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Sichel oder Bücher
Es war einmal ein alter Mann auf dem Land, dieser arbeitete trotz seiner müden Knochen Tag für Tag bis in die Abendstunden, bis ihm sein Rücken wehtat, die Beine schmerzten, die Füße aufgaben, der Muskelkater sich in den Armen festsetzte, die Wunden an den Händen wieder bluteten und sich die Migräne im Kopf einnistete. Keiner konnte den alten Mann vom Arbeiten abhalten, seine ganze Familie besuchte ihn nicht mehr, weil er immerzu gearbeitet hat und er sagte, dass er keine Zeit für die Familie hatte. Stunde und Stunde, Minute um Minute und Sekunde um Sekunde schwang er seine Sichel, um das Gras zu schneiden, schaufelte die erntereifen Kartoffel aus der Erde und pflückte die Kirschen vom Kirschbaum, dazu kam noch die schrecklich heiße Sommersonne die wie eine Peitsche auf den alten Mann einschlug. Doch ließ sich der Mann sich von all dem Arbeiten nicht unterkriegen, er sagte sich dauernd: „Pflanzen, hegen, ernten verarbeiten, verkaufen und niemals Pause machen, so werde ich reich! Wenn ich reich bin dann kaufe ich mir ein schöneres Haus, einen größeren Hof, mehr Erntegeräte, schönere Klamotten, ein Auto usw.“ Alleine diese Sätze, diese Wünsche und dieser Ehrgeiz ließen den Mann noch auf dem Feld stehen und seine Arbeit verrichten. Angestellte wollte er sich nicht holen, denn er war die Auffassung, dass er alles selber kann, dass er es besser, schneller und mit mehr Erfahrung als die jungen Arbeiter schaffen kann. Den ganzen Tag dachte er entweder mit einem Lächeln oder mit einem Bedauern darüber nach. Nicht dass der alte Mann die Menge seiner Arbeit bedauerte, er bedauerte wie lange er für dieses Ziel, dass immer noch unerreicht ist braucht.
Er sah auf die jüngere Generation mit einem grimmigen Gesicht, da sie nach seiner Ansicht nach ihr Geld mit ihren innovativen Jobs in der Stadt nicht mit ehrlicher Arbeit verdienen. Den ganzen restlichen Tag schüttelte der alte Mann darüber den Kopf. Am Nachmittag nahm der alte Mann alle seine geernteten Waren und trug sie alleine zu seinen kleinen Laden, der am Anfang des Hofes gelegen war. Der Laden strahlte mit sämtlichen Obst und Gemüse, aber dafür sah der alte Mann um so kaputter aus, doch dieses Aussehen änderte sich mit dem Ankommen der Kunden. Die Kunden des alten Mannes schätzten seine harte Arbeit und seine frischen Waren, doch machten sich Sorgen um die Gesundheit des alten Mannes, doch sagten sie gar nichts, da sie wussten dass der alte Mann höchst stur bleiben würde. Zwischendrin kamen immer wieder Kinder an den Laden vorbei, tuschelten über den alten Mann, dass er mit seiner Sichel wie der arbeitende Tod aussieht und klauten ihm ein paar Kirschen. Der Mann nahm bei sowas immer seinen Hausschuh, lief den Kindern hinterher um nur dann darüber zu klagen wie fies die jüngere Generation sei, wenn die Kinder ihm mal wieder entwischten. Nachdem der Abend eingebrochen war, sperrte der alte Mann den Laden zu und ging zu seinem Haus, das ebenfalls so alt und müde wie er aussah. Zuhause angekommen trank er schnell eine Hühnersuppe und ging dann in sein Schlafzimmer, dort sah er neben sein Bett seinen Bücherschrank, der so traurig in das dunkle Zimmer schaute. Früher hatte der alte Mann mit solch immenser Freude gelesen, doch seit dem er auf die Arbeit auf dem Hof konzentriert war, hatte er keine Lust mehr Bücher zu lesen, denn er dachte dass er immer noch lesen kann, wenn er reich ist und nicht mehr arbeiten müsste.
Mit einem Seufzten lag der alte Mann sich ins Bett und schlief alsbald ein. Doch später spürte der Mann ein Ziehen an seiner Brust und als er die Augen öffnete konnte er vor Dunkelheit nicht erkennen was denn genau für das Ziehen verantwortlich war. Hastig griff er zu seiner Kerze die er anzündete und was er dann sah, ließ ihn fast zu Boden fallen, in seiner Brust war ein großes Loch, sein Herz fehlte und im gleichen Moment sah er wie sich Adern auf den Boden schlängelten. Der Mann schaute wohin die Adern denn führten und sah das Unvorstellbare! Sein Herz hatte Arme und Beine bekommen und kletterte langsam auf das Bücherregal. Der alte Mann konnte keine Worte fassen, weder sich selbst fassen und schaute einfach zu wie sein Herz ein Buch aus seinem Bücherregal zog, mit dem Buch nach unten sprang und es dem alten Mann herzeigte. Der Mann sagte zittrig: „Wenn du meinst dass ich was lesen soll, dann tue ich es nicht, ich muss morgen früh aufstehen und habe viel Arbeit zu verrichten.“ Der Mann dachte dass es ein Traum wäre und legte sich wieder ins Bett zurück. Das Herz Wiederrum rüttelte solange bis der alte Mann genervt seine Augen aufmachte und sagte: Na gut, dann lese ich halt eben etwas, aber dafür arbeite ich morgen doppelt so hart!
Stumm und nur mit seinem Herzklopfen reichte das Herz dem alten Mann das Buch, es war ein Roman seines Lieblingsautor und der Mann begann zu lesen. Erst wollte er ja nur ein paar Seiten lesen und dann wieder schlafen gehen, doch konnte er sich vom Lesen nicht mehr abbringen, er lachte, er weinte, er litt, er war sauer, er war erfreut, hatte Angst, aber war einfach mal wieder ehrlich glücklich. Er hatte wieder realisiert wie sehr es ihm früher Spaß gemacht hat zu lesen. In seiner Flut an Emotionen las er sogar bis in den Morgengrauen, bemerkte garnicht, dass sein Herz schon wieder in seiner Brust verschwunden war und dort ganz normal weiterklopfte. Vom Bett aus öffnete er das Fenster, sah zur Sonne hinaus, lachte, schloss die Augen und legte sich wieder hin, in dem Wissen, dass er endlich mal wieder etwas getan hat, was ihm wirklich gut getan hat. Ab diesem Tag war der Hof von den Geräten, den Wünschen des alten Mannes, dem Ehrgeiz des alten Mannes, dem Leid des alten Mannes, der Erschöpfung des alten Mannes, der Wut des alten Mannes und letztendlich dem alten Mann selber befreit.