aber es schnürte ihr das Herz ab, ihren Freund in dieser ausweglosen Situation zu sehen.
Wenige Wochen später erhielt er mit der Post die Ankündigung eines Disziplinarverfahrens, das die Exmatrikulation zum Ziele hatte. Wie allgemein bekannt, würde ein in Ungnade Gefallener auch in der Industrie keine angemessene Stelle bekommen. Sein beruflicher Weg in der DDR war abgeschnitten.
Verzweifelt nahmen Ruth und Rudi von einander Abschied, als es für ihn keinen anderen Ausweg gab, als über Berlin in den Westen zu gehen. Am liebsten wäre Ruth mit ihm gegangen. Mit jeder Faser ihres Herzens drängte es sie danach. Doch sie hatte zwei jüngere Geschwister. Die hätten es auszubaden, würde sie Republikflucht begehen. Ältere Leute sprachen von ‚Sippenhaft‘. Keines der Geschwister würde je zum Studium zugelassen. Auch die Eltern müssten wohl mit Strafen und Zurückstellungen rechnen. Das wollte und konnte sie nicht auf sich nehmen, auch wenn es sie zerriss.
Sie litten beide. Rudi unter dem Verlust von Heimat und Freunden. Dass seine Mutter ihrem einzigen Kind bald folgen würde, davon war auszugehen. Sie war MTA und hatte überall gute Berufs-Chancen.
Ruth hatte das Gefühl, ein Teil ihrer Seele würde mit ihm von ihr genommen. Zurück blieben Leere und Trauer. Dem Argwohn der Kollegen ausgesetzt, musste sie denen weis machen, dass sie keine Ahnung von Rudis Plänen gehabt hätte. Bereits Mitwisserschaft war strafbar. Ruth vermutete, dass ihre Post abgefangen und kontrolliert würde. Deshalb hatten sie vereinbart, sich so wenig wie möglich zu schreiben, und dann nur an eine Deckadresse. Auch war sie nicht sicher, ob die Mannschaft vom Runden Eck, die Stasi, sie nicht beschattete. Jeden Schritt und jedes ihrer Worte musste sie gründlich überlegen. Ihre Nerven waren oft zum Zerreißen. Tagsüber funktionierte sie mechanisch, doch abends, allein in ihrem Zimmer, brach alles Elend, aller Kummer aus ihr heraus.

