Was ist neu

So steht es geschrieben...

Mitglied
Beitritt
20.08.2001
Beiträge
9

So steht es geschrieben...

So steht es geschrieben...

Es ist Samstag nachmittag, die Sonne lässt den Park in leuchtendem Grün erstrahlen und kein Wölkchen stört das perfekte Blau des Himmels. Melodisches Vogelgezwitscher und kleine Kinder, die sich auf dem fein geschnittenen Rasen balgen, vollenden die Wochenend-Idylle.
Es ist fast schon kitschig, denkt sich der stille Beobachter und geht mit gemessenen Schritten den gepflasterten Gehweg entlang.
Um so mehr erstaunt ihn der ältere Mann, den er auf einer der Sitzbänke unter einer Ulme erblickt. Er scheint tief in seine Arbeit versunken zu sein, schreibt wie ein Besessener in ein riesiges altes Buch. Seine Kleidung ist die eines Geschäftsmannes, unauffällig und korrekt. Wahrscheinlich ein Banker oder Buchhalter, spekuliert unser Beobachter.
Interessiert setzt er sich zu ihm. Der Schreiber scheint ihn jedoch nicht zu bemerken.
„Entschuldigung, dass ich sie störe, aber ich habe mich gefragt, wieso ein Mann wie Sie am Wochenende in den Park geht, um seine Arbeit zu erledigen.“
Leicht irritiert schaut der Schreiber von seiner Arbeit auf. Als seine staubtrockene Stimme ertönt, scheint alles still zu stehen. Der Beobachter ist sofort von dieser Stimme fasziniert. Er nimmt nichts mehr um sich herum war, nur noch den Schreiber und diese aussergewöhnliche Stimme.
„Ach, wissen Sie, ich erledige meine Arbeit vorzugsweise im Freien, sonst würde ich gar nicht mehr aus dem Haus gehen. Ausserdem tut es dem Buch nicht gut.“
„Es tut dem Buch nicht gut, sagen Sie?“, fragt unser Beobachter verwirrt.
„Ja. Sehen Sie, dieses Buch ist mehr als nur ein Buch. Es enthält einige Geschichten, welche bisher nur einmal erzählt wurden. Wenn eine Geschichte nicht aufgeschrieben wird, wie sie erzählt wurde oder gar nicht aufgeschrieben wird, stirbt sie, sie wird vergessen. Und wenn das geschieht, entseht ein Chaos, das Sie sich nicht vorstellen können. Dieses Buch lebt, es ist ein Gefäss für lebendige Geschichten und daher lebt es selbst auch. Und manchmal muss das Buch unter Leute, ins Freie, sonst erstickt es unter der Last der fast vergessenen Geschichten.“
Der Beobachter ist nun völlig verwirrt und hat keine Ahnung, wovon dieser Verrückte spricht, aber er kann sich nicht von ihm abwenden. Der Schreiber zieht ihn völlig in seinen Bann.
Dieser scheint indess eine Idee zu haben.
„Sagen Sie mal, wissen Sie was ein Traumfänger ist?“
„Ich habe schon einmal davon gehört, so eine Art Raumdekoration, besteht aus kompliziert verknüpften Schnüren, glaube ich.“
„Genau, Sie haben recht. Nun, ein solcher Traumfänger hatte einmal Gewalt über das Schicksal der Menschen...“.
Der stille Beobachter ist zum stillen Zuhörer geworden und lauscht gespannt den Worten des Schreibers. Um sie herum scheint alles stillzustehen.
„Als die Menschen gerade begonnen hatten, ihr Nomadenleben aufzugeben und sesshaft zu werden, lebte ein Schamane, einer der ersten und besten seiner Zunft. Jedoch hatten ihn die Mächte, mit denen er sich umgab, bösartig werden lassen und er versuchte den Menschen zu schaden.
Zu seinem Unglück glaubten die Menschen dieser Zeit sehr stark an die guten Naturmächte und er konnte Ihnen nicht wirklich etwas anhaben. Sie jedoch ihm, wie sich herausstellte. Bei einem seiner tätlichen Angriffe wäre er fast getötet worden, als ein besonders mutiger Siedler ihm mit einem Pfeil ein Auge ausschoss.
Nach einiger Zeit waren auch die Naturmächte auf seine boshaften Versuche, ihren Schützlingen Schaden zuzufügen, aufmerksam geworden. Zur Strafe verwandelten sie ihn in einen Nachtmahr, halb geblendet und fast aller Kräfte beraubt, dazu verdammt, bis ans Ende der Zeit ruhelos über der Erde zu kreisen in der Gestalt eines rotgefiederten Vogels. Seinem Geist konnten sie jedoch nichts anhaben und er schwor den Menschen ewige Rache. Er wusste genau, dass irgendwann die Gelegenheit kommen würde, um an seine Vergeltung zu gelangen.“

