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Selig sind die Blinden, denn sie werden nicht erkennen

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08.06.2003
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Selig sind die Blinden, denn sie werden nicht erkennen

Wahnsinn bei Individuen ist selten, aber in Gruppen, Nationen und Epochen die Regel.
-Friederich Nietzsche

Regen fiel Bindfäden gleich zu Boden und verwandelte den Asphalt in eine unwirkliche, spiegelnde Oberfläche. In den Vertiefungen der Straße sammelte sich das Wasser, bildete dreckige Seen von nicht abschätzbarer Tiefe. Der schwarze Benz rollte langsam
vor das große, halbgeöffnete Kirchenportal und drängte schmutziges Wasser in kleinen Fontänen zur Seite.
Mit einem sanften Ruck kam das Auto zum Stehen. Die Beifahrertür öffnete sich und ein elegant gekleideter Mann stieg, einen schwarzen Schirm aufspannend, aus.
Eine scheinbar endlos lange Zeit betrachtete er die Kirche, dann holte er tief Luft und machte einen Schritt nach vorn.
Das plötzliche, schrille, ohrenbetäubende Klingeln neben ihm, ließ ihn einen Schritt rückwärts springen. Der Radfahrer drehte sich um und brüllte ihm etwas zu, dass jedoch vom harten Prasseln des Regens und der Nerven zerreißenden Klingel übertönt wurde.
Sein Blick blieb auf dem Gesicht des Radfahrers haften, das aufgrund des Brüllens zu einer wütenden Fratze verzogen war. Doch auch als er den Mund wieder schloss, blieb die Fratze bestehen. Der Radfahrer lächelte wölfisch und drehte sich wie in Zeitlupe wieder nach vorne.
Ein Zittern erfasste den Mann, ließ den Regenschirm in seiner Hand hin und her tanzen.
Plötzlich legte sich eine Hand auf seinen Arm und ließ ihn laut aufschreien. Wild drehte er sich um und starrte den Mann neben sich an.
„Meine Güte Klaus! Du siehst aus als hättest du ein Gespenst gesehen! Wie lange willst du noch hier im Regen stehen? Deine Braut wartet auf dich.“
Klaus starrte auf die Hand, welche auf seinem Arm ruhte. Er kannte dieses Bild, doch woher?
Langsam hob er den Blick und erstarrte, denn sowohl die Straße, als auch die Kirche waren verschwunden. Sie standen auf einer weiten, staubigen Ebene und starrten sich an. Er sollte seinen besten Freund erkennen, doch dort stand ein Anderer. Ein hagerer Mann mit eingefallenen Wangen und Nagetieraugen. Das rattenartige Gesicht war zu einem Lächeln verzogen, das jedoch nicht die kalten Augen erreichte.
„Es geht wieder los, was?“ Der Rattenmann hatte eine ächzende Grabesstimme, die so gar nicht zu seinem Äußeren passen wollte.
Klaus schaute ihn irritiert an. „Was?“
„Ich hab gesagt, dass ich noch nie einen Mann mit solcher Panik vor der eigenen Hochzeit gesehen hab. Und nun komm endlich! Die warten sicher nicht ewig da drin.“
Blinzelnd sah er sich um. Die Kirche war wieder da, die Straße ebenso und sein bester Freund hatte auch nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit einer Ratte.
Langsam durchschritten sie den Regen und näherten sich dem Portal.
Klaus schaute konzentriert auf seine Schuhe, traute sich nicht seinem besten Freund ins Gesicht zu blicken. Vor der hölzernen Tür blieb er erneut stehen.
“Peter?“
„Ja?“
Klaus hob zögernd sein leichenblasses Gesicht und schaute Peter in die Augen. Er erwartete wieder das Rattengesicht zu sehen und seufzte erleichtert als nichts passierte.
„Was ist, wenn ich das Falsche tue?“
„Liebst du sie?“
Überraschung wischte die Sorgenfalten von Klaus Stirn.
Sein erster Impuls war „Natürlich!“ zu sagen, doch dann kamen ihm Zweifel. Liebte er sie? Wie oft hatte er sich schon angeekelt weggedreht, wenn sie nachts neben ihm lag und Spuckefäden aus ihrem Mundwinkel hingen? Wie oft hatte er sich bei Peter schon beschwert, dass sie wie eine Hyäne klang wenn sie lachte? Er konnte es nicht mehr zählen.
Und doch hatte sie etwas, das ihn faszinierte.
Peter wischte etwas Staub von seiner Schulter und stieß die Tür auf.
„Ich weiß es nicht. Aber ändern lässt es sich eh nicht mehr. Und Liebe wächst schließlich.“