Rudi konnte ohne nennenswerten Zeitverlust das Studium im Westen fortsetzen. Auch war er durch die neuen Eindrücke stärker abgelenkt von seinem Verlust. Doch auch er sehnte sich nach seiner Freundin. Beide sannen, wie sie ein Wiedersehen arrangieren könnten.
Nach einem reichlichen Jahr bot sich endlich eine Gelegenheit: Eine Tagung in Westberlin. Es war genug Zeit verstrichen, so dass Ruth sich mit ihrer Teilnahme nicht verdächtig machte. Zum Glück war kein Bekannter von Leipzig gekommen.
Zwei Tage Innigkeit liehen sie sich von einem missgünstigen Schicksal. Sie schwankten zwischen Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft und realistischer Sicht der unüberbrückbaren Hindernisse.
Kurze Zeit später wurde für Studenten und Jungakademiker ‚Kontaktsperre‘ verhängt: Sie durften keine Briefverbindung nach Westdeutschland einschließlich Westberlin oder ins kapitalistische Ausland unterhalten.
Dennoch ergaunerten sie sich im Sommer 1960 nochmals ein gemeinsames Wochenende. Die Zug-Kontrolle nach Berlin überlistete Ruth mit einer Einladung zu einem Verlag. In der S-Bahn noch einmal wildes Herzklopfen, um am Bahnhof Friedrichstraße der Polizei-Patrouille nicht aufzufallen.
Rudi hatte den Schlüssel zu einer kleinen Wohnung, dessen Bewohner verreist war. Es war ihr erstes gemeinsames Frühstück, - und ihr letztes. Für wenige Stunden erlagen sie der Illusion einer dauerhaften Zweisamkeit. Umso grausamer der Schmerz der erneuten Trennung. Ruth war, als zahlte sie jedes Lebe-wohl mit einem Stück ihrer Seele. ‚Wohlan den Herz, nimm Abschied und verwunde!‘
So konnte es nicht weiter gehen, das war beiden klar.
Ruth schmiedete dennoch Pläne: Sie könnte notfalls als Lehrerin in Ostberlin arbeiten. Rudi musste jedes Mal fliegen, da er als ‚Republikflüchtling‘ nicht durch die DDR fahren konnte. Vielleicht würde er eine Arbeit in Westberlin finden. Jeder Strohhalm war willkommen. Nächsten Sommer wollten sie weitersehen!
Sommer 1961. Ruth hatte eine Fahrkarte an die Ostsee gelöst. In Westberlin müsste sie umsteigen, dort wollte sie die Fahrt unterbrechen, um Rudi zu treffen. Aber der Zug hielt schon weit vor Berlin. Nichts bewegte sich. Die Fahrgäste wurden unruhig. Schließlich verkündete der Fahrdienstleiter: „Heute geht’s gar nicht weiter.“
Es war der 13. August, Westberlin wurde abgeriegelt, anfangs mit Stacheldraht, dann mit einer hohen Mauer, dem Schutzwall.
Die Tränen der Verzweiflung, die an diesem Tag flossen, hätten die Mauer unterspülen können.
Sehnsucht und Trennung verklärten das Bild der verlorenen Geliebten zum Ideal. Kristallisation nennen die Psychologen das.
Noch einmal schmiedeten sie Pläne. In Prag wollten sie sich treffen. Doch gelang es Rudi und Ruth nie, von den tschechoslowakischen Militärmissionen in Ost und West gleichzeitig Visa zu bekommen.
Die politische Lage war für ein Zusammenkommen aussichtslos und hoffnungslos.
Das Leben musste aber weiter gehen. Beide suchten und fanden mit der Zeit neue Partner. Unweigerlich erlitten beide dabei Schiffbruch: Rudi glaubte in seiner ersten Frau Ruth wieder gefunden zu haben. Ruth hingegen verglich ständig ihre Gefühle mit denen, die sie als 20-Jährige Rudi gegenüber empfunden hatte.
Beide kapselten ihr Gemüt lange Zeit ab, um es vor weiteren Verletzungen zu schützen.
Rudi ergriff die Flucht nach vorn: Er forschte einige Jahre in den USA. Für Ruth war die Hohe Tatra der Höhepunkt aller Auslandsreisen. Aus wissenschaftlichen Veröffentlichungen konnte jeder ersehen, was der Andere arbeitete und wo er lebte. Ohne Telefon, ohne Briefe ging ihr Privatleben getrennte Wege. Mit pragmatischen Schritten. Sie heirateten, gründeten Familien, wurden älter.

Die Aufregungen des Jahres 1989 erlebte Ruth unmittelbar mit, in der Nikolaikirche in Leipzig, auf Montagsdemonstrationen. Als sie mit ihrem Auto an einem Montag Nachmittag von außerhalb zurück in die Stadt wollte und in eine Verkehrskontrolle geriet, meinte der Polizist wohlwollend: „Na, da kriechen se heide awer keen Bargblatz. Heide is doch Dähmo!“
Rudi verfolgte das Unglaubliche am Bildschirm.
Ziemlich genau 30 Jahre nach ihrem letzten Treffen fuhr Ruth zu einem Kongress nach Westdeutschland. Ihre Forschungsgruppe sollte abgewickelt werden. Sie wollte Physiker aus dem Westen finden, die ihnen beim Überleben behilflich sein könnten.
Es war nicht schwer, den alle überragenden Rudi im Gewühl der Tagungsteilnehmer zu entdecken. Äußerlich kaum verändert, hatte er eine junge, attraktive Kollegin im Schlepptau. Für Ruth war es offensichtlich, dass zwischen denen etwas lief.
In der Kaffeepause begrüßten sie sich, tauschten Fotos ihrer Kinder aus. Dass ihre Söhne innerhalb einer Woche zur Welt gekommen waren, hatte keine tiefere Bedeutung mehr.
Als Rudi ausgerechnet ihr dann auch noch vorschwärmte, seine Frau, es war seine zweite, die Mutter seiner Kinder, habe ihm zuliebe ihren Beruf aufgegeben, da war Ruth nicht nur klar, dass sie ihre Gedanken an ein Phantom verschwendet hatte. Sie erkannte auch, dass - allen Sonntagsreden der Politiker zum Trotz - nichts so einfach zusammen wachsen würde. Nicht mal das, was bereits einmal zusammen gehört hatte.
Die Mauer war weg, aber an ihrer Stelle klaffte ein breiter Graben. Der wuchs nicht einfach zu. Es würde viel Mühe und Bereitschaft von beiden Seiten erfordern, ihn zuzuschütten, bis sich dann irgendwann in grauer Zukunft ein tragfähiger Rasen darüber ausbreiten würde.

