So weit wie der Himmel
So weit wie der Himmel
Immer, wenn mein Blick den ihren streift, spüre ich die Kraft in mir. Spüre ich, wie mir warm ums Herz wird, wie ich nervös werde und wie meine Hände zu schwitzen anfangen. So kann ich am besten arbeiten. Wenn sie hier ist, bin ich nicht irgendein heruntergekommenener Maler, nein, dann bin ich größer als van Gogh, größer als Leonardo da Vinci. Immer, wenn ich aufschaue, spüre ich die Macht, die in meinen Händen und in meiner Seele liegt. Es ist nichts Leichtes, es ist etwas, was da ist und wofür ich nicht mal arbeiten muss.
Aber selbst der beste Motor läuft nicht, wenn er keinen Sprit bekommt. Und selbst der beste Körper ist ohne eine Seele, der größte Geist ohne ein Gehirn, rein gar nichts. Die Kraft, die dafür verantwortlich ist, dass ich hier an meinem Schreibtisch sitze, neben mir aus dem Fenster auf den Hof schaue und die Kinder spielen sehe, die Kraft, die bewirkt, dass ich mir meinen Lebensunterhalt durchs Malen verdienen kann, sitzt am Ende des Zimmers gleich neben der Tür und schaut mich an. Starrt mich an – wie die Sonne die Erde, wie der Jäger die Beute, wie der Ozean die Küste. Und schon längst bin ich über den Punkt hinaus, sie gehen zu lassen. Schon längst hat sich mein Geist an ihrem geweidet und weidet sich weiter, schon längst ist mein Körper ihr Körper. Ich kann nicht ohne sie und das weiß sie. Sie quält mich und ich glaube nicht, dass sie mich liebt.
Ich male sie ohne Staffelei, ohne große Utensilien. Ich male sie, wie sie gerade ist; mit einem Bleistift, ganz schlicht und einfach, grob und rau, sanft und zart. Ich male sie und es ist mir, als würde ich mein eigenes Leben malen. Immer und immer wieder.
Wenn sie geht – das weiß ich – dann gehe ich auch. Wenn sie etwas schön findet, finde ich es auch schön. Und wenn sie irgendwann den Blick senkt, senke ich ihn auch.
Draußen ist es kalt geworden. Ich glaube, es dauert nicht mehr lange, bis die ersten Schneeflocken den Boden berühren und die Kinder auf dem Hof vor meinem Fenster in lautes Entzücken ausbrechen. Kälte bedeutet mir viel, obwohl ich ein warmer Mensch bin; sie ist immer Sinnbild und Ausdruckskraft meiner Arbeit gewesen. Weil SIE kalt ist. Weil sie, wie sie da neben meiner Tür sitzt und mich anstarrt, nie etwas anderes in ihren Blick gelegt hat, als Kälte. Sie liebt mich nicht, aber ich vergöttere sie. Ich liebe sie. Wenn sie aufsteht, ihren Mantel nimmt und wortlos geht, bricht es mir jedes Mal das Herz: Ich stehe dann stundenlang mit verweinten Augen am Fenster und starre auf den Hof. Ich bete zu Gott, er möge sie mir doch bald wieder bringen. Er möge sie mir in meinen Schoß zurück bringen, weil sie doch mein Kind ist, mein Herz, meine Seele, mein...
Aber was rede ich da? Es ist der Schmerz, der nicht von mir weichen will. Es ist die Tatsache, dass ich krank bin und nicht mehr lange zu Leben habe. Alle Künstler sterben in Armut. Alle Künstler sterben allein. Es ist meine Aufgabe, allein zu sein, wenn mich die Kälte mit sich zieht, wenn ich von dieser Welt gehe.