Klang er überzeugend? Er zweifelte daran, doch an Peters Gesichtsausdruck sah er, dass dieser zufrieden war.
Zweihundert Augenpaare starrten ihn an.
Schweiß schien aus jeder Pore seines Körpers zu kriechen. Sein Hemd klebte an ihm und seine Fliege schien in zu erwürgen. Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen und schritt zum Altar, wo der Priester ihm die Hand reichte.
Klaus lächelte den Priester gezwungen an und griff nach der Hand. Sein Lächeln gefror.
Langsam senkte er den Blick auf die Hand, die er in seiner hielt, und stieß zischend den angehaltenen Atem aus. Die Hand war eine mit grauem Fell überwucherte Kralle, unter deren Haut Beulen wie Krebsgeschwüre wucherten.
Schnell ließ er die Hand sinken und hob ruckartig den Kopf.
Der Priester lächelte immer noch, jedoch war aus dem anfänglich freundlichen Lächeln ein wölfisches Grinsen geworden, wie zuvor bei dem Radfahrer.
Bevor er etwas tun oder sagen konnte erklangen die ersten Töne des Hochzeitsmarsches aus der Orgel.
Er drehte sich mit wild klopfendem Herzen um und schaute über den langen Gang hinweg auf seine Braut.
Sie schien in ihrem üppigen weißen Kleid geradewegs aus dem Himmel gekommen zu sein. Scheinbar schwebend glitt sie immer näher und er konnte unter ihrem Schleier ihr glückliches Lächeln und ihre makellosen, weißen Zähne sehen.
Als sie bei ihm angekommen war, drehten sich beide zum Priester um, der wieder ein freundliches, väterliches Lächeln zeigte.
Ein Pfeifen ließ Klaus zusammenzucken. Er sah, dass der Priester sprach, konnte jedoch kein Wort verstehen. Verwirrt schaute er zu seiner zukünftigen Frau, die glücklich lächelnd an den Lippen des Priesters hing. Verstohlen betrachtete er einen Teil der Hochzeitsgesellschaft aus dem Augenwinkel. Sein Blick fiel auf die Brautmutter und entsetzt schaute er wieder auf den Priester. Sie hatte wie ein schrecklich entstellter Vogel ausgesehen. Federn standen wild von ihrem schmalen Kopf ab und ihr orangefarbener Schnabel öffnete sich leicht, als sich ihre Blicke trafen, so dass er deutlich die blaue Zunge sehen konnte.
Undeutlich hörte er „Ja ich will“ und sah, wie der Priester sich ihm zuwandte. Das Piepsen verschwand so plötzlich, wie es gekommen war und verwirrt überlegte Klaus, wieso die Zeremonie schon so weit fortgeschritten war.
„Ich frage dich, Klaus, vor Satans Angesicht: Nimmst du deine Braut an, als deine Frau und versprichst du, ihr die Treue zu halten, in guten und bösen Tagen, in Gesundheit und Krankheit, sie zu lieben, zu achten und zu ehren, bis der Tod euch scheidet?“
Hatte er sich verhört? Seine Nerven vibrierten wie ein zu stark gespanntes Stahlseil. Bevor er protestieren konnte, hörte er sich selber „Ja ich will“ sagen und glaubte gleich ohnmächtig zu werden.
"Nimm den Ring, das Zeichen eurer Liebe und Treue, steck ihn an die Hand deiner Braut und sprich: Im Namen des Satans und des Antichristen und der Hölle."
Mechanisch nahm Klaus den Ring und steckte ihn seiner Frau an den verkrüppelten Finger.
Er stutze und schaute auf ihre Hände, die keine mehr waren.
„Du darfst die Braut nun küssen.“ Die Stimme des Priesters war zu einem schrillen, schmerzhaften Credo geworden. Als die Braut ihren schwarzen Schleier lüftete, schien das zu stark gespannte Stahlseil in seinem Geist zu reißen.
Seine Hände schnellten vor und legten sich um ihren behaarten Hals. Keuchend beugte er sich über sie, als sie langsam auf den staubigen, heißen Boden sank. Wieder war die Welt, die er kannte verschwunden, wieder befand er sich in dieser weiten, trostlosen Ebene. Irrsinn glomm in seinen Augen, als er in die goldumrandete Raubtieraugen seiner Braut sah.
Das schrille Lachen einer Hyäne drang aus ihrer Kehle und mit ihrem letzten Atemzug spuckte sie heißen, nach Verwesung stinkenden Schleim in sein Gesicht. Er drückte noch fester zu, bis er das Knacken ihres Genicks hörte.
Starke Hände rissen ihn zurück und hielten ihn fest, während er irre kichernd auf die Zukunft wartete.

