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Silvester
Seinen Geruch hatte Jonas zuerst wahrgenommen, als er am Morgen am Wohnzimmer vorbeiging, einen leicht ledrigen oder erdigen Duft, den er nicht kannte und von da an für immer mit ihm verbinden würde. Er wollte seine Mutter nicht darauf ansprechen, Jonas wusste, dass sie das nicht mochte.
Einige Tage später, an einem der letzten warmen Herbsttage, an denen das Laub verfärbt war, aber noch an den Ästen hing, kam Phil dann zum Abendessen, setzte sich an die Stirnseite des Tisches und er und sein Bruder Ole wussten, dass es dieses Mal anders war. Ihre Mutter hatte sich das rot-braune Kleid angezogen, das gute Geschirr aufgedeckt und den Saft in eine Karaffe umgefüllt. Von den Stühlen hatte sie die Zeitschriften weggeräumt und die Kinder gebeten, die Tornister mit den Hausaufgaben in ihr Zimmer zu bringen. An das Essen selbst konnte er sich nicht mehr erinnern, nur an die veränderte Atmosphäre zwischen ihnen, als sei eine Lücke gefüllt worden, derer sich vorher keiner bewusst gewesen war. Phil hatte ein Gesicht, das immer in Bewegung war, die Brauen bewegten sich bei jedem Satz und der Mund schien unabhängig von den Worten ein Eigenleben zu führen. Phil erzählte von seinen Reisen, vom Raften auf dem Sambesi und einem Nashorn, das beinahe ihr Auto gerammt hatte. Er reichte ihnen das Brot mit den Fingern, wo die Mutter doch immer Wert auf den Brotkorb legte.
Ole flüsterte später "Wie findest Du den?", aber Jonas gab ihm keine Antwort und stellte sich schlafend. Ihr Vater war vor fast fünf Jahren gestorben, die vielen Fotos an der Pinnwand wellten sich und dort, wo die Vormittagssonne hinschien, verblassten sie bereits. Sie würden neue Abzüge machen können hatte die Mutter gesagt, aber sie hatten nie neue gemacht und ihm waren auch die alten lieber, weil er sie noch aus der Hand des Vaters bekommen hatte.
Zum Nachtisch hatte Phil für alle Pudding mitgebracht, daran konnte Jonas sich noch erinnern, weil er damit das Fußballtrikot, das er erst den zweiten Tag trug, bekleckerte und die Mutter ihm auftrug, es in die Wäsche zu geben. Er konnte es zum Wandertag nicht anziehen und war der einzige Junge ohne Trikot gewesen. Phil hatte ihm einige Tage später noch eins von Lazio Rom mitgebracht.
Phil war Jonas' Vater nicht ähnlich, nicht äußerlich und auch nicht in der Art zu sprechen, doch das Interesse, das er ihm entgegenbrachte und die Art, mit ihm zu reden, die so anders war als die der wenigen männlichen Bekannten ihrer Mutter, die in ihm noch immer den bedauernswerten sechsjährigen Jungen sahen, diese Art schaffte eine Verbindung, die ihm wie eine Freundschaft auch zwischen ihnen vorkam. Schon beim dritten oder vierten Treffen waren sie eine Weile allein mit Pfeil und Bogen in den Wald gegangen, während Ole bei der Mutter blieb. Auf dem Rückweg erzählte Jonas von den Ausflügen, die sie mit seinem Vater gemacht hatten und dem Zelten am Waldrand im Sommer. Phil versprach ihm, dass sie im nächsten Jahr alle zusammen auf einen einsamen Zeltplatz am Meer fahren würden, da verbrachte er schon lange seine Sommerurlaube, und sie würden jeden Abend ein Feuer machen.
Bei der Aufführung in der Schulaula saß Phil neben der Mutter und er lobte Jonas anschließend sehr für seine Rolle als Geist der vergangenen Weihnacht. Sie hatten sie zusammen eingeübt und Phil hatte Jonas darauf vorbereitet, dass er im Gegenlicht der Scheinwerfer kaum die Zuschauer sehen könne und seine Stimme über das Mikrofon am Kostüm ihm fremd vorkommen würde. Hinterher gingen sie zu viert in die Pizzeria, die inzwischen einen neuen Namen hatte, aber das Mobiliar war dasselbe geblieben und es war tatsächlich der Tisch für sie reserviert, an dem sie vor fünf Jahren mit dem Vater gesessen hatten. Er erinnerte sich an das Bild vom Vesuv, dessen Kegel von Wolken umhüllt war und er erinnerte sich an den Vater, der, den Ständer mit der tropfenden Flüssigkeit neben sich, von dem flüssigen Feuer erzählte, das in unregelmäßigen Abständen ausbricht und später zischend in das Meer fließt. In seinem Abschiedsbrief an Ole und Jonas hatte er die Erkrankung mit einem Vulkanausbruch verglichen: "Dinge passieren, ohne dass man sie kommen sieht, und auch, wenn man es sich anders wünscht, man muss sie doch akzeptieren." Das Bild gab es noch immer und Phil, der ohne es zu wissen auf demselben Platz saß, erzählte von Vulkanen auf Hawaii, den Lavafeldern und dem berühmten Rennen zum Ironman und wie gern er einmal dort hinreisen würde.
Phil übernahm die Fahrdienste zu den Auswärtsspielen und war auch bei allen Heimspielen dabei. Sein Platz war immer hinter dem Tor, so trennten sie nur wenige Meter und ab und an rief er etwas hinein. Neben dem Mannschaftstraining übten sie noch ein oder zwei Mal die Woche allein, aber Phil wusste, dass aus dem Traum nichts werden würde, die Anlagen waren vorhanden, nur die letzte Bereitschaft fehlte. Er sprach nie darüber, aber als Jonas in der A-Jugend den Fußball aufgab, weil das Leben in sein Leben trat, war er nicht überrascht.
