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Sie und er und ich - wir lieben dich!
"Guckt euch die fette Angela an! Die Schwuchtelfreundin!", hörte ich hinter mir.
Es war nicht das erste Mal, dass ich wegen meiner Figur und auch meiner Freundschaft zu Mirko blöd angemacht wurde. Also drehte ich mich um und rief der betreffenden Person zu: "Weißt du was, du Idiot? Halt einfach dein blödes Maul!"
Mirko und ich gingen unbeirrt weiter über den Schulhof in Richtung Mädchentoilette, wo Hanna vor der Tür schon auf uns wartete.
"Hallo!", quiekte sie uns zu. So war sie mit ihrem blonden dauergewellten Lockenkopf nicht nur besonders gut zu sehen, sondern auch sicher nicht zu überhören.
"Habt ihr gestern auch das neue Video von Hot Chocolate auf MTV gesehen? Einfach Spitze!", plapperte sie gleich drauf los.
"Hanna, wir haben kein Kabelfernsehen! Wie oft sollen wir das noch sagen?", stöhnte Mirko und lehnte sich an die Treppenmauer, die zur Jungentoilette hinunterführte.
"Echt nicht? Wann bekommt ihr das denn?", fragte sie.
"In unserem Dorf frühestens im Jahr 2000! Da bin ich dann genau achtundzwanzig Jahre alt", sagte ich und blickte mich dabei gelangweilt auf dem Schulhof um.
"Was? So lange noch? Das sind ja noch dreizehn Jahre!" Hanna klang entsetzt.
"Hanna, stell dir vor, es gibt noch das erste Programm, da läuft Formel 1. Da könnte ich dann auch Hot Chocolate sehen. Wenn ich es wollte", gab ich zur Antwort. Mein weitschweifender Blick blieb bei den Fahrradständern hängen. Ein Junge stellte sein mintfarbenes Mofa ab und griff nach seiner pinken Titus-Schultasche auf dem Gepäckträger.
"Auf welche Musik stehst du eigentlich, Mirko?", fragte Hanna.
"Natürlich auf Michael Jackson. Und Tina Turner. Whitney Houston ist auch nicht schlecht."
Der Junge lief an Hanna, Mirko und mir vorbei. Er lächelte uns an und betrat das Schulgebäude. Mirko starrte mich mit großen Augen an.
"Kennst du den?", frage Mirko.
Ich schüttelte den Kopf.
"Ich aber!" Hanna hatte von einem auf den anderen Augenblick zu Heulen angefangen und wollte mit Sicherheit so schnell nicht wieder aufhören.
Mirko und ich sahen sie verdutzt an.
"Das ist Tim, mein Ex! Der, der letzte Woche mit mir Schluß gemacht hat. Wie kann er mir das antun, hier so einfach aufzukreuzen!" Sturzbäche flossen aus ihren babyblauen Augen. Mirko tat sein bestes, die Tränen mit Taschentüchern aufzuhalten.
Hanna heulte auch noch Rotz und Wasser, als wir später in unserem Klassenraum saßen, wo uns gewisser Tim als neuer Mitschüler vorgestellt wurde. Mirko kam mit tröstenden Streicheleinheiten und Papiertaschentüchern kaum noch nach. Die Tränen tropften auf ihre hellblaue Vanilla-Hose und hinterließen schmutziggraue Kajalreste.
Unsere Klassenlehrerin schien das nicht im Geringsten zu beeindrucken.
"Tim ist nun euer neuer Mitschüler. Seid bitte nett zu ihm."
Tim stand neben ihr, die Hände in den Hosentaschen und grinste in die Runde. Es schien, als hätte er mit diesem Schulwechsel und den dazugehörigen Depressionen seitens Hanna nicht die geringsten Probleme.
"Du musst mit ihm reden, Angela! Ich weiß, dass er mich noch liebt. Tu mir den Gefallen und sprich mit ihm. Frag ihn, was er noch für mich empfindet. Bitte!", flehte mich Hanna zwei Stunden später ind der Pause an. Tim stand ein paar Meter weiter von uns entfernt und starrte die ganze Zeit zu uns herüber.
"Hanna, ich weiß nicht, ob das so eine tolle Idee ist. Ich kann so was nicht gut."
"Aber es ist doch nicht für dich, sondern für mich. Bitte, Angela!"
Ich seufzte. "Ja, meinetwegen. Aber versprich dir nicht zu viel davon!"
Ich trottete zu Tim herüber, der mich mit einem Lächeln empfing, als hätte er damit gerechnet, dass ich ihn ansprechen wollte.
"Hi", sagte ich.
"Hi!", sagte er ebenfalls. "Ist das dein Freund?", fragte er gleich und deutete auf Mirko.
"Mirko ist nicht mein Freund. Nur mein Kumpel. Er steht auf Jungs."
"Ach, wirklich?" Tim zog die Augenbrauen hoch.
"Ja, ich denke schon. Gesagt hat er es noch nie, aber wissen tut es hier jeder."
"Könntest du mir vielleicht helfen?"
"Sicher, worum gehts denn?"
"Würdest du Mirko fragen, ob er auf mich steht?"