 

Also, den "stillen" Horror, finde ich hier sehr gänsehautig. Was scheinbar eine Maskerade ist, stellt sich bei genauem Hinsehen als Demaskieren heraus. Die einzige offene Frage ist für mich, warum der Bräutigam nicht schon eher darauf gekommen ist, wen er da zu heiraten gedenkt. Aber das ist ihm wohl selbst nicht klar ...
Ich bin jedenfalls sehr gespannt auf die Publikumspremiere dieser Geschichte bei der Lesung nächsten Freitag!

 

Hi juvena!
Willkommen in unserem kleinen Totenkopfgemäuer! :D
Unser Haussklave Balthasar hat gestern seinen ganzen Urlaub für zwanzig Jahre auf den Kopf gehauen und ist jetzt erst mal eine Woche weg, deshalb gib mir doch deinen Mantel und mach's dir bequem. Kekse sind auch da, wenn die Ratten nicht wieder zugeschlagen haben.

So, du hast ja auch was mitgebracht, dann lass mal kieken:

Eine scheinbar endlos lange Zeit betrachtete er die Kirche, dann holte er tief Luft und machte einen Schritt nach vorn.
Das wirkte bei mir im Kopf etwas albern und langweilig, weil ich mir vorstellen musste wie der Typ stundenlang rumsteht und nix passiert.

„Ich weiß es nicht. Aber ändern lässt es sich eh nicht mehr.
Wieso, warum, weshalb?

unter deren Haut Beulen wie Krebsgeschwüre wucherten.
Schönes Bild. Aber Vorschlag: ...Beulen wie von Krebsgeschwüren.

Der Priester lächelte immer noch, jedoch war aus dem anfänglich freundlichen Lächeln ein wölfisches Grinsen geworden, wie zuvor bei dem Radfahrer.
Ja doch! :D

Sein Blick fiel auf die Brautmutter und entsetzt schaute er wieder auf den Priester. Sie hatte wie ein schrecklich entstellter Vogel ausgesehen.
Schön.
Nimm den Ring, das Zeichen eurer Liebe und Treue, steck ihn an die Hand deiner Braut und sprich: Im Namen des Satans und des Antichristen und der Hölle.
Ist das nicht derselbe? :hmm: Ich finde die "Höllenatmosphäre" hier etwas holzhämmerisch übertrieben.

Als die Braut ihren schwarzen Schleier lüftete, schien das zu stark gespannte Stahlseil in seinem Geist zu reißen.
Das Bild hat für mich nichts ausgesagt.

Sehr hübsch gemacht, doch. Schön auch, wie man den Schluß aus "beiden Welten" deuten kann. Leisen Horror wie Uwe konnte ich allerdings beim besten Willen nicht erkennen, dann spritzt Schleim und Genicke knacken, der Horror springt einem am Ende quasi ins Gesicht. Bei manchen Dingen würde ich noch sagen "Show, don't tell", wie beim Irrsinn, der in den Raubtieraugen glomm, die Frage ist dann, ob die Story "lesungstauglich" bleibt. Damit habe ich keine Erfahrung, also ist dieser Kommentar optional - ist er ja sowieso, aber noch optionaler.

Insgesamt sicher ein gelungener Rubrikeneinstand!

Viele Grüße!
Seaman

 

*schmeißt ihm ihren Mantel zu* *schnappt sich Kekse* *füttert ne Ratte*
Joa... ich fühl mich ganz wohl hier ;) Vielen Dank für den lieben Einstand :)

Fangen wir Vorne an ;)

Wieso wartet er lange vor der Kirche? Keine Ahnugn hat er in dem Film, der in meinem Kopf lief einfach getan...
Wieso kann er keinen Rückzieher machen, wenn er so kurz vor seiner Hochzeit steht? Gute Frage ich glaub da spielt Geld ne Rolle.... reiche Menschen sind komisch ;)
Satan und Antichrist sind nicht das selbe, der Antichrist ist der Sohn/die Tochter von Satan ;)
Das Stahlseil.... ja das doofe, doofe Stahlseil ist tatsächlich nicht die beste Metapher für den Übergang zum Wahnsin... ich hab diese Grenze leider noch nicht überschritten... also weiß ich nicht wie es sich anfühlt... hat da wer Erfahrungswerte? *grinst*

Leiser Horror, lauter Horror... is doch egal... jedem so, wie er es empfindet :)

LG

Juvi

 

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