- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
Silvester
Benebelt und immer noch betrunken steigen mein bester Freund und ich in diesen hässlichen Familienvan ein. Es kann losgehen. Zwei Landeier machen sich auf den Weg nach Lübeck, um einen Tag später Silvester am Timmendorfer Strand zu feiern. Mit an Bord meine spießigen Eltern, meine millionenschwere Tante aus England und mein Großvater, der seit zehn Jahren seinen dritten Frühling erlebt, jedoch etwas schlecht hört. Von Hörgeräten hält er nicht viel.
Das Ziel ist der Norden, wo meine Wurzeln liegen und sich ein großer Teil meiner Familie aufhält. Besonders große Freude gebührt meinem Großcousin. Nicht dass er, dieser nichtsnutzige, neunzehnjährige Hanseat mir in irgendeiner Weise intellektuell das Wasser reichen könnte. Doch seit ich denken kann bewundere ich ihn. Nicht dafür, dass er in seinem kurzen Leben irgendetwas erreicht hätte. Nicht mal einen Schulabschluss. Eher dafür, dass er, egal wie, stets das bekommt was er will.
Die Autofahrt verläuft zunächst eher angespannt, keine Diskussionsthemen, kein Esprit, es stehen allerhöchstens mal ansatzweise lustige Floskeln im Raum, die der Reisegruppe ein eher erzwungenes Lachen abverlangen.
Die erste Kuriosität auf unserem Trip bildet nach viereinhalb Stunden die Hansestadt Hamburg. Ich fühle mich zuhause, zwischen Plattenbauten und Frachtcontainern. Schade, dass ich hinter einer Glasscheibe sitze.
Bald darauf ist das Ziel erreicht. Lübeck, um genau zu sein der Stadtteil Travemünde.
Der Empfang fällt wie erwartet herzlich aus. Mein bester Freund wird aufgenommen wie ein alter Bekannter und K. begrüßt mich mit den Worten „na, Arschloch…“. Eine herzliche Umarmung hinterher. Etwas makaber, man gewöhnt sich daran. Meine Mutter hält nicht viel von Begrüßungszeremonien, deshalb setzt der Rest der Familie gleich den Weg in die gebuchte Zwei-Sterne-Pension fort.
Mein bester Freund und ich dagegen beziehen Quartier im Haus der Familie, rauchen endlich unsere lang ersehnte französische Zigarette im Schnee des Nordens, vor unserer Terrassentür des Gästezimmers im Keller. Enthusiasmus macht sich breit, Vorfreude auf Abwechslung.
Der Gastfreundlichkeit sind heute keine Grenzen gesetzt. Nach unserem Tabakkonsum steigen wir mit einem Holsten und einem Berliner in den Abend ein und diskutieren über Silvester, den Bekleidungskodex des morgigen Silvesterballes und meinen Großcousin. Man wisse nicht wo er steckt, er sei den ganzen Tag nicht zuhause gewesen und auf das Klingeln seines Handys reagiere er auch nicht. Nichts anderes habe ich erwartet.
Um circa achtzehn Uhr öffnet sich dann schließlich die Haustür. Mein Großcousin stapft in die Küche. Blaues Auge, teures Poloshirt. Er hält ein Handy in der Hand. Ein hochwertiges, nur leider ist das Display kaputt. Zunächst hält er es nicht für nötig uns zu begrüßen. „Ich hab’ gestern wieder von den Türken aufs Maul bekommen“, sagt er. So kenne ich ihn. Große Fresse, keine Substanz. Aber liebenswert. Er begrüßt meinen besten Freund. Distanziert aber freundlich. Dann schaut er mich an. Wir fallen uns in die Arme. Er hat mir gefehlt.
