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Sein Parfum
Sie lag in ihrem Bett und blickte auf die dunklen Strähnen seiner Haare. Leise vernahm sie sein gleichmäßiges Atmen und sie schloß für einen kurzen Moment ihre Augen. Sein Parfum drang augenblicklich in ihr Innerstes ein, und ein warmer Schleier der Geborgenheit umspielte ihr Herz. Mein Gott, wie sie diesen Mann liebte.
Als sie ihn vor zehn Jahren kennengelernt hatte, war es diese berühmte Liebe auf den ersten Blick; und deshalb hatte sie bei seinem Heiratsantrag vor drei Jahren auch sofort ´ja´ gesagt. Sie wollte eigentlich niemals heiraten, doch es war so spontan – so ehrlich -, daß sie gar nicht anders konnte. Oh ja, sie liebte diesen Mann von Minute zu Minute mehr. Und erst recht, seit er von ihrem Verhältnis erfahren und ihr verziehen hatte.
Sie kam sich damals – ist es wirklich schon ein halbes Jahr her? – so schäbig vor, als alles herauskam; doch er hatte ihr verziehen. Und sie wußte auch nicht, wie es gewesen wäre, wenn er gegangen wäre. Sie hätte es zwar verstanden, aber tief in ihrem Innern wollte sie niemals ohne ihn leben. Und doch war da dieser Andere gewesen; der Andere, der ihr für einen kurzen Augenblick all das gab, was in den meisten Beziehungen nach zehn Jahren auf der Strecke blieb.
Aber das war jetzt vorbei; sie hatten lange geredet, und sie hatte wieder gelernt, die wahre Liebe zu schätzen. Die wahre und einzige Liebe zu ihrem Mann!
Wieder sog sie die warme Luft in ihre Lungen, und wieder schmolz sie bei dem Geruch seines Parfums dahin. Sie öffnete die Augen und gab ihm einen sanften Kuß. Sie hatten sich vorhin geliebt und es war der schönste Sex, den sie je in ihrem Leben gehabt hatte. Eigentlich war der Sex mit ihm immer schön. Sie küßte ihn erneut und legte den Arm um ihn.
„Bitte verlaß mich nie“, flüsterte sie leise. „Bitte niemals, mein Liebling!“
Sie schloß erneut die Augen, und mit seinem Geruch schlief sie kurz darauf glücklich ein.
Am nächsten Morgen war sie früh aufgestanden. Es war zwar Sonntag, aber sie wollte ihn mit einem exzellenten Frühstück überraschen. Das sanfte Klimpern des Bestecks und das monotone Gluckern der Kaffeemaschine erfüllten den Raum mit ihrer lieblichen Melodie. Sie hörte die Dusche im oberen Stock, und sie wußte, daß er ebenfalls aufgestanden war. Schnell stellte sie die restlichen Sachen auf den Tisch und dekorierte ihn mit dem Strauß Rosen, den er ihr gestern geschenkt hatte.
Fünf Minuten später drang sein Parfum in ihre Nase und sie wußte, daß er die Treppe hinunter kam. Sie konnte ihn niemals hören – manchmal hatte sie das Gefühl, er würde durch die Räume förmlich schweben -, aber sie konnte ihn schon von weitem riechen.
Dieses Parfum, das er schon bei ihrem ersten Treffen benutzt hatte, schien wie für ihn gemacht. Es ließ sich nicht beschreiben, aber dieses Parfum war er! Sie konnte sich nicht vorstellen, daß es jemand anderes benutzen würde; und sie hatte es auch noch niemals bei jemand anderem gerochen. Dieses Parfum war ihr Mann!
Er trat in das Eßzimmer, und sein Lächeln verwandelte ihren Körper in einen warmen See des Glücks. Er ging auf sie zu und küßte sie innig.
„Ist etwas Besonderes passiert?“ fragte er sanft, und der zweite Kuß folgte.
„Ich liebe Dich über alles! Das ist passiert.“ Es war ihr, als hätte sie einen dicken Kloß im Hals. Ihr Glück schien beinahe unerträglich.
„Ich liebe Dich auch!“
„Was hältst Du davon, wenn ich Dich nachher zum Essen einlade?“ fragte sie. Sie blickte ihm dabei in die Augen. In diese Augen, die so unendlich strahlten, wie ein tiefer See an einem hellen Frühlingsmorgen.