Der Schreiber macht eine Pause, um sich eine Zigarette anzuzünden.
„Dies war eine der ersten Geschichten, die in dieses Buch geschrieben wurden. Und wenn Sie genau zugehört haben, ist Ihnen sicher aufgefallen, wie weit sie zurückliegt. Jetzt müssen Sie noch besser aufpassen, sonst verlieren sie den Bezug. Wir werden einen Sprung nach vorne wagen.“
Der Zuhörer hat keine Ahnung, wovon dieser merkwürdige Mann spricht, doch er ist unfähig, ihm die Aufmerksamkeit zu verwehren. Die Neugier ist stärker als das flaue Gefühl im Magen, das seit dem Beginn der Erzählung hat.

„Die Welt drehte sich weiter, Jahrtausende vergingen und die Menschen gewannen immer mehr Macht über ihr Schicksal und die Natur, der sie vormals hilflos unterworfen waren. Nach einiger Zeit gab es fast keinen Ort mehr auf der Erde, welcher nicht von den Menschen erforscht, zumindest besucht, worden wäre.
Parallel zu dieser Entwicklung verloren die meisten von ihnen ihre Ehrfurcht vor der Natur und viele ihren Glauben. Der neue Gott hiess Wissenschaft.
Doch für einige besondere Menschen war das alles nicht wichtig.
Die Begrabenen lebten in ihrer eigenen Welt. Abgeschnitten von ihrer direkten Umgebung, erbauten sie riesige Bibliotheken aus Gedanken und Schlösser aus Träumen. Sie hatten sich soweit in sich selbst zurückgezogen, dass sie nichts anderes mehr wahrnahmen.
Auch Lucy gehörte zu diesen wenigen Menschen. Als sie vier war, hatte sie mitangesehen, wie ihre neun Jahre ältere Schwester von einem Einbrecher vergewaltigt und getötet wurde.
Seither hatte sie kein Wort mehr gesprochen und auch sonst jede Reaktion auf ihre Aussenwelt vermieden. Die Eltern von Lucy waren natürlich verzweifelt. Zuerst der Verlust ihrer älteren Tochter, welcher zudem auf so schreckliche Weise geschehen war und dann auch noch ihr verbliebenes Kind, das in ihren Augen nicht mehr als Kind bezeichnet werden konnte, sondern als eine lebende Tote. Für sie war es als hätten sie beide verloren.
Ein halbes Jahr nach der Nacht, die das Leben aller Beteiligten verändert hatte, entschlossen sich Lucys Eltern völlig zermürbt dazu, Lucy in ein Kinderheim für schwere Pflegefälle zu geben. Leicht war es nicht für sie, doch sie hielten es nicht mehr aus, immer in dieses maskenhafte Gesicht und die leblosen Augen zu schauen und nichts von dem Mädchen zu sehen, welches noch vor einigen Monaten fröhlich mit seinen Freunden im Garten gespielt hatte, das seinem Vater immer die Nase langzog wenn ihr danach war. Es schien als hätte jemand alles, was Lucy ausmachte und was man an ihr liebte, aus ihr herausgezogen und den leeren Körper zurückgelassen. Doch sie irrten sich.