Mein Herz sucht wieder nach ihr. Nach ihrem Blick. Nach ihren Augen. Ich will sie malen, bei Gott, will ich sie malen! Und immer, wenn sie geht, wenn sie nur kurz verschwindet, um möglichst bald wieder zurückzukommen, weil sie dafür bezahlt wird, in meinem Zimmer zu sitzen und mich anzustarren, dann ist mir, als könne ich nicht mehr leben, ohne sie zu malen. Dann ist mir, als hätte ich niemals anders gelebt – und ich verspüre den stärksten Drang, nach meinem Bleistift – IHREM Bleistift! – zu greifen und den stärksten Wunsch, sie vor mir zu sehen, den ich je gespürt habe... Und wenn sie dann kommt, dann will ich sie umarmen, dann will ich sie küssen, dann will ich sie berühren, dann will ich... – mein Körper liegt zu ihren Füßen. Meine Seele ist mein Geschenk an ihre Göttlichkeit. Und das weiß sie. Das weiß sie ganz genau.
Sie weist mich zurück. Sie lächelt und ihre kalten Augen weisen mich zurück, noch ehe ich ihr den Mantel abnehmen kann, ohne sie auch nur zu berühren.
Habe ich Sorgen, erzähle ich ihr davon. Ich erzähle ihr von meiner Tochter, die in Amerika Germanistik studiert – ich erzähle ihr von meiner Frau und wie ich mich von ihr getrennt habe, ohne mich scheiden zu lassen... Ich erzähle ihr von meiner Religion, von meinem Ringen mit mir selbst und mit meiner Arbeit... Ich erzähle ihr alles, um es kurz zu fassen. Und in jedem meiner Worte liegt Liebe, liegt Ergebenheit, liegt Unterwürfigkeit. Ich gehöre ihr. Sie spielt mit mir. Es ist mir egal, soll sie ruhig, soll sie nur. Ich bin geboren worden, um sie zu lieben. Ich bin geboren worden, um mich von ihr quälen zu lassen.
„Siehst du da draußen die Sterne?“ frage ich sie. Sie starrt mich an, sie wendet den Blick nicht zum Fenster. Sie wird dafür bezahlt, mich anzuschauen – nicht die Wände hinter mir. Nicht die Arbeit vor mir. Nicht meinen Anzug, nicht meine Bibliothek – nein, nur mich. Mich soll sie anschauen, mich schaut sie an. Mein gewissenhaftes Mädchen! Sie wird dafür bezahlt, stundenlang still dazusitzen. Manchmal wirft sie das Haar zurück – aber nie verliert sie mich aus den Augen. Nie senkt sie dabei den Blick.
Ich liebe sie. Bei Gott, ich würde für sie sterben. Es ist mir klar, dass ich ein alter Mann und sie ein ewig junger Geist ist – aber was macht das schon. Was spielt das Alter in der Liebe für eine Rolle?
Sie wird dafür bezahlt, mir Modell zu stehen. Immer das gleiche Modell – und trotzdem male ich sie in allen Lebenslagen. Und trotzdem weiß ich genau, was sie für einen Geist hat. Ich habe alle Freiheiten der Welt; ich male sie, wie sie auf einer Wiese sitzt. Ich male sie, wie sie mit den Kindern vor meinem Fenster auf dem Hof spielt. Ich male sie, wie sie einen Hund an ihr Herz drückt. Ich male sie, wie sie als Engel einem alten Mann erscheint... Als letzte Rettung ergreift sie seine Hand – und er weiß genau, dass sie nicht real ist, aber er gibt sich ihr hin... Ähnlich, wie ich mich ihr hingebe.
Ich habe sie noch nie sprechen hören. Das ist Teil ihrer Arbeit. Wir sind ein Team, ohne zu sprechen, gibt sie mir Antwort; nicht mit ihrem Körper, denn der ist reglos, sondern mit ihrem Geist. Manchmal lacht sie, manchmal weint sie – aber alles, ohne den Blick von mir zu wenden.
