So ein Elend
So ein Elend
Eine verdammt lange Weihnachts-Kurzgeschichte von Felix Hartmann
Eines Tages sah der liebe Gott auf die Erde und was er da sah war, daß nicht nur viele sondern gar alle Menschen und sogar ein paar Menschenaffen schrecklich sündhaft waren und unerhörte Taten wie Faulrumhocken, Marmelade mit dem Löffel essen, andere Menschen seelisch zu quälen, nicht an Gott zu glauben, einfach mal so die Ehe zu brechen (-oder erst gar keine einzugehen-), Raubkopieren von rechtlich geschützten amerikanischen Softwareprodukten, übermäßig essen in der Fastenzeit oder Schwarzfahren gar nicht mehr so auffielen. Da wurde dem lieben Gott bewußt, daß sich nichts geändert hatte und die Menschen immer schon irgendwelchen Mist hatten bauen müssen. In den wenigen Momenten der Menschheitsgeschichte, in denen eine größere Gruppe von ihnen auf kleinere Sünden verzichtet hatte, hatte diese automatisch das ganze mit einer riesigen Schurkerei kompensiert, für deren Rechtfertigung man sogar im alten Testament lange hätte blättern müssen.
Andererseits konnte man behaupten, die Menschheit hätte sich doch zum schlechten entwickelt. Noch vor wenigen Jahrhunderten hatten die meisten Menschen viel zu viel Hunger gehabt, um faul zu sein. Marmelade war, als kostbar anerkannt, sorgfältig behandelt worden, nicht an Gott zu glauben hätte sie damals ziemlich schnell psychisch zum Wrack gemacht. Mit amerikanischen Softwareprodunkten hatte sich damals keiner rumgeschlagen und auch das Schwarzfahren war kein großes Problem gewesen und in der Fastenzeit war man wenigstens auf Fisch und Geflügel ausgewichen.
Nun, man hatte die Ehe zwar auch gebrochen, aber wenigstens war man sie eingegangen und man hatte es auch nicht gleich groß in die Welt geschrien, um so andere anzustecken. Es gab sogar derart anständige Kerle, daß sie ihre Frauen erst köpften, bevor sie eine neue heirateten.
Das mit der seelischen Grausamkeit war zwar auch ein Problem gewesen, aber wen interessiert schon seelische Grausamkeit? Damals hatten die Menschen mit ganz anderen Grausamkeiten schon recht viel zu tun, um ausreichend abgelenkt zu sein.
Eigentlich hatte ihn der ganze Mist schon früher aufgeregt; und er hatte auch versucht, was dagegen zu unternehmen. Aber die Propheten hatten irgendwie versagt und auch der Messias hatte nicht gerade den durchschlagenden Erfolg vorweisen können, als er, gekreuzigt sterbend, gen Himmel blickte.
Beachtet man, wie unerträglich lange Kinder die Zeit vom öffnen des ersten Adventskalendertürchens zum heiligen Abend empfinden, und wie nervenaufreibend und schnell sie die älteren Erwachsenen wahrnehmen, kann man vielleicht ahnen, wieviel Streß ein lieber Gott, der ja noch einiges älter als der durchschnittliche Erwachsene ist, hat, wenn die Adventszeit hereinbricht. Da Gott viel mehr Menschen kennt, als irgendein Mensch, hätte er echt viel zu tun, müßte er sie alle beschenken oder zumindest grüßen. Aber der liebe Gott hatte schon vor langem entschieden, auf Kontaktersuche seiner Gläubigen nicht zu antworten, obwohl er so etwas bisweilen direkt oder indirekt dennoch machte. Zum Beispiel hatte er diesem netten französischen Mädchen geholfen, die Engländer zu besiegen. Der liebe Gott mochte nämlich keine Engländer.
Irgendwann hatte er dann gemerkt, daß eine Frau so eine Rolle eigentlich nicht einnehmen sollte. Daß sie hätte selber dran denken müssen, merkte das Mädchen, als es auf dem Scheiterhaufen gestanden hatte. Die Franzosen verehrten dieses Weibsbild jedoch weiter. Der liebe Gott mochte auch die Franzosen nicht mehr.