Seit Lucy nicht mehr sprach, hatte sie fast jede Woche diesen intensiven Traum. Sie sah sich selbst in ihrem Zimmer schlafend, jedoch das eine Auge geöffnet. Ihre Schwester und deren Peiniger, wie er sie schlug und festhielt, während sie sich unter ihm wand wie ein Aal.
Er schien immer mit Lucy zu reden, doch verstand sie nur Bruchstücke seiner Botschaft, wie als wären sie durch eine dicke Wand getrennt.
‚...hör...du wirst...böse...musst aufwachen...’. Dazu erklang immer diese Melodie, bei der sie ein Kribbeln im Bauch bekam, wie als wenn kleine Tiere in ihrem Magen herumkrabbeln würden.
Von irgendwoher kannte sie dieses Lied, diese Klangfolge. Doch sobald sie aufwachte, vergass sie alles. Sie dachte nicht sehr oft daran

Das Pflegeheim, welches Lucys Eltern für sie ausgesucht hatten, war ziemlich modern und die Leiterin eine sehr engagierte Frau, die fest an Pädagogik und Kinderpsychologie glaubte. In jedem Zimmer hing ein bestimmter Gegenstand in der Ecke, manchmal ein Windspiel oder auch ein Mobilée, der das Interesse und die Phantasie der Kinder anregen sollte. In Lucys Zimmer hing ein mittelgrosser, bunter Traumfänger. Als sie in das Zimmer geführt wurde, schenkte sie ihm keine Beachtung, was die Leiterin nicht überraschte. Sie wusste ja, wie es um Lucy stand. Trotzdem liess sie den geknüpften Blickfang in dem Zimmer hängen.

Lucy blieb den ganzen ersten Tag in ihrem Zimmer und spielte in ihrer Welt aus Erinnerungen und Träumen mit den Kindern ihrer Nachbarschaft im Vorgarten ihres Elternhauses. Auch ihre grosse Schwester Tiff war dabei.
Plötzlich hörte sie eine Stimme, die nicht aus ihrer Welt zu kommen schien, sie kannte sie jedenfalls nicht.
„Hallo Lucy.“
Sie drehte sich von ihren Freunden weg und die lauten Geräusche ihrer Umgebung verblassten. Einige Meter vor ihr hockte eine rote Krähe auf dem Boden.
„Wer bist du?“, fragte sie schüchtern. Sie wusste genau, dass Tiere nicht sprechen konnten, doch sie wusste auch, dass dies kein normaler Vogel war. Sie hatte ein bisschen Angst.
„Mein Name ist Ripkin, liebes Kind. Du musst dich nicht vor mir fürchten, denn ich bin dein Freund.“
Lucy entspannte sich. Sie mochte die Stimme, die von dem Vogel zu kommen schien. Sie gab ihr ein Gefühl der Wärme und Geborgenheit, das sie in ihrer Traumwelt noch nie gehabt hatte.
„Weißt du, Lucy, du bist ein ganz besonderes Kind. Ich habe lange nach einem Kind wie dir gesucht, um ein Spiel zu spielen. Ein Spiel, bei dem man viel Phantasie braucht und du hast mehr als genug davon. Willst du dieses Spiel mit mir spielen?“
„JAAAAAA, ich will“, kreischte sie vor Begeisterung. Der Vogel motivierte sie, wie es noch nie zuvor geschehen war, auch in der wirklichen Welt nicht. Der Vogel begann das Spiel zu erklären.

In Lucys Zimmer begann sich der Traumfänger zu drehen. Es sah so aus, als würde er eine Art blauen Rauch einsaugen, zuerst nur ein dünner Faden, der jedoch mit der zunehmenden Drehgeschwindigkeit des Traumfängers immer mehr anschwoll. Schliesslich sog der Traumfänger einen dicken, dunkelblauen Strahl in seine Mitte, wo er in einem winzigen schwarzen Spalt verschwand.