Ich weiß, dass sie mich eines Tages mitnehmen wird. Schließlich ist es ihre Arbeit und schließlich wird sie dafür bezahlt. Ich weiß, was sie tut, wenn sie nicht bei mir im Zimmer sitzt und mir Modell steht. Ich weiß, wie sie eine Hand von Zweien ist – ich weiß um ihre Güte, um ihre Lieblichkeit und um ihren Beruf, den viele Menschen grausam finden. Mir erscheint er umso natürlicher und ich freue mich gar auf die Berührung ihrer zarten, elfenartigen Hände. Ich freue mich darauf, von ihr an einen anderen Ort geleitet zu werden. Ich glaube, dann versinke ich für immer in ihrem Lächeln und in ihren Augen. In diesen großen, kalten Augen, die mich in ihren Bann gezogen haben. Ich träume von ihr und in diesen Träumen liebe ich sie immer wieder, in diesen Träumen bin ich wie van Gogh, der mit seiner Kunst schläft, bin ich wie all die Künstler, die sich über die Grenzen hinweg setzen und mehr wollen, als sie geben können. In diesen Träumen ist alles möglich.
Ich stelle mir vor, wie sie riecht. Ich stelle mir vor, wie es in ihr drinnen aussehen muss; hat sie ein Herz? Hat sie eine Seele? Hat sie einen richtigen Körper? Kann sie fühlen?
In meinen Träumen ist sie grenzenlos. Und ich liebe sie – immer und immer wieder -, bis ich gequält und schweißgebadet erwache.
Es ist bald an der Zeit. Sie kommt. Sie wird dafür bezahlt, mir Modell zu stehen. Die Kälte beschlägt die Fensterscheiben und es fällt mir schwer, in den Hof hinunter zu sehen. Aber ich weiß, dass die Kinder wieder spielen. Und ich kann sie hören, wobei mir egal ist, ob sie lachen, schreien, lärmen oder nicht, wobei mir egal ist, ob sie überhaupt da sind, ob sie jemals da waren oder nicht.
Ich warte auf sie. Die Uhr tickt in mein Fleisch. Es ist gleich Zeit, die Tür zu öffnen, ihr den Mantel abzunehmen, ohne sie zu berühren. Es ist Zeit, mit der Arbeit anzufangen. Es ist Zeit für den Künstler, sich mit seiner Kunst zu vereinen.
Heute male ich sie, wie sie auf eine Wendeltreppe steht. Ich male sie und ich male den Wind, der um ihre Ohren pfeift und ihr das Haar ins Gesicht weht. Ich male die Stufen unter ihren Füßen, die keine Füße sondern Götter sind – ich male den Himmel, der sich mit ihrem Körper vereint und den Regen, der sie umgibt, ohne sie zu berühren. Ich male ihr Lächeln und ihre Augen, die mich anschauen, ach, wie sie mich anschauen, wie sie mich quälen, wie ich sie liebe!
Irgendwann ergreift sie meine Hand und führt mich diese Treppe hinauf, in eine andere Welt. Und dann kann ich auch ihre Stimme hören und erfahren, wie es ist, mehr als nur einen Körper zu haben... Mehr als nur auf menschliche Art und Weise Künstler zu sein.
Die Zeit muss nur kommen und ich weiß, dass sie kommen wird. Bis dahin warte ich auf sie und mit ihr. Warte ich für sie und mit uns. Ich weiß, dass es meine Bestimmung ist, noch als Mensch völlig aus mir heraus zu gehen und der Nachwelt etwas zu hinterlassen, was größer als alles bisher da Gewesene ist. Ich weiß, dass mir das gelingen wird – noch vor meinem Tod, der nicht mehr lange auf sich warten lässt. Bald schon werde ich ein Meisterwerk malen, bald schon werden meine Hände mit der Hilfe ihres Blickes dieses Meisterwerk finden, denn es wird zu mir kommen. Bald schon mache ich aus der Todesbotin, die ich liebe, einen Menschen aus Fleisch und Blut.
Für sie. Für mich. Für die E
(c) by Stefanie Kißling, 28. Juli 2002
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