Aber in der Adventszeit war der liebe Gott oft gnädig gestimmt. Letztes Weihnachten hatte er einen Engel runter geschickt, damit dieser den Menschen drei Wünsche erfülle. Die Sache war nicht ganz ideal gelaufen. Jeder kennt die Geschichte. Die Menschen verstanden nicht, daß es ein echter und kein verkleideter Engel war, wünschten sich einen Beweis für sein Engelsein, wünschten sich banales, wie eine gute Schulnote, oder verwechselten den Engel mit der Bedienung und bestellten etwas zu Trinken.
Das alles war eine Frage der falschen Präsentation gewesen, dachte sich der Engel, der dieses Jahr für die Aufgabe auserwählt worden war. Außerdem mußte man natürlich darauf achten, wem man den Wunsch anbot. Die peinliche Situation vor gut 70 Jahren, als man aus Versehen einen Antisemiten gefragt hatte, war allen noch in Erinnerung.
Er wollte ein Kind aufsuchen, der Engel. Kinder waren geeignet, gutes zu wünschen. Um so älter die Menschen wurden, um so wahrscheinlicher wurde es, daß sie sich etwas schlechtes wünschten. Bereits Jugendliche wünschten sich schreckliche Sachen. Unanständige Dinge, die hier nicht wiedergegeben werden sollten, ein Leben an der Seite eines berühmten Filmschauspielers, jemanden den Tod oder jede Menge Reichtum, Ruhm und Schönheit.
Wenn sie älter wurden, wurden die Menschen kaum weiser. Sie wünschten sich, nicht mehr so alt zu sein, Macht zu haben oder politische Ziele zu erreichen. Sie wünschten sich sehr leicht etwas, was die Welt sehr gravierend veränderte, wenn sie den Engel als solchen erkannten.
Der Engel ging deshalb in eine Grundschule. In einem kleinen Klassenzimmer saß ein Junge, der traurig aussah. Was dem Engel direkt auffiel war, daß er traurig, oder zumindest unzufrieden war.
Der Junge wollte sich verstecken, als der Engel in das Zimmer kam, aber der Engel streckte seine Hand zu ihm aus und sprach: „Sei beruhigt mein Kind. Ich bin ein Engel aus dem Himmel, gesandt im Auftrag der Weihnachtsbotschaft, um Freude unter den Menschen zu verbreiten und will dir deshalb einen Wunsch erfüllen!”
Der Junge antwortete nicht. Er schien seine Situation noch nicht ganz begriffen zu haben. Der Engel spürte die Chance, seine pädagogischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Er sprach zu dem Jungen: „Mein Junge, was sitzt du hier in diesem Zimmer und versteckst dich? Wie kann ich dir helfen? Was bedrückt dich so?” Da sprach der Junge: „Draußen ist es so kalt und ich will nicht raus, aber es ist Pause und niemand darf merken, dass ich drinnen geblieben bin. Ich will, daß du niemanden erzählst, daß ich drinnen geblieben bin.”
Der Engel sah echte Probleme auf sich zukommen. Nicht nur, daß sich der Junge etwas banales zu wüschen drohte, er durfte nur drei Wünsche erfüllen, und wenn einer davon beinhaltete, nicht vom Wunsch und seinen Umständen zu sprechen, war das Berichterstatten dem Oberengel gegenüber problematisch.
Er versuchte, das Ruder herum zu reißen: „Aber Junge, hör zu! Ich bin doch gekommen, um dir einen Wunsch zu erfüllen. Irgend etwas zu ändern, was so geblieben wäre, wäre ich nicht gekommen. Wäre ich nicht gekommen, bräuchtest du dir sowas auch nicht wünschen.” „Ich glaube, dann wünsche ich mir du wärst nie gekommen!”, meinte der Junge.