Der erste, der die Veränderungen bemerkte, war Morpheus, das Sandmännchen (Lachen Sie nicht!“, warnte der Erzähler. „Das Buch könnte sich daran erinnern und es Ihnen übel nehmen. Ausserdem wollen Sie in Zukunft doch sicher ruhig schlafen können wie bisher, oder?).
Es waren nur kleine Veränderungen, doch warnten sie den Erschaffer aller Träume vor einer Gefahr. Der Wald aus Türmen seines Schlosses schien sich zu lichten, die filigranen Ornamente an den Torbögen wurden immer grober und die Haut an den Händen des Herrschers wurde älter, was eigentlich unmöglich war, denn Morpheus war nicht imstande zu altern.
Er beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen und schlich sich in das Unterbewusstsein einiger schlafender Menschen. Was er sah, erschreckte ihn zutiefst. Die Menschen träumten nicht mehr, einzig diese leere Dunkelheit war zurückgeblieben. Auch wenn die Menschen nicht träumten, fand er normalerweise Zugang zu ihren innersten Hoffnungen und Ängsten, die sich in den Träumen äusserten. Doch dieses Mal nicht, nur Dunkelheit war vorhanden.
Morpheus war äusserst nachdenklich, als er in sein Reich zurückkehrte. Was war geschehen? Was könnte diese könnte die Ursache dieser Verheerung sein? Eines war ihm klar. Er würde dieses Problem nicht alleine lösen können.

Der Tod stand in seinem Operationssaal und wunderte sich. Die Seelen, die er holte, waren verstört und seltsam deformiert. Wenn er sein Skalpell zückte und versuchte, die Persönlichkeit zur Wiedergeburt herauszuschneiden, bekam er nur einen verschrumpelten kleinen Zwerg, der keinerlei Ähnlichkeit mit den sonstigen wunderschönen Lichtwesen hatte. Er war ratlos.
Da ging die Schwingtür auf und einer seiner koboldartigen Helfer trippelte zu ihm.
‚Da ist jemand vor dem Tor, der Sie sprechen möchte’, wisperte er. ‚Ich glaube, es ist der Traum, doch ist etwas Furchtbares mit ihm geschehen.’ ‚Der Traum’, wiederholte der Tod nachdenklich.
‚Lass ihn ein. Vielleicht weiss er, was hier gespielt wird.’ Während das kleine Wesen davoneilte, liess sich der alte Mann auf der leeren Liege nieder und wartete auf seinen Gast.

Lucifer sass auf seinem Trohn und lauschte der Symphonie der Gegeisselten. Doch machten ihm die Schreie seiner Gäste zurzeit nicht richtig Freude, denn Beelzebub war heute zu ihm gekommen und hatte gesagt, dass vor den Toren der Hölle eine immer grösser werdende Menschenmasse auf ihre Strafe warte. Wenn es so weiterging, wäre die Hölle in wenigen Tagen überfüllt, oder besser gesagt, unterbesetzt. Selbst dieser gigantische Ort konnte nicht unendlich viele Seelen aufnehmen. Die Gewerkschaft der Dämonen würde ihm das Leben zur Hölle machen.
So hockte der gefallene Engel grüblerisch in seiner Festung und wartete auf eine Eingebung.
Plötzlich begann Ralphie, sein einziges Haustier, in dessen Körper die Seele eines erst vor kurzem verstorbenem Kinderschänders steckte, zu sprechen. Lucifer war dementsprechend erstaunt, denn Ralphie war ein Goldfisch und die waren eigentlich nicht besonders gesprächig.
‚Du wirst auf zwei alte Bekannte treffen. Ihre Probleme und deines gehen auf den selben Verursacher zurück. Ein alter Geist versucht, die Menschheit zu verderben, indem er ihnen ihr Wichtigstes stiehlt. Sucht das kleine Mädchen und den roten Raben. Sie ist der Schlüssel. Ihr dürft nicht versagen, Morgenstern, oder die Welt wir nie mehr sein wie vorher.’ Dann schloss der Fisch seine Augen.
Lucifer war alarmiert. Nun wusste er, wieso sein Gefangener gesprochen hatte. Reue war nicht selten in der Hölle und Ralphies Seele schämte sich anscheinend für seine Tat in jener Nacht. Besonders, da er nun in seiner persönlichen Hölle erlebte, wie es war, der Gnade von jemand Stärkeren ausgeliefert zu sein.
Der Teufel zog seinen Mantel an und machte sich auf die Reise.