 

Hallo Tex,
willkommen auf Kg.de! Deine Geschichte habe ich mit Interesse gelesen und finde sie anschaulich und größtenteils gelungen. Obwohl sie in der Rubrik 'Historik' steht, ist sie doch auch eine Liebesgeschichte, ganz besonders am Ende, wie ich finde. Ruths Gefühle sind gut nachvollziehbar, sie hat ihre Liebe konserviert, auch in Ermangelung der Erlebnisvielfalt, die Rudi zur Verfügung stand. Ich finde es schön, dass du keine Moralurteile fällst, denn deine Beobachtung finde ich treffend und jeder kann sich sein Teil dazu denken. Obwohl ich keine familiären Beziehungen zu Ostdeutschland habe, bin ich begeisterte Berlinreisende und froh, die vielen kulturellen Stätten in beiden Teilen der Stadt besuchen zu können.
Deine Geschichte vermittelt für mich die Atmosphäre des Getrenntseins mit den Wandlungen der Zeit recht anschaulich, vielleicht ist sie ein bisschen zu beschreibend und mehr Handlung täte ihr gut, doch ich habe sie gerne gelesen.
LG,
Jutta

 

Hallo, Jutta. Seelentrümmer lehnt sich an eine wahre Geschichte an, die Zwilling-Clowns ergaben sich aus einer Schreibwerkstatt. Beide bezeihen sich auf 20 Jahre Mauerfall.
Wahrscheinlich ist Fiction nicht so mein Ding. Aber da ich ein Neuling in der schreibenden Zunft bin (zwei Roman-Biografien sind erschienen im Kaufmann-Verlag), genieße ich erst einmal, dass meine Geistesblitze überhaupt gelesen werden.
Danke! Liebe Grüße von Tex

 

Hallo Tex,

das ist die zweite Deiner Geschichten, die ich heute gelesen habe und sie gefällt mir irgendwie deutlich besser. Da ist Fleisch dran, Fakten und es passiert etwas. Am Anfang störte mich etwas der ein wenig steril wirkende, berichtende Tonfall.

Aber die Katastrophe zum Zeitpunkt, wo doch alles wieder gut hätte werden können, entschädigt dafür.

Die Geschichte hinterlässt mich nachdenklich, das ist das größte Lob, das ich an dieser Stelle aussprechen kann.

LG,

N

 

Hi Tex,

im ganzen eine recht gelungene Geschichte, wie ich finde. Sie zeigt mit quasi Berichterstattender Qualität die Konsequenzen der politischen Spannungen für den Einzelnen. Allerdings finde ich, dass du den Beginn des Konfliktes, der sich in der Geschichte entwickelt etwas zu schnell abwickelst. Er will sich nicht freiwillig für die Armee melden, also fliegt er aus der Uni. Kein Abwägen, keine Verhandlungen mit verantwortlichen Stellen, keine Partei/Verband-Beziehungen, um der Lage zu entrinnen. Hier würde ein Ausbau die Geschichte bereichern. Ansonsten ist sie ganz gut gemacht.
Besonders gefallen hat mir das Ende der Geschichte, du symbolisierst die Trennung zwischen Deutschland und Deutschland auf sehr treffende Weise mit verschiedenen Moralvorstellungen der Protagonisten (Wessie-Frau=Hausfrau/Im Osten die wissenschaftliche Karriere). Auf diese Weise wird die Mauer der Köpfe real aufgezeigt und verkommt nicht zur leeren Phrase.

 

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