Verzweifelt versuchte der Engel, ruhig zu bleiben: „Ich meine doch, ich würde dich auch dann nicht verraten, wenn du es dir nicht wünschst. Wünsche dir doch etwas wichtiges, etwas, von dem du länger etwas hast.”
Der Junge dachte nach. Er runzelte die Stirn. „Ich glaube, ich wünsche mir einen Tiger.”
„Wieso einen Tiger?”, stammelte der Engel, der langsam zu der Überzeugung kam, daß das mit den Kindern doch nicht so einfach war.
„Ja einen Tiger!”, meinte der Junge, „Dann brauch’ ich keine Angst mehr haben, weil alle Angst vor einem Tiger haben und mir nichts tun wollen.”
„Meinst du nicht, du könntest dir etwas besseres wünschen?”, fragte der Engel, „Einen großen Traum von dir?”
Das Gesicht des Jungen hellte sich auf: „Ich wünsche mir, ein Ritter zu sein”, triumphierte er.
Der Engel stöhnte. „Rittersein ist doch total unaktuell. Es gibt den Ritterstand nicht mehr. Da mußt du in so Länder wie England reisen, wenn du was mit Königen und Adeligen haben willst. Und wer will schon nach England (Der liebe Gott wäre zufrieden über diese Bemerkung gewesen, hätte er sie gehört, aber er beriet gerade über Möglichkeiten, die Weltbevölkerung explosionsartig ansteigen zu lassen.)?”
„Dann will ich eben nach England!”, erwiderte der Junge trotzig.
„Du kannst doch gar kein Englisch!” meinte der Engel bestürzt.
„Dann wünsch’ ich mir eben, daß ich Englisch kann!”, brüllte der Junge fast.
Der Engel rannte aus der Schule. Endlich hatte sich der Junge etwas gewünscht, das nützlich war. Er beeilte sich, bevor er es sich anders überlegte, wenn er merkte, daß er jetzt zwar englisch sprechen konnte, aber weder Ritter, noch in England war.
Der Engel war sehr beunruhigt. Das mit dem Kind war sehr brenzlig gewesen. Er wollte doch einen älteren Menschen fragen. Diese hatten hoffentlich einen genug entwickelten Geist, um sich etwas anständiges zu wünschen. Fast hätte der Engel sich gewünscht, die Menschen würden sich etwas banales wünschen.
Er suchte sich nun einen gewöhnlich wirkenden, erwachsenen Mann aus, dem er einen Wunsch erfüllen wollte. Er trat zu ihm und sprach: „Sei beruhigt mein Freund. Ich bin ein Engel des Himmels, gesandt im Auftrag der Weihnachtsbotschaft, um Freude unter den Menschen zu verbreiten und will dir deshalb einen Wunsch erfüllen!”
„Aha”, meinte der Mann und betrachtete dem Engel mißtrauisch. Und wieso soll ich dir glauben, daß du echt bist?”
Auf das hatte sich der Engel vorbereitet: „Wünsche dir doch einfach das, was du dir wünscht. Wenn ich falsch bin, erfülle ich dir den Wunsch zwar nicht, aber du verlierst ja auch nichts!”
„Das klingt einleuchtend”, meinte der Mann, „aber wenn du ein Engel bist, dann bist du doch im Auftrag des Allmächtigen unterwegs.”
„Ja,”, meinte der Engel, ohne das Problem zu erkennen, „denn Gott ist gütig zu den Menschen”
„Aber das heißt ja, daß Gott eingreift. Wenn Gott eingreifen kann, den Menschen helfen will, warum tut er es nicht ständig? Warum sterben täglich Menschen unschuldig?”, fragte der Mann.
„Du wolltest dir etwas wünschen.”, versuchte der Engel abzulenken.
„Ich wünsche mir, daß Wollust keine Todsünde mehr ist.”, meinte der Mann, in der Überzeugung, der Menschheit einen großen Dienst zu erweisen.
„Das kannst du nicht!”, brüllte der Engel entsetzt. Ihm war ganz schwindelig.