Die Zustände auf der Erde waren chaotisch geworden, fast alle Menschen schienen verrückt zu werden. Auf den Strassen fanden sich nur leere Gesichter, die ziellos umherirrten, im Fernsehen wurde von der stetig ansteigenden Selbstmordrate und den sich häufenden Gewaltdelikten berichtet. Es schien fast, als würden sich die Zivilisation selbst zerstören. Und niemand wusste, wo die Ursache zu finden war. Jedenfalls kein Sterblicher.

‚Sieh nur, wie es leuchtet!’ Lucy war seit langem nicht mehr so glücklich gewesen. Der Rabe hatte ihr gezeigt, wie man aus der Luft einen Kreisel erscheinen lassen konnte. Er drehte sich und seine vielen Farben schimmerten im hellen Tageslicht.
‚Du bist es, die ihn zum leuchten bringt’, antwortete der Vogel, worauf das Mädchen freudig lächelte.

Zur gleichen Zeit trafen sich Traum, Tod und Teufel in der Zwischenwelt, einem Übergang von der wirklichen Welt in die oberen Spären.
‚Sieh an, der Morgenstern’, sagte der Tod spöttisch. Es muss ja wirklich etwas los sein, wenn IHR aus eurem Loch hervorkriecht.’
‚Hört zu, wir haben nicht viel Zeit, glaube ich. Einer meiner Gefangenen hat mir den Untergang der menschlichen Zivilisation prophezeit, und das wäre eine Katastrophe für uns alle. Ein Geist versucht den Menschen ihr Wichtigstes zu stehlen. Durch ein Mädchen, das anscheinend irgendwelche besonderen Kräfte hat. Könnt ihr damit etwas anfangen?’
‚Seht euch doch nur mal Morpheus an, guter Teufel’, erwiderte der Tod. ‚Wir sind solange unsterblich, wie die Menschen unser Reich betreten. So steht es jedenfalls im Vertrag, den ich vor Urzeiten unterschrieben habe.’
‚Ja, es muss mit den Träumen zu tun haben’, ergänzte der Traum. ‚Ich habe versucht, einige Menschen in ihren Träumen zu besuchen, doch ich fand nur Leere, diese fürchterliche Leere.’
‚Wir müssen irgendeinen Weg finden, wie wir dieses Mädchen von ihm wegbringen können.’
So standen die Drei einsam in der grauen Umgebung der Zwischenwelt und versuchten eine Lösung für das Problem zu finden, welches sie sonst gleichermassen ins Verderben stürzen konnte.

Lucy verlor langsam die Lust an dem Spiel, doch der Rabe wusste sie bei der Stange zu halten.
‚Siehst du diese kleinen Lichter da drinnen, Lucy? Das ist deine Schwester.’ Natürlich log er, um an sein Ziel zu gelangen. So kurz vor seinem grössten Triumph war ihm jedes Mittel recht.

‚Oh mein Gott’, flüsterte Morpheus auf einmal. Auf seinem Gesicht stand ein Ausdruck tiefster Erkenntnis.
‚Komm mir nicht mit dem’, erwiderte Lucifer mürrisch.
‚Nein, nein, mir ist nur gerade etwas eingefallen. Vor einiger Zeit war ich gerade auf der Reise, besuchte ein paar Träumende. Bei einem kleinen Mädchen sah ich, wie ein Mädchen von einem Mann vergewaltigt wurde. Dabei erklang immer diese Melodie...deredem-dem-deredemdemdem...deredemderedem...’ Der Teufel zuckte auf. Er kannte sie. Die Hölle ist auch ein Ort der Sehnsucht und diese Melodie hörte er dort ziemlich oft, Hitze kann mit der Zeit zu einer der unerträglichsten Strafen werden. Langsam wurde die Sache klarer und sie wussten nun auch, wo sie suchen mussten.