Zu dritt fahren wir im Neuwagen meines Großcousins an die Uferpromenade. Wir lachen viel, die Chemie stimmt. Abendessen beim Italiener, mit der ganzen Familie. Mein bester Freund und ich beginnen zunächst mit einem halben Liter Wein. Alkohol ist eine unserer gemeinsamen Leidenschaften, die wir innerhalb der letzten Jahre entwickelt haben. Mein Großcousin trinkt Cola. Er will uns mit dem Auto noch seinen Lieblingsclub in Timmendorf zeigen. Das gemeinsame Essen neigt sich schnell dem Ende zu,
was gleichzeitig den Einstieg in unsere erste Nacht bildet. Unser erster Halt ist das Casino von Travemünde. Ich habe wahrlich kein Faible für Spiele. Ich bin kein Zocker. Doch da ich bin der einzige.
Das Casino erinnert mich weniger an ein El Dorado für reiche Geschäftsleute als an die Spelunken die man aus Matt Damons Film „Rounders“ kennt. Billige Ausstattung, abgestürzte Typen und fette Frauen mit rot getönten Haaren, die in Jogginghosen aus dem Supermarkt ihr Busgeld an Automaten verspielen.
Wir trinken, mein bester Freund und ich Bier. Mein Großcousin Kaffee. Nur eine Frage der Zeit, wie lange noch.
Während die beiden sich über einen Casinobesucher, der beim Roulette sein gewonnenes Geld gleich wieder setzt, amüsieren, will ich hier raus. Mein Wunsch wird erhört.
Wir fahren zeitweise mit achtzig Kilometern pro Stunde durch die Ortschaft. Von den zahlreichen Telefongesprächen des Fahrers während der Fahrt ganz abgesehen. Glücklicherweise gibt es auf dem Weg nach Timmendorf weder Ampeln, noch kommt uns irgendein ein anderes Vehikel entgegen. Angst habe ich trotzdem nicht.
Das „Neptun“, dieser berüchtigte Club, dessen Eingangstür mein Cousin vor geraumer Zeit mit der Tür seines Kleiderschrankes verwechselt hat, hat noch geschlossen. Trinken müssen wir dennoch. „Oskar’s“ heißt unser Zwischenstop. Wir stellen das Auto ab und gehen zu Fuß.
Durchgefroren öffnen wir die Tür. Es ist verraucht, es wird gegrölt und das Durchschnittsalter beträgt ungefähr fünfundvierzig. „Drei Veltins“ bestellt mein Großcousin. Jetzt ist auch er soweit. Wir tummeln uns an der Bar. Das Bier ist nach ungefähr dreißig Minuten lästig zu trinken, wir trinken Baileys, Havanna Club und Wodka. „Du musst noch fahren“, sage ich. „Im Neptun werde ich nur Cola trinken, dann bin ich wieder nüchtern“. Wird er nicht, das weiß ich jetzt schon. Schließlich passiert etwas, woran wir um dreiundzwanzig Uhr nicht mehr geglaubt haben. Unser Hormonkreislauf steht Kopf, unser Jagdtrieb wittert Beute. Ein Mädchen, braunhaarig, verhältnismäßig groß, natürlich hübsch. Über ihren Style lässt sich streiten. Wir drei kommen mit ihr ins Gespräch, es entwickelt sich eine illustre Runde, wie mein bester Freund sagen würde. Sie fragt uns nach unserem Alter. Ich bin der Jüngste. Sie schätzt mich am ältesten. Eins zu null für mich. Wir sagen ihr, dass wir später noch in den Club gehen. Nach kurzem Zögern und Absprache mit ihrer Reisegruppe, die vorwiegend aus älteren Damen besteht, sagt sie uns ihr Kommen zu. Wir freuen uns und machen uns bald darauf auf den Weg ins „Neptun“.
Ich betrete das erste Mal in meinem Leben einen Club, beziehungsweise eine Disco im Allgemeinen. Nicht, dass ich keine Affinität zum Nachtleben hätte, nur sind unsere Möglichkeiten zuhause sehr beschränkt.