„Oh, da kann ich ja gar nicht ´nein´ sagen. Hast Du an etwas Bestimmtes gedacht?“
„Hm? Wie wär’s mit dem Italiener?!“
„Du willst alte Erinnerungen auffrischen?! Waren wir da nicht bei unserem ersten Treffen?“
„Ich bewundere Dein Gedächtnis. Vorher würde ich gern in den Park gehen, wenn Du magst.“
Er lächelte.
Oh, wie sie diesen Mann liebte! Lieber Gott, laß das nie zu Ende sein!
Als sie durch den Park schlenderten, umgeben von seinem Parfum, da spürte sie die Vollkommenheit der Welt. Vielleicht hatte ihr Verhältnis ja doch etwas Gutes gehabt; sie hatten sich wieder neu gefunden. Aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken.
„Sieh mal, Schatz, die Blumen!“ rief sie auf einmal, wie ein kleines Kind, das auf dem Rummel einen Wagen mit der schönsten Zuckerwatte entdeckt hatte. „Warte hier!“
Sie ließ seine Hand los und rannte in die bunte Pracht der Frühlingsblüten. Sie suchte eine besonders Schöne heraus, pflückte sie und gab ihr einen sanften Kuß. Dann drehte sie sich wieder um.
Ihr Blick wanderte über den steinernen Weg und über vereinzelt dahintrottende Passanten. Wo war er?
Langsam, suchend setzte sie einen Schritt vor den Anderen. Sie sah ein junges Pärchen, eng umschlungen, und sie sah eine alte Dame mit Hund. Wo war er?
Sie spürte, wie ihr Herz zu rasen begann. „Schatz?“
Der Ruf war nicht sonderlich laut, aber sie wollte auch nicht hysterisch werden. Sie hatte den Weg erreicht, und ihr Blick jagte über die bunte Frühlingswiese; hindurch zwischen Büschen und Bäumen, von denen einige die ersten Knospen hervorbrachten. Wo war er? Ihre Nasenflügel vibrierten. Wo war sein Parfum? So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte es nicht riechen.
„Erick!“ Sie erschrak selbst über die Lautstärke ihrer Stimme. Die alte Frau mit dem Hund blickte in ihre Richtung; fragend oder mitleidig? Es war ihr eigentlich egal. Kalter Schweiß trat auf ihre Stirn.
„Erick! Wo bist Du?“
Ein kalter Hauch wehte durch ihre Kleidung, und eine Gänsehaut überzog ihren Körper. Nur nicht hysterisch werden! Er wird schon irgendwo sein. Gleich würde sie sein Parfum riechen; und Sekunden später würde er auftauchen. Ja, genauso wird es sein!
Vielleicht mußte er nur kurz austreten . . .
„Erick?“
Zum ersten Mal verspürte sie Angst. Angst, ihn zu verlieren. Nicht hysterisch werden! Er ist nur austreten. Sie kannte seine schwache Blase. Also, sie würde hier warten, bis sie sein Parfum riechen würde.
Ein heißes Kribbeln zog sich über ihre Beine, hinauf in ihr Becken. Sie wußte, daß irgendwas nicht stimmte; irgendwas war falsch. Erick würde nie so einfach verschwinden. Und wenn er mußte, würde er ihr vorher bescheid sagen; ja, das würde er. Also mußte irgendwas passiert sein. Sie wollte nicht darüber nachdenken; es durfte einfach nichts passiert sein! Sie liebte ihn doch.
Sein Handy! Genau das war es! Sie kramte in ihrer Jackentasche. Nach hektischen Griffen fand sie ihres. Schnell wählte sie seine Nummer. Ihr Herz raste weiter. Das monotone Tuten drang in ihren Kopf, wie das Hämmern eines tosenden Gewitters. Komm, geh schon ran! Nach einer geraumen Weile steckte sie es zurück in ihre Tasche. Es muß etwas passiert sein. Die Gedanken jagten durch ihren Kopf, doch irgendwie konnte sie keinen fassen. Erick, wo bist du?
´Die alte Frau!´ schoß es ihr durch den Kopf.
Sie rannte los, sah sie von weitem, sah, wie der Hund an einen aufkeimenden Strauch pinkelte.
„Entschuldigen Sie!“ Sie hatte die Frau erreicht. „Haben Sie einen jungen Mann gesehen, mit Mantel und einem gestreiften Schal?“ War das wirklich alles, was ihr zu ihm einfiel?
Die alte Dame blickte sie verwirrt an, während ihr Hund hechelnd um sie herumsprang.
„Nein, habe ich nicht. Tut mir leid.“ Das war alles.