Der Rabe erschrak. Was war das? Dieses merkwürdige Geräusch? Er wollte etwas zu Lucy sagen, doch diese hörte ihn gar nicht, auch den riesigen, bunten Traumfänger in der Luft beachtete sie nicht mehr und der Strom aus Träumen und Hoffnung wurde sofort schwächer.
‚EEEEEEIIIISCRRREEEEEEEME!!!’, kreischte sie in ihrer Welt wie auch in der wirklichen.
Dort fuhren alle im Pflegeheim zusammen. Erstaunlicherweise auch jene Kinder, welche nichts hören konnten. Lucys Schwingungen waren in diesem Moment so stark, dass in ihrem Zimmer sogar die Fensterscheibe zerbrach.
Die Heimleiterin war natürlich zu Tode erschrocken und eilte in die Richtung, aus der sie den Lärm gehört hatte. Sie konnte nicht glauben, dass das kleine Mädchen, welches erst vorgestern in ihr Haus gekommen war, jenes Mädchen, das diesen unheimlich emotionslosen Gesichtsausdruck nach aussen trug, ein solches Jubelgeschrei zustande bringen könnte. Und doch war es das Traumfänger-Zimmer des kleinen Mädchens Lucy, aus welchem das Getöse erklang. Als sie die Tür öffnete, erblickte sie Lucy, wie sie in einer halsbrecherischen Geschwindigkeit durchs Zimmer fegte und immerzu ‚MAAAMIIIIIII, ICH WILL EISCREEEEEEEEME!!!‘ brüllte.
Der Traumfänger leuchtete noch in einem schwachen, bereits verblassendem Blau, doch die Heimleiterin nahm keine Notiz davon.
‚Lucy! Beruhige dich doch. Lucy! LUCY!‘
Noch während sie sich versuchte zu verständigen, hörte sie es auch, diese Melodie, unverkennbar. Alle Eiswagen der INTERNATIONAL ICECREAM DISTRIBUTION spielten diese Melodie, es war ihr Markenzeichen, durch das sie auf der ganzen Welt bekannt geworden waren.
Die Heimleiterin nahm Lucy bei der Hand und diese wurde sofort still. Mit neugierigem Blick schaute sie die kleine Frau vor ihr an. ‚Ich will Eiscreme‘, sagte sie, mit einer Kompromisslosigkeit, die nur ein fünfjähriges Kind zustande bringen kann.
‚Na dann komm mal mit‘, meinte die Heimleiterin. Sie war immer noch ein bisschen verstört von Lucys plötzlicher Wandlung.
Der Eiswagen befand sich auf der anderen Strasssenseite und der Eisverkäufer war ein hochgewachsener, alter Mann mit weissem Kittel und schwarzer Sonnenbrille.
‚Was möchtest du denn, kleine Lucy?‘, fragte er.
‚Erdbeer- und Schokoeis.‘ Sie war noch zu jung, um sich zu wundern, warum der Verkäufer ihren Namen wusste. Auch der Heimleiterin fiel es nicht auf, sie dachte immer noch über das gerade Geschehene nach.
‚Weisst du, Lucy, du hast heute etwas ganz Grosses geleistet. Dieses Eis bekommst du als persönliches Geschenk von Mr. Dadley.‘
‚Oh, danke!‘ erwiderte sie. ‚Sie sind süss.‘
Der Verkäufer lächelte trocken. ‚Vielleicht.‘ Mehr sagte er nicht.