Das Neptun ist leer, wir sind die ersten. Unser Weg führt uns gleich zur Bar, wo wir nun doch wieder Bier trinken. Diesmal Heineken. Außerdem rauche ich jetzt richtig, nonstop, eine Zigarette nach der anderen. Mit unserem zweiten Bier im Schlepptau suchen wir uns einen gemütlichen Platz in einer der Lounges. Es ist nicht schwer, eine gemütliche Sitzhaltung zu finden, wir lehnen uns zurück und reden. Ein kurzer Blick nach links, in die Nähe der Eingangstür und ich bemerke unsere Bekanntschaft aus dem „Oskar’s", zusammen mit einem anderen Mädchen. Sie ist blond und sieht etwas älter aus, maximal fünfundzwanzig. Die beiden begrüßen uns und nehmen Platz. Zu fünft sitzen wir nun um den gläsernen Tisch auf den weichen Matratzen. Ich ganz rechts, neben meinem Großcousin, der sich sofort aufmacht unserer Bekanntschaft ein Gesprächsthema zu unterbreiten, während sich mein bester Freund in seiner gewohnt lässigen Art mit der Blonden unterhält. Ich dagegen bin aufgrund meiner ungünstigen Sitzposition nicht in der Lage, aktiv an deren Unternehmungen teilzunehmen. Ich rauche weiter.
Inzwischen trinken wir Cocktails, wie Caipirinha oder 43er-Milch. So langsam sind wir richtig dicht. Ich rauche weiter, bereits meine zweite Packung.
Es sind in etwa zwei Stunden vergangen und je betrunkener wir werden, desto mehr prägt sich unser Gerechtigkeitssinn aus. Die blonde, die meinem besten Freund inzwischen offenbart hat, dass sie achtunddreißig ist und zwei Kinder hat, wird zwar komplett von jenem in Anspruch genommen. Mein Großcousin jedoch, der mit unserer Bekanntschaft nicht über ein oberflächliches Gespräch hinaus kommt, überlässt mir seinen Platz. Ich rauche weiter, sie mit mir.
Zu diesem Zeitpunkt nehme ich mir das erste Mal fest vor, sie klarzumachen. Wir unterhalten uns über alltägliche Dinge wie Schule, Beziehungen, Zukunft und so weiter. „Du bist mir sofort aufgefallen“, sagt sie plötzlich. Ich tue so, als wäre ich Komplimente gewohnt und versuche sie dazu zu zwingen, den ersten Schritt zu machen. Ich beginne, rhetorisch aus dem vollsten zu schöpfen und sie so zu beeindrucken, versuche ihr den Unterschied zwischen mir und meinem Großcousin zu verdeutlichen. Es gelingt mir. Sie küsst mich. Wir küssen uns lange. Sie macht mich heiß.
Rückfahrt nach Travemünde, fünf Uhr morgens. Wir sind alle sturzbetrunken. Mein Großcousin fährt. Mein bester Freund ruft auf der Fahrt einen unserer Freunde an. Zwei geile Tussen hätten wir aufgerissen, würden sie morgen Nacht am Strand wieder treffen. Wir beide fallen total fertig ins Bett und schlafen ein. Mein Großcousin dagegen muss in einer Stunde wieder arbeiten.
Der nächste Tag, der letzte des Jahres fällt denkbar kurz aus. Nach langem Schlaf und vergammelten Vormittag machen wir uns am Nachmittag auf an den Weg zum Strand. Es ist eiskalt. Wir kaufen Zigaretten, trinken Becks und essen Flammkuchen.
Mein bester Freund und ich genießen unser gemeinsames Wochenende.
Als wir gegen fünf Uhr nachmittags zurück nachhause kommen, arbeitet mein Großcousin noch immer. Mein bester Freund und ich hingegen beginnen uns für den Silvesterball, den wir zusammen mit meiner Familie besuchen werden, fertig zu machen. Schwarzer Anzug, Krawatte, Lackschuhe und noch die ein oder andere flüssige Substanz auftragen.
Kurz vor der Abfahrt zum Ball steht mein Großcousin in der Tür. Er sieht müde aus und meint er müsse sich erst ausruhen, bevor wir uns nachts am Strand treffen, er sei zermürbt vom arbeiten. „Ruf mich an, wir müssen jetzt los“, sage ich. Ich sehe ihn vorerst zum letzten Mal, was ich jetzt noch nicht weiß.
Der Silvesterball im Hotel „Alpin“ verläuft wie erwartet, eher ruhig und sehr nahrhaft, was nicht zuletzt am Überangebot der Buffets liegt. Mein bester Freund und ich fressen in uns hinein, mexikanisch, japanisch, spanisch und französischen Käse. Dazu eine Flasche Rotwein und jeweils ein Cuba Libre. Wir unterhalten uns viel, sowohl untereinander als auch mit dem Rest der Familie, außerdem rauchen wir. Im Verlauf des Abends entdecken wir die Vorzüge des Biers vom Fass. Mein bester Freund und ich spielen mit K. Tischfußball, um die nächste Runde Bier. Ich bin wahrlich kein Zocker. Aber beim Kickern unschlagbar.
Wir trinken und trinken, ununterbrochen, bis wir gegen zweiundzwanzig Uhr dreißig zum Strand aufbrechen. Ich versuche noch meinen Cousin zu erreichen. Er nimmt nicht ab.
Wir kennen den Weg zum Strand kein bisschen und fragen deshalb Fußgänger, die sich allen Vorurteilen gegenüber Norddeutschen widersetzen und sich erstaunlich viel Zeit nehmen, uns den Weg zur Beachparty zu erklären.
Von weitem erkennen wir eine unglaublich große Menschenmenge. Wir fragen uns, wie wir dort unsere Bekanntschaft und die Blonde finden sollen. Keine Chance.
Uns sticht das Flensburger-Emblem ins Auge. Wir trinken weiter, Bier und vor allem Sekt, insgesamt 8 Flaschen an diesem Abend. Zu zweit. Wir gehen in unserer Stimmung auf, tanzen zur Musik und sind froh, zu zweit Silvester zu feiern. Wir brauchen keine Frauen, um glücklich zu sein, das wird mir in diesem Moment klar. Wir beschließen unsere Errungenschaften der letzten Nacht nicht zu suchen. Wir wollen lieber trinken.
Ich drehe mich nach links, um auf die Promenade zu blicken. Plötzlich schaut sie mir in die Augen. Mein Konzept wird innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde komplett über den Haufen geworfen. Sie kommt auf mich zu und küsst mich. Ich küsse sie auch. Meine Bekanntschaft.
Mitternacht verläuft unspektakulär. Mein bester Freund und ich umarmen uns. Sie küsst mich wieder und wieder. Für uns wäre ein gedämpft beleuchtetes Hotelzimmer eher das Optimale, als dieser verregnete Sandstrand.
„Könnt ihr mich zur Toilette begleiten?“ fragt sie später. Sie ist inzwischen alleine hier, verlässt sich voll und ganz auf uns, auf unsere Begleitung. Als sie im Toilettenwagen verschwindet schauen mein bester Freund und ich uns an. Wir haben denselben Gedanken. Ich zögere nicht einen Moment. Wir rennen einfach davon. Ohne nachzudenken. Wir wollen nur feiern.
Der Rest des Abends ist nur einigen Leuten bekannt, mit denen wir in unserem Zustand noch lange kommuniziert haben dürften und der Ostsee, die sich gegen zwei Uhr Morgens an meinem Erbrochenen erfreut hat.
Wir selbst können uns am nächsten Morgen an Bruchteile zurückerinnern und versuchen, Hinweise, wie den Schlamm und die Grasflecken auf unseren Jacken zeitlich irgendwo einzuordnen. Wir fahren ziemlich bald zurück in die Heimat. Etwa zwei Stunden vor unserer Ankunft klingelt das Handy meines besten Freundes. Es ist mein Großcousin. Er sei gerade von der Arbeit nachhause gekommen. Was er gestern noch gemacht hätte, fragt mein bester Freund.
„Ich habe sie gefickt“ antwortet er, „die ganze Nacht.“
Und wieder hat dieser nichtsnutzige, neunzehnjährige Hanseat bekommen, was er wollte.