„Wieso nicht?”, fragte der Mann provozierend.
„Das ist so eine Art Naturgesetz in den göttlichen Dingen. Das bringt viel zu viele Schwierigkeiten. Dann müßte nicht wollüstig zu sein ja eine Todsünde werden!”, versuchte der Engel die Lage zu retten.
„Wenn du meinst, dann wünsche ich mir etwas anderes.”, meinte der Mann, während der Engel eifrig nickte.
„Ich glaube, ich wünsche mir, unendlich viele Wünsche frei zu haben.”, meinte der Mann zufrieden.
„Das geht nicht!”, erwiderte der Engel wieder entsetzt. Er wollte zurück auf seine Wolke. „Ich darf nicht unendlich viele Wünsche erfüllen.”
„Dann wünsche ich mir eben, zwei Wünsche frei zu haben”, versuchte es der Mann.
„Meinetwegen,”, jammerte der Engel, „und was sind diese Wünsche?”
„Ich wünsche mir zweimal, zwei weitere Wünsche frei zu haben!”, triumphierte der Mann.
„Ich würde ungern von meinem Flammenschwert Gebrauch machen müssen!”, drohte der Engel zornig. „Wünsche dir endlich etwas, was ich einfacher erfüllen kann!”
„Schon gut, dann wünsche ich eben, daß du mir die Bibel rückwärts gesprochen in der Urfassung zitierst, während du kopfüber einen Stepptanz an der Decke meines Wohnzimmers machst. Dann habe ich was lustiges, wenn meine Eltern Heiligabend zu Besuch sind.”
„Wie kannst du die Heilige Schrift nur derartig entwürdigend verunglimpfen!”
„Na gut, dann wünsche ich mir, daß du zu einem gefallenen Engel wirst und dem Satan dienst!”, rief der Mann lachend.
Der Engel war vor Wut dem Erfüllen dieses Wunsches sehr nahe.
„Ich warne dich!”
„Ich wünsche mir, die Welt wäre eine Scheibe!”, lachte der Mann, der wohl gerade erst in Fahrt kam.
Der Engel fuchtelte mit dem Flammenschwert in der Luft herum und sah grimmig aus.
„Schlag mich nicht!”, prustete der Mann, ohne seinen Fehler zu bemerken.
„In Ordnung,” meinte der Engel zufrieden, während er das Schwert einsteckte, „wenn du es dir wünscht”
Er ging schnell, ohne dem Mann weitere Beachtung zu schenken. Er zitterte am ganzen Körper. Noch einen Wunsch mußte er überstehen, dann hatte er Ruhe. Er würde sich wie sein Vorgänger zur Belohnung wünschen, die Arbeit nie wieder machen zu müssen. Es war gräßlich.
Als er sich wieder beruhigt hatte, überlegte der Engel. Er hatte bis jetzt nur männliche Wesen gefragt. Vielleicht waren Frauen anständiger, gütiger und einfach besser. Er mußte natürlich sorgfältig wählen. Noch so ein Desaster konnte er sich nicht erlauben.
Er suchte lange und sorgfältig. Und schließlich fand er ein friedliche und gläubige Frau. Er war entzückt, als sich diese das Paradies auf Erden wünschte.
Von da an war es wunderbar auf der Erde. Alle Menschen liebten sich gegenseitig auf die Art, wie sich Geschwister normalerweise lieben sollten. Wenn die Menschen nicht gerade Harfe spielten oder fleißig waren, spielten sie auf ihrem PC eine spannende Gärtnereisimulation, sahen sich im TV das Testbild an oder waren einfach freundlich zu einander. In den Kinos konnte man Filme sehen, in denen man Pflanzen in Echtzeit beim Wachsen zusehen konnte. Niemand hatte Hunger, niemand hatte Durst, niemand war zornig, niemand war wollüstig, niemand war hochmütig, niemand war schandhaft. Alle waren gut.
Es war die Hölle auf Erden.
finis