Gleichzeitig tobte der rachedurstige Geist immer noch in Lucys Kopf. Er begriff nicht, was schief gelaufen war und ärgerte sich in Grund und Boden wegen diesem unzuverlässigen, kleinen Balg.
Morpheus, der Traum, fand ihn schliesslich in dem zerfallenden, verschwimmenden Vorgarten von Lucys Haus, auf dem vermodernden Gartenzaun hockend.
‚Sei gegrüsst, Nachtmahr Ripkin. Du hast dir heute eine Menge Ärger aufgehalst.‘
‚Ihr könnt mir nichts mehr befehlen, Herr der Träume‘, krächzte der Vogel. ‚Ich bin frei, ausserhalb eures Reiches bin ich frei.‘
‚Glaubst du das wirklich, dummer Vogel? Ich hätte mehr von dir erwartet.‘ Auf dem Gesicht des Traums erschien ein süffisantes Lächeln. ‚Der Teufel mag solche Seelen wie dich nicht in seiner Hölle. Er kann dir nur einen kläglichen Ersatz dessen bieten, was ich mir für dich ausgedacht habe.‘
Die Krähe schrie spöttisch auf. ‚Was kannst du mir schon anhaben? Du bist nicht mehr als ein Traum! Der lächerliche, uralte Traum, den die Menschen seit Anbeginn der Zeiten hatten, den sie nach dem Schlaf sogar wieder vergessen. So unwichtig bist du!‘
‚Du wirst niemehr aus dieser Welt kommen, diese imaginäre kleine Welt eines verstörten Mädchens, die bereits wieder zerfällt. Du hasst doch die Menschen so, nicht wahr? Nun, dies ist deine Hölle. Du wirst dich mit dem abgeben müssen was du am meisten hasst. Doch wirst du Lucy nichts anhaben können, nicht einmal als Alptraum. Sie wird dich immer als ihren kleinen, etwas störrischen Freund betrachten. Und wenn sie stirbt, bist du bereits in ihren Nachkommen. Du wirst erst dann deine Ruhe finden, wenn sich mein finsterer Kollege alle aus Lucys Sippe geholt hat.
Auf Wiedersehen, kleiner Geist. Vielleicht werde ich dich einmal besuchen.‘
Der rote Vogel war allein. Wie gelähmt sass er auf einem fauligen Zaunpfahl und brütete über sein Schicksal.
Nachdem Lucy aufgewacht war, kam alles wieder in Ordnung. Die Verbrechensraten gingen wieder zurück, der Tod war wieder entzückt und motiviert bei seiner Arbeit, der Teufel sass mürrisch wie üblich auf seinem Trohn, war aber gleichzeitig auch zufrieden, weil die Gewerkschaft im nicht die Hölle heiss gemacht hatte und der Sandmann wanderte wieder durch die Träume der Menschen. Die Welt war der Apokalypse nochmals entronnen.

Lucys Eltern nahmen ihre Tochter wieder bei sich auf, zwar etwas ängstlich, sie könnte einen plötzlichen Rückfall haben, doch die Freude über ihre wiedergewonnene Tochter überwiegte.
Nur in der Nacht hatten sie nun mehr Angst, denn manchmal hörten sie aus Lucys Zimmer seltsame Geräusche, welche sofort verschwanden, wenn sie nach dem Rechten sahen. Nach einiger Zeit fiel es ihnen fast nicht mehr auf.
Alles nahm wieder seinen normalen Lauf.“

Der Erzähler reckte sich. „Nun, guter Mann. Ich habe Ihnen diese Geschichte erzählt und sie haben mir aufmerksam zugehört. Sie müssen mir nicht sagen, was Sie davon halten, ich kenne Ihre Meinung. Ausserdem habe ich mit der Erzählung viel Zeit verloren. Nun muss ich gehen, es gibt noch andere Orte als diesen, an die ich gehen muss. Vergessen sie nie, das Schicksal ist blind und hat scharfe Zähne. Seien sie auf der Hut.“
Mit diesen Worten steht der seltsame Mann auf, nimmt das riesige Buch unter den Arm und geht davon. Erst jetzt bemerkt der Zuhörer, welcher wieder in die Rolle des Beobachters geschlüpft ist, die zierliche Kette, welche das Buch an seinen Besitzer bindet und irgendwie hat er das Gefühl, er sei gerade an etwas unwahrscheinlich Grossem vorbei gegangen, ohne es zu bemerken.
Langsam und verwirrt steht er auf und verlässt den Park. Vor der Strasse bleibt er stehen. Seine Gedanken kreisen um den Erzähler und seine bizarre Geschichte und er ist sich nun sicher, dass es sich nicht um einen Geschäftsmann handeln konnte.
Mit diesen Gedanken betritt er die Strasse und sieht den Lieferwagen gar nicht kommen, der auf ihn zurast.