Sie würde es noch einmal auf dem Handy versuchen.
„Junge Frau, bitte beruhigen Sie sich!“ Der Polizist beugte sich zu ihr hinüber und berührte ihre Hand. „Sie müssen sich wirklich keine Sorgen machen. Wir werden Ihren Mann schon finden. Er ist mit Sicherheit zu hause.“
Sie blickte hektisch. „Er geht nicht an sein Handy.“
Wieder blickte sie der Polizist beinahe gütig an. „Das hat wirklich nichts zu sagen, glauben Sie mir. Vielleicht hat er es einfach abgeschaltet.“
„Aber warum war er auf einmal verschwunden? Einfach so?“ Sie hatte das Gefühl, als wäre sie einer Panik nahe. Erick war weg; einfach so! Er war verschwunden. Sie hatte mindestens eine Stunde lang den gesamten Park abgesucht, hatte zwischendurch immer auf seinem Handy angerufen; aber er blieb verschwunden. Sie hatte wie ein räudiger Hund geschnuffelt, nur um irgendwo sein Parfum zu erhaschen. Doch da war nichts! Erick war verschwunden; einfach so!
„Passen Sie auf“, sagte der Polizist wieder in seiner beruhigenden Stimme, „wir werden jetzt mit Ihnen nach hause fahren. Und wenn er da auch nicht ist, werden Sie irgendwelche Freunde anrufen. Und wenn er bis morgen immer noch nicht da ist, dann werden wir eine Fahndung herausgeben.“
„Bis morgen?“ Ihre Stimme klang laut. „Ich kann nicht bis morgen warten. Was, wenn er entführt wurde?“
„Wir fahren zu Ihnen. Einverstanden? Und dann reden wir weiter.“
Irgendwie konnte sie das Ganze nicht beruhigen, doch sie willigte ein.
Zwanzig Minuten später hatten sie ihr Haus erreicht. Zitternd stieg sie aus dem Polizeiwagen. Lieber Gott, bitte laß ihn da sein!
Der nette Polizist folgte ihr, und irgendwie gab es ihr ein trügerisches Gefühl der Sicherheit. Doch gleichzeitig wußte sie, daß er an dieser ganzen perfiden Situation doch nichts ändern konnte.
Mit flackernden Händen versuchte sie den Schlüssel in das Schlüsselloch zu stecken. Dann stutzte sie. Ihre Nasenflügel begannen zu vibrieren; war es da? Sie sog die kühle Luft in ihre Lungen. Es war da! Sein Parfum!
Immer hektischer drehte sie an dem Schlüssel; ja, es war sein Parfum! Sie konnte es genau riechen.
„Was ist mit Ihnen?“ fragte der Polizist.
Ihre Bewegungen wurden immer schneller; die Tür sprang auf, und sie stürmte hinein.
„Erick?“ Es war sein Parfum!
Sie rannte durch den Flur; hinein ins Wohnzimmer. Und da saß er! Er saß in seinem Sessel vor dem Fernseher, und er lächelte sie an.
„Erick!“ Sie stürmte auf ihn zu, fiel in seine Arme. Sie drückte ihn innig, und sie roch sein Parfum. „Oh Erick, ich hab mir solche Sorgen gemacht . . .“
Hauptkommissar Beil stand im Türrahmen und sein Mund stand offen. Er blickte auf die Szenerie, die sich da vor seinen Augen abspielte. Er sah die Frau, die Frau, die auf seiner Wache vor Sorge um ihren Mann beinahe geweint hätte. Er sah die Frau, die dort drüben auf diesem alten Sessel lag und so tat, als würde sie jemanden umarmen.
Die Hand seiner Kollegin berührte seine Schulter.
„Marc“, flüsterte sie, „ich habe da gerade einen Funkspruch bekommen.“
Hauptkommissar Beil sah sie an.
„Erick Wallon kam vor drei Monaten bei einem Autounfall ums Leben.“
Die Augen des Kommissars blickten auf die Frau im Sessel, die ihn jetzt lächelnd ansah.
„Danke, Herr Kommissar!“ sagte sie mit Tränen in den Augen. „Sie hatten recht; mein Mann ist wirklich hier. Ich danke Ihnen für alles!“
Sie drehte sich um und blickte auf ihre große Liebe. Auf den Mann, den sie über alles liebte, auf den Mann, den sie betrogen hatte und der trotzdem bereit gewesen war, ihr zu verzeihen. Auf den Mann, der ihr Leben war und dessen Parfum sie jetzt wieder riechen konnte . . .