"Was? Du bist schwul?" Ich kreischte fast.
"Um genau zu sein, bin ich bi. Ich stehe quasi auf beides", gab er offen zu.
Fantastisch! Der gutaussehendste Typ im Umkreis von fünfzig Kilometern und Exfreund unserer Klassenqueen verknallte sich ausgerechnet in meine "beste Freundin" Mirko!
"Tim, du bist dir aber schon bewusst, dass Hanna immer noch in dich verknallt ist? Wenn ich da rüber gehe und Mirko erzähle, dass du dich für ihn interessierst, wird sie sich am nächsten Baum aufhängen. Sie kann vielleicht verkraften, dass ihr das Taschengeld für die nächste Dauerwelle ausgeht, aber ganz sicher nicht die Tatsache, dass ihr Schwarm ein männliches Wesen ihrer Hoheit vorzieht!"
"Ich kann doch nichts dafür, dass es mit ihr nicht geklappt hat. Ich hatte wirklich besseres zu tun, als dutzende Einkaufstaschen hinter ihr her zu tragen. Tu mir bitte den Gefallen."
"Na gut! Ich gehe zu ihm rüber. Aber versprechen kann ich dir nichts."
Ich hatte nicht nur das Gefühl, dass ich diesen Satz vor ein paar Minuten schon einmal zu Hanna gesagt hatte, sondern zusätzlich glaubte ich auch noch, im falschen Film zu sein. Trotzdem ging ich zu Hanna und Mirko zurück, um ihnen die verrückte Situation zu erklären.
"Angela, du musst mir sagen, worüber du und Tim eben gesprochen habt! Ich weiß genau, dass es um mich ging, denn er hat die ganze Zeit hier rüber gesehen. Er liebt mich noch immer und es tut ihm wahnsinnig leid, dass er mich verlassen hat, richtig?", rief Hanna schon, als ich bloß noch ein paar Schritte von ihr entfernt war. Ich sah Hanna in die Augen und wusste nicht, ob ich lachen oder heulen sollte. Auf was für eine Aktion hatte ich mich hier eigentlich eingelassen?
"Hanna hör zu. So ist es leider nicht. Tim liebt dich nicht mehr. Es ist eher so, dass er sein Herz an Mirko verloren hat", rückte ich frei mit der Wahrheit heraus.
Hanna sah mich an, und mit einem Mal kullerte keine einzige Träne mehr aus ihren Augen. "Du verarscht mich, oder?", fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf und sah dann Mirko an, der noch keine Reaktion auf diese Überraschung gezeigt hatte.
"Was sagst du dazu?", fragte ich.
"Sag ihm bitte, dass ich nichts für ihn empfinde." Mirko sah auf den Boden.
Hanna atmete tief durch und sagte dann: "Mirko, du brauchst keine Rücksicht auf meine Gefühle zu nehmen. Wenn du mit ihm gehen willst, dann tu es. Du hast es verdient. Wenn ich mit einer anderen Frau hätte konkurieren müssen, hätte ich gekämpft. Aber gegen einen Mann komme ich nicht an." Hanna nahm ihn in den Arm und küsste ihn auf die Wange.
Ich war noch ganz überrascht von Hannas Großmut, als Mirko sagte: "Danke, Hanna, das ist lieb von dir. Aber ich empfinde wirklich nichts für ihn."
"Aber warum nicht? Ist er nicht dein Typ?", fragte ich.
"Nein, das ist es nicht. Ich stehe nur ganz einfach nicht auf Männer."
"Tust du nicht?", fragten Hanna und ich gleichzeitig. Ich wusste nicht, wer von uns beiden überraschter war.
"Nein, ich stehe auf Mädchen. Ich habe überhaupt keine Ahnung, wie ihr alle überhaupt denken konntet, dass ich schwul bin."
"Aber du hast dich doch immer bloß mit Mädchen abgegeben. Ganz besonders mit mir", stellte ich fest.
Mirko sah mich an, als warte er auf eine Erleuchtung meinerseits.
"Oh oh!" sagte Hanna. Sie klopfte Mirko aufmunternd auf die Schulter und ließ uns beide ohne weitere Worte stehen.
"Was soll dieses ganze Getue? Kannst du vielleicht mal Klartext mit mir reden?", fragte ich.
"Du willst Klartext?", fragte Mirko, und im nächsten Augenblick küsste er mich auf den Mund. Ich war so verwirrt, dass ich erst nach einer kurzen Pause fragen konnte: "Warum hast du nie etwas gesagt?"
"Warum hast du nie etwas gemerkt?", frage Mirko zurück.
Es klingelte zum Ende der Pause, und mit diesem Zeichen schien eine Art Zauber von Mirko zu fallen, der mich ihn zum ersten Mal als männliches Wesen sehen ließ. Das erste und einzige männliche Wesen, dass sich für mich interessierte.
"So wie ich aussehe, hätte ich überhaupt nie gedacht, dass mal jemand auf mich steht."
"Ich weiß gar nicht, was du hast. Für mich siehst du fantastisch aus!" Mirko griff nach meiner Hand. Gemeinsam ließen wir uns mit dem Strom der anderen Mitschüler ins Schulgebäude treiben.