Den gemieteten Transporter mit den Studentenmöbeln für das erste Zimmer in der großen norddeutschen Stadt fuhren sie zu dritt, Phil saß am Steuer, die Mutter am Fenster und Jonas auf der Bank zwischen den beiden, bediente den CD-Player und überspielte seine Nervosität mit Sprüchen über sein zukünftiges Leben. Phil schloss ihm die Spüle und den Herd an und als sie fuhren und er allein in der Wohnung stand und auf den ausparkenden Transporter sah, musste er sich zwingen, nicht hinauszulaufen. Er spürte noch den festen Händedruck, wobei Phil ihm immer noch zusätzlich mit seiner linken Hand an der Schulter festhielt. Jonas hatte nicht nur bei seiner Mutter, sondern auch bei ihm Rührung in den Augen gesehen.
Zum Examen hatten Mutter und Phil ihm etwas Geld geschenkt und zusammen mit seinem Ersparten reichte es für eine dreimonatige Reise rund um die Erde. Auf Hawaii lieh er sich ein Rennrad und schickte ein Foto von sich und den Lavafeldern. Die Fotos von der Lava, die in den Pazifik floss, behielt er für sich und legte sie zu Hause in die Schachtel mit dem Brief seines Vaters.
Als die Zwillinge geboren wurden und Phil dann der Pate des Jungen werden sollte, hatte das zu Diskussionen mit Jonas' Frau Beate geführt, sie war sehr traditionsbewusst und argumentierte, dass Sarah und Phil nicht verheiratet waren. "Phil ist keine Familie", sagte sie. Es war den Streit nicht wert und er setzte sich durch, aber über der Taufe hing ein Schatten, den er später im Mundwinkel von Beate auf allen Fotos sehen konnte.
Die Krankheit hatten sie ihm lange verschwiegen, über die Entfernung ging das gut, aber als er Weihnachten mit Beate und den Zwillingen für einige Tage zu ihnen fuhr, ließ es sich nicht mehr verbergen. Phils einst so lebhafte Augen hatten sich tief in die Höhlen zurückgezogen, sein immer schon freundliches, aber leicht knittriges Gesicht schien sich verändert zu haben und es sah so aus, als sei die Nase nicht richtig über der Mitte seines Mundes. Phil und Jonas schlugen jeden Nachmittag eine Stunde für sich allein heraus und gingen zum Fußballplatz wie früher, setzten sich dort auf eine Bank, redeten miteinander und schwiegen auch zusammen. Jonas erzählte von seinen Schwierigkeiten in der Familie, von der nachlassenden Aufmerksamkeit für einander und den Kindern, die ihr Leben so dominierten. Phil hörte zu, das konnte er schon immer besonders gut und hielt sich mit Ratschlägen zurück.
Silvester musste Phil früh ins Bett, und als Jonas spät in der Nacht allein war, den Kopf weit in den Nacken legte und in den Himmel schaute, wusste er, was zu tun war. Seine Frau würde dagegen sein, "lass mich nicht wochenlang allein mit den Kindern", aber er war noch jung und körperlich fit und es fühlte sich richtig an. Jeder Mensch könnte mit nur einer Niere leben und wenn die dann nicht mehr in Ordnung wäre, bräuchte er eben auch einen Spender, "ich werde dann schon jemanden finden", sagte er zu Beate. Beim Neujahrsspaziergang lehnte Phil kategorisch ab, kaum dass er etwas gesagt hatte, aber nach einigen Tagen stimmte er zumindest der Voruntersuchung zu. Sonographie und Blutbild waren unauffällig, die Kreuzprobe zeigte keine Hinderungsgründe.
Sechs Wochen später lagen sie nebeneinander im Vorbereitungsraum, Phil schaute noch einmal hinüber, er hatte sich schon so oft bedankt, er musste nichts mehr sagen, und Jonas lächelte ihn mit zusammengekniffenen Lippen an. Die Mutter saß an seinem Bett und strich ihm über den Arm, sie hatte heute noch nicht geweint, das war ein guter Tag für sie alle.
Als er aus der Narkose aufwachte, brauchte er einige Zeit, um sich zurechtzufinden und die Eindrücke zuzuordnen. Der Tropf mit den Schmerzmitteln stand neben seinem Bett, der Überwachungsmonitor piepste regelmäßig und die Schwester sang leise ein Lied mit, das aus einem Radio im Nebenzimmer kam. Er hatte Durst und das Schlucken tat ihm weh, aber das würde vergehen. Ein paar Tage noch zur Beobachtung, die Narbe wollte er sich erst zu Hause ansehen. Die Mutter kam herein und strich ihm über die Haare, ihr ganzer Körper schien zusammengefallen zu sein, sie stand starr am Fenster und sah auf einen fernen Punkt, sagte nichts und ging schon nach kurzer Zeit wieder hinaus.
Der Morgen war eisig kalt und ein gnadenloser Wind fegte beinahe ohne Hindernis über den neuen Teil des städtischen Friedhofs. Jonas war noch schwach, Ole stütze ihn und gemeinsam mit ihrer Mutter standen sie am Grab. Statt der bereitstehenden Erde warf er die Lavabröckchen aus Hawaii hinein, Phil war so weit dann doch nicht gereist. Jonas' Frau und die Kinder waren wegen der Kälte nicht mitgekommen, er würde später zu ihnen gehen und versuchen, es Beate noch einmal zu erklären.