Der Fahrer des Wagens ist ziemlich müde, er hat den gestrigen Abend mit Freunden und zwei Kisten Bier verbracht und er spürt einen leichten Kater. Der Aufprall lässt ihn hochschrecken und er bremst so scharf er kann.
Auf dem Bürgersteig liegt der zerschmetterte Leib eines Spaziergängers. Der Fahrer hockt sich hin um ihm zu helfen doch er sieht sofort, dass hier jede Hilfe zu spät kommt.
„Er hat gesagt…jetzt verstehe ich…“, röchelt der am Boden Liegende noch, den letzten Atem aushauchend, und stirbt.
Der Fahrer des Lieferwagens kratzt sich am Kopf und packt sein Handy aus um einen Krankenwagen und die Polizei zu rufen.
Während er die Nummer wählt, innerlich aufgewühlt von dem Geschehniss, denkt er über die letzten Worte des Toten nach. Was sie wohl bedeutet haben?

Auf einer Mauer, die sich mitten durch eine Magerwiese erstreckt, sitzt unser Schreiber. Eifrig hält er die neuesten Geschichten fest. Auf seinem Gesicht liegt ein mildes Lächeln und er sagt, wie als wäre noch jemand anwesend:
„Beim nächsten Mal vielleicht, mein lieber Freund, beim nächsten Mal.“
Der Himmel ist wunderschön blau und auf der Wiese tummeln sich Schafe. Ein friedliches Bild, wie es selten in der heutigen Welt zu finden ist.

 

Sehr schöne Geschichte, hat mir gefallen!

Nur die Zeitspanne der Geschehnisse rund um Lucy ist ein bißchen kurz, oder? Zwei Tage!

Die Idee einer Gewerkschaft der Teufel finde ich gut, das stelle man sich mal vor! HöHö!

Poncher

 

danke, danke
war mir nur nicht sicher, ob die geschichte nicht doch zu kompliziert ist.

mit der zeitspanne hast du recht, aber es fiel mir keine alternative ein...leider.
greetz cornflake
*knusperknusper*

 

also die sache mit dem eiswagen erinnert mich stark an eine folge von *denk*, mei, wie heisst denn die senden, laeuft mittwoch amd, mit den 3 hexen, aja charmed, da gabs auch nen eiswagen und die melodie hat alle "nichtmenschlichen" typen angezogen und sie unschaedlich gemacht...
wurdest du da etwa inspiriert?

dany

 

mist! dabei dachte ich, das schaut sich ja doch keiner an... ;)
nein, ernsthaft. ich "klaue" manchmal eine idee, die mir gefällt und wandle sie dann so um, dass sie in die geschichte passt.
doch das mit der melodie hatte ich schon bevor diese folge von "charmed" im fernsehen lief.
der eiswagen hat halt gleich gepasst...

 

Hej Cornflake!
Die Idee der Geschichte ist phantastisch! Manchmal war mir die Ausführung allerdings etwas zu konfus und die Lösungen zu undurchschaubar. Auch der Anmerkung oben, daß die Auflösung zu schnell geht, stimme ich zu. Kleiner konstruktiver Vorschlag: Überarbeite die Geschichte nochmal in Ruhe, glätte einige Stellen, dann ist sie richtig klasse!

Gruß von der chaosqueen

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom