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- 03.07.2004
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Sewa - Auf der Flucht (7)
Die Sonne schien und versprach einen warmen Frühlingstag. Herr Ligull rollte ans Fenster und schaute in den Park. Aber er erreichte nicht die gewohnte Stille, sondern schaute ständig zum Springbrunnen. Dann seufzte er: „Ich habe verstanden. Ich gehe ja schon.“
Er hatte einmal Pfarrer werden wollen, hatte aber geheiratet und sich besonders nach dem Tod seiner Frau in Meditation und Stille zurückgezogen. Nun bat ihn Schwester Ruth, sich um Frau Waller zu kümmern. Er kannte sie seit drei Jahren nur vom Sehen als ängstliche graue Maus, die ab und zu durchs Haus Vergissmeinnicht huschte. Vielleicht war sie schüchtern oder gar ängstlich, denn sie war Analphabetin, was aber bisher nur die Mitarbeitenden wussten. Ihm war jetzt gar nicht wohl bei dem Gedanken, sich mit ihr zu treffen.
Er zog sich einen leichten Mantel an und fuhr ins Freie. Am Springbrunnen saß eine ältere Dame. Sie trug ein geschmackvolles schwarzes Ensemble und war nicht Grau in Grau gewandet wie die Bewohnerin, die er treffen wollte.
„Sie sind wahrscheinlich nicht Frau Waller?“
„Doch, aber, wieso?“, stotterte sie.
„Ich habe Sie öfter gesehen und auch ein wenig von Ihnen gehört. Aber da Sie nicht mehr Grau tragen, hat sich in Ihrem Leben wohl etwas geändert.“
Frau Waller verzog ihr Gesicht: „Meine jüngere Tochter ist Modedesignerin und sie hat mir das Zeug einfach mitgebracht und so lange auf meinem Bett gesessen, bis ich es anprobiert habe.“
„Sie haben wohl ein gutes Verhältnis zu Ihren Kindern.“
„Ja, nachdem mein Mann verstorben ist, besuchen mich vor allem meine ältere Tochter und mein Sohn. Sie sind beide Lehrer und helfen mir, mich zurechtzufinden.“
„Das ist schön für Sie und auch für Ihre Kinder. Aber ich wollte Sie gerne auf etwas anderes ansprechen. Es fällt mir nicht leicht, denn ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich habe den Eindruck, dass Sie in Ihrer Kindheit Ungewöhnliches erlebt haben.“
Frau Waller schaute Herrn Ligull interessiert an. „Das kann Ihnen niemand erzählt haben. Wie kommen Sie darauf. Und überhaupt: Sind Sie Pfarrer?“
Herr Ligull schüttelte den Kopf: „Nein, ich bin kein Pfarrer geworden, aber das ist eine lange Geschichte für einen anderen Tag. Ich bin gerne allein. Denn sobald ich mit anderen Menschen zusammentreffe, spüre ich, was sie beschäftigt und wie es ihnen geht. Das ist sehr anstrengend, besonders wenn viele Menschen um mich sind.“
„Oh ja, ich verstehe Sie sehr gut. Ich habe mit meinem Mann zusammengelebt und die Kinder waren bei uns, als sie noch klein waren. Aber darüber hinaus hatte ich kaum Kontakte, weil es mir regelrecht wehgetan hat, mit anderen Menschen zusammen zu sein. Eine Freundin sagte mir mal, ich sei ein sehr empathischer Mensch.“
Das Wort empathisch sprach Frau Waller sehr konzentriert und akzentuiert aus, als ob sie es Buchstabe für Buchstabe auswendig gelernt hätte.
Herr Ligull, der neben ihr in seinem Rollstuhl saß, nickte nur und lächelte sie freundlich an.
„Ich wurde Weihnachten 1927 in Ostpreußen geboren. Mein Vater war Lehrer in einem kleinen Dorf. Kurz vor meinem siebten Geburtstag, ich ging noch nicht zur Schule, kam er nach Hause und sprach lange mit meiner Mutter. Dann packten sie mehrere Koffer und Truhen und sagten mir, wir würden verreisen. Dann zogen wir mit dem kleinen Pferdefuhrwerk meines Vaters tief in den großen Wald hinein. Ich kannte den Wald, aber so weit war ich noch nicht gekommen. Bald war mir ein wenig unheimlich. Bäume und Büsche standen dicht beieinander, es war dunkel und ein Weg war kaum zu erkennen. Überall waren Vögel und andere Tiere zu hören und kein Mensch schien hier unterwegs zu sein. Schließlich nahmen meine Eltern zwei große Koffer vom Fuhrwerk, das stehenblieb, und wir schlängelten uns durch ein dichtes Gebüsch. Es war kaum etwas zu erkennen. An den wenigen Laubbäumen hingen zwar keine Blätter, aber die Pflanzen waren so ineinander verwachsen, dass ich kein Fleckchen vom Himmel sehen konnte und einen Weg schien es gar nicht mehr zu geben. Schließlich kamen wir zu einem kleinen alten, baufälligen Häuschen mitten in einem Brombeerdickicht. Dort lebten wir dann viele Jahre.“
Frau Waller schwieg, in Gedanken versunken. Auch Herr Ligull erwiderte zunächst kein Wort, fragte dann aber: „Haben Ihre Eltern Ihnen erzählt, warum die Familie in den Wald geflohen ist?“
„Ich habe erst nach dem Krieg von Bekannten aus meinem Heimatdorf erfahren, dass wir Juden waren. Ich habe nie bemerkt, dass meine Eltern jüdische Bräuche beachtet hätten, aber mein Vater litt wohl unter heftigen Anfeindungen einiger Menschen aus unserem Dorf. Weil unser Pferd ein Gewohnheitstier war, trabte es mit dem Wagen und dem restlichen Gepäck zurück ins Dorf. Die Leute dort nahmen daher an, dass wir uns im Wald das Leben genommen hätten und vergaßen uns sehr schnell.
Mein Vater versprach mir, mich zu unterrichten. In den beiden Koffern waren vor allem Konserven und ein wenig Kleidung. Aber meine Eltern waren den ganzen Tag im Wald unterwegs, um genug zu Essen zu finden und ich musste mich alleine in der kleinen Hütte beschäftigten. Wenn ich zurückdenke, kann ich gar nicht viel zu dieser Zeit erzählen, denn es geschah so wenig, dass eine Woche der anderen glich. Aber es müssen Jahre gewesen sein. Ich wurde zur Frau, aber unsere kleinen Ereignisse gingen in dem Geschehen der Welt um uns herum unter. Es herrschte Krieg. In der Ferne hörten wir Geschützdonner und Motorengeräusche. Wir lebten in der ständigen Angst, entdeckt zu werden. Der Lärm in der Nacht kam immer näher und mein Vater gab mir den Rucksack, mit dem meine Eltern immer den Wald durchstreiften. „Hier hast du Essen, Kleidung und einige Kleinigkeiten. Und das ist ein Kompass. Geh immer nach Westen.“ Und er zeigte auf ein Zeichen auf dem Kompass. Er legte mir seine Hände auf den Kopf: „Der Allmächtige segne dich. Und nun verschwinde, so schnell du kannst.“
Ich zog meine Wanderschuhe und einen Mantel an, der Herbst hatte schon begonnen. Dann stolperte ich aus der Hütte und rannte durch den Wald, solange ich laufen konnte. Ich habe meine Eltern niemals wiedergesehen. Ich erinnere mich kaum noch, wie sie aussahen.“
Frau Waller seufzte und dann saßen die beiden schweigend auf der Parkbank. Schließlich wandte Herr Ligull sich ihr wieder zu: „Sie haben ja offensichtlich den Krieg und ihre Flucht überlebt. Das war gewiss eine schlimme Zeit. Was erinnern Sie denn noch?“
„Der Krieg kam immer näher. Aber anscheinend mochte niemand den großen dunklen Wald durchqueren. Er war ungepflegt, überall wucherten Ranken und Büsche. Tote Bäume lagen kreuz und quer, selbst für einen kleinen, einsamen Menschen war es nicht einfach, voranzukommen. Dann, eines Nachts, waren die Motorengeräusche nicht mehr hinter mir, sondern sie kamen von allen Seiten und wurden immer lauter. Panisch versuchte ich, in ein Fichtendickicht zu kriechen und fiel in ein Loch. Eine Zeitlang war ich von dem Sturz benommen. Als ich herumtastete, merkte ich, dass die Kuhle mit Moos ausgepolstert war. Aber die Wände waren sehr trocken. Wahrscheinlich war dieses Versteck schon lange verlassen. Über mir stapften Männer durch den Wald, die sich Worte zuriefen. Ihre Sprache verstand ich nicht. Es waren sicher keine Deutschen. Da ich als Kind auch ein wenig polnisch gelernt hatte, aber kein bekanntes Wort hörte, kamen diese Männer wohl von ganz woanders her.
Ich blieb in der Kuhle. Die Trinkflasche hatte ich gerade aufgefüllt und so trank ich jeden Tag von meinem Wasser und aß mittags zwei Haferkekse. Nach drei Nächten war der Lärm weit vor mir. Im Wald sangen einige Vögel, aber andere Tiere bekam ich nicht zu Gesicht. Sollte ich zurückgehen? Würde ich unsere Hütte überhaupt wiederfinden? Gab es denn noch eine Hütte? Ich hatte schreckliche Angst, rollte mich zusammen und weinte lange Zeit. Dann kroch ich aus der Kuhle und ging weiter in Richtung der Doppelzacke.
Nach einigen Tagen kam ich mittags an einen kleinen See. Ich hatte schon lange keinen Menschen mehr gesehen oder gehört und auch hier war alles still und so traute ich mich. Ich zog meine Kleidung aus und ging in das eiskalte Wasser. Dann wusch ich auch mein Zeug mit dem Stückchen Seife, so gut es ging. Am Ufer waren mehrere Felsen, die von der Sonne beschienen wurden. Dort breitete ich die Sachen aus und zog mir das Ersatzkleid aus dem Rucksack an. Ich lehnte mich an einen Felsen und träumte vor mich hin. Als ein Ast knackte, war ich sofort hellwach. Ich wollte das nasse Zeug in den Rucksack stopfen und weglaufen, aber da sah ich ein kleines Mädchen, das winkend auf mich zugelaufen kam. „Nie bój się“, rief sie. „Hab keine Angst“, übersetzte ich mir ihre Worte.
Sie war bei mir angekommen und zog mich am Arm: „Proszę pomóż mi.“ „Bitte hilf mir.“
Sie schien sehr aufgeregt, aber verletzt war sie, soweit ich sehen konnte, nicht. Ich nahm meinen Rucksack und die feuchte Kleidung, dann ließ ich mich von ihr den See entlang führen. Wir kamen an eine kleine Fischerhütte, die völlig von Waldreben überwuchert war, so dass ich sie aus der Ferne gar nicht bemerkt hatte.
Auf dem Boden in der Hütte lag in einem warmen Nest von Wolldecken und Schaffellen ein Säugling, hochrot im Gesicht, und wimmerte. Das Mädchen gab mir eine Glasflasche und deutete auf etwas. Es war wohl eine Gebrauchsanweisung, aber ich konnte sie nicht lesen. Ich schüttelte hilflos den Kopf.
„Nie rozumiesz niczego po niemiecku?“, fragte sie mich. „Verstehst du kein Deutsch?“
Ich wurde erst rot und dann blass. Ich wollte nicht antworten, aber ich konnte nicht stumm bleiben. „Ich kann nicht lesen“, jammerte ich. Die polnischen Worte fielen mir nicht ein. Ich war entsetzt, weil ich mein Geheimnis offenbart hatte. Was würde mir jetzt geschehen? Aber das Mädchen fasste mich an der Schulter und zog mich auf den Boden. „Lena“, sagte sie und zeigte auf sich. Dann setzte sie sich dicht neben mich. Sie wies auf den Säugling: „Anuschka“. Dann las sie in dem schwachen Licht, das durch ein kleines Fenster fiel, den Text vor. Sie hatte mein Problem verstanden und schien es hinzunehmen. Ihre Aussprache war zwar schauderhaft, aber ich verstand genug, um zu wissen, wie man aus dem Pulver in der Flasche eine fiebersenkende Medizin für Säuglinge anrührte. Als wir soweit waren, sagte ich nur „Danke“, zeigte auf mich und nannte ihr meinen Namen: „Grete.“
Es dauerte drei Tage, das Pulver war fast alle, aber dann ging es der kleinen Anuschka besser. Und auch ich fühlte mich so wohl wie schon lange nicht mehr. Lena besorgte jeden Tag von irgendwoher Milch und Gemüse. Wenn sie Essen zubereitete, sammelte ich Holz im Wald, mit dem wir den Kanonenofen in der Hütte heizen konnten. Mehr mit Händen und Füßen als mit meinen polnischen Brocken erfuhr ich, dass auf ihrem Hof kein Mensch mehr lebte. Anscheinend waren sie alle geflohen. Nur eine magere Kuh war noch da, die sie melken konnte, und im Keller lagerte Wintergemüse. Aber es wurde immer kälter, immer mehr Schnee fiel und als ein Flüchtlingstreck in der Nähe vorbeikam, liefen wir ihnen entgegen und sie nahmen uns mit.“
Wieder saßen sie schweigend auf der Parkbank. Frau Waller setzte einige Male an, verstummte aber schnell wieder. Herr Ligull rührte sich nicht, blieb lange still, sah sie aber freundlich an. Dann sagte er leise: „Versuchen Sie doch, zu erzählen, was Ihnen nicht so viel Angst und Kummer macht. Es gab doch auch schöne Momente.“
„Ja, schon. Aber es ist zu schrecklich. Ich kann von dieser Zeit nicht erzählen. Nach wenigen Tagen wurde ich krank und hatte lange hohes Fieber. Eine Frau kümmerte sich um mich, aber ich erinnere nur wenig. Einmal fragte sie mich, ob Lena taub sei, weil wir immer nur mit Zeichen miteinander sprachen. Eines Abends trug mich ihr Mann in ein Haus, legte mich auf ein richtiges Bett und meinte: „Jetzt sind wir zu Hause.“
Ich schlief drei Tage lang und dann erfuhr ich, dass wir tatsächlich in Deutschland waren. In dem Land, das jetzt noch Deutschland war. Wir lebten im Haus der Eltern der Familie, die sich um uns gekümmert hatte. Die waren so glücklich, dass ihre Kinder und Enkel wohlbehalten angekommen waren, dass sie auch uns drei dankbar und freundlich annahmen. Viele Monate blieben wir bei der Familie und kamen wieder zu Kräften. Dann wurden Lena und Anuschka abgeholt, sie hatten mit Hilfe des Roten Kreuzes ihre Tante gefunden. Eine Woche später erhielt Herbert, der älteste Sohn, einen Brief. Er hatte einen Ausbildungsplatz in Hessen bei der Bahn bekommen. An dem Abend fragte er mich, ob ich ihn heiraten und mit ihm gehen wolle. Dieser Abend ist mir immer noch so deutlich in Erinnerung. Wie gerne hätte ich Ja gesagt, aber ich durfte ihm meine Schande nicht verschweigen. Mir flossen nur so die Tränen und ich schluchzte: „Aber ich kann dich nicht heiraten. Ich bin nie zur Schule gegangen. Ich kann nicht rechnen und schreiben oder lesen. Was kannst du schon mit mir anfangen. Ich bin doch nur ein Klotz an deinem Bein.“
Und was tat dieser Unmensch? Er lachte laut und lange, während ich vor mich hin heulte. Aber dann nahm er mich in den Arm und knuddelte mich so lange, bis ich aufhörte zu weinen.
„Wir brauchen dich doch. Du bist so freundlich und lieb, dass es uns allen gleich besser geht, wenn du bei uns bist. Meinen Eltern, meinen Schwestern, den beiden Mädchen und vor allem mir. Deshalb will ich dich ganz gewiss nicht verlieren, sondern ich möchte viele Kinder mit dir haben, die genau so fröhlich und lieb sind wie du.“
Mehr als sechzig Jahre lang erlebte ich keinen Augenblick mit Herbert, in dem ich dachte: „Hätte ich nur was gelernt.“
Aber meine Angst blieb im Verborgenen und ich erzählte meinen Kindern nichts von meinen Schwierigkeiten. Ich dachte wirklich, es würde ihnen nichts ausmachen. Heute weiß ich, dass sie mir lange böse waren, weil ich ihnen nicht bei ihren Hausaufgaben geholfen hatte. Das macht mich jetzt sehr traurig.“
Peter Ligull schwieg mehrere Minuten, bis er merkte, dass Frau Waller unruhig wurde und davonhuschen wollte. Dann legte er seine Hand auf ihre Schulter und meinte: „Sie sind doch auch heute so ein lebensfroher Mensch. Sie brauchen sich nicht zu verstecken. Ihre Kinder lieben Sie und sind Ihnen sicher nicht mehr böse. Das habe ich gesehen, wenn sie zusammen bei den Kaffeenachmittagen waren. Sie haben mir am Anfang unseres Gespräches von Ihrer Empathie erzählt. Mit anderen Menschen mitzufühlen und ihre Stimmungen zu spüren, kann sehr niederdrückend sein. Aber Sie können sicher auch Menschen, die Ihnen traurig scheinen, mit einem Lächeln aufheitern. Dabei brauchen Sie gar nicht auf sie zuzugehen oder lange Gespräche zu führen. Lächeln Sie, seien Sie wieder fröhlich. Die anderen werden schon merken, dass Ihre Freundlichkeit aus Ihrem Herzen kommt und schon ist die graue Maus verschwunden und kommt nicht mehr wieder.“
Frau Waller meinte recht ungläubig: „Das klingt aber sehr einfach.“
„Und das ist es im Grunde auch. Ich muss es selber wieder lernen, mich anderen Menschen zuzuwenden. Aber ich bin sicher, dass es Ihnen gelingen kann. Sie haben ja schon einen großen Schritt getan und mir aus ihrer Kinder- und Jugendzeit erzählt. Gerade schlimme und bedrückende Erlebnisse vergraben wir gerne ganz tief in uns, wo sie uns quälen. Aber jetzt können Sie sich dem heutigen Tag zuwenden und ihn ohne die dunklen Wolken der Vergangenheit genießen.“
Herr Ligull lächelte Frau Waller an, die zaghaft ihre Mundwinkel verzog: „Nur Mut!“
Und endlich lachte sie fröhlich.