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Spuren

sim

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13.04.2003
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Spuren

Zwei Menschen gehen. Ab und an gesellt sich jemand zu dem einen oder dem anderen und begleitet diesen ein Stück.
Mal gehen sie leicht, mal haben sie Gewicht. Mal tragen sie es, mal fühlen sie sich beladen. Sie erklimmen Berge, mühen sich durch Täler, wandern am Strand das Meer entlang und am Ufer den Fluss.
Beide laufen durch Dörfer und Städte, über Gras und Asphalt, durch Wälder und Felder, über Kiesel und Fliesen, durch Schnee und Pfützen, über fruchtbare Erde und Scherben, durch Sumpf und über Steppen.
Nicht immer finden sie gleich das richtige Schuhwerk und zuweilen hat jeder den Eindruck von Knüppeln zwischen den Beinen oder von Lähmung.
Beide drehen sich manchmal um, betrachten die Spuren, die sie hinterlassen haben, rümpfen die Nase, schütteln den Kopf oder lächeln. Der Erste fegt sie sodann fort. Der Matsch auf den Fliesen, die Scherben, die Abdrücke im Sand, das zertretene Gras und selbst das zeitweise Lächeln sind ihm unangenehm.
»Wer bist du?«, fragt der Zweite, als die beiden sich treffen, und schaut nach dem Weg, den der Erste gekommen ist.
Der blickt zurück und findet keine Antwort.

 

Liebe Häferl,

du hast Recht, natürlich muss es in die Mehrzahl, auch wenn das bei "das zeitweise Lächeln" komisch klingt.
Mein Gefühl hatte deine Lesart gar nicht einkalkuliert, da ich, hätte ich sie gewollt, einen Bindestrich oder einen Doppelpunkt gesetzt hätte. Danke also für den Hinweis. Für mehr Klarheit habe ich die Reihenfolge umgestellt. Das hat auch den Vorteil einer abnehmenden Struktur dessen, was ihm unangenehm ist.

Lieben Gruß, sim

 

Lieber sim!

Den Satz mit "Der Matsch" zu beginnen, ist natürlich eine gute Lösung! So liest man ihn gleich richtig betont. :)
Den Satz davor ("Beide drehen sich manchmal um") hast Du jetzt aber irgendwie doppelt drin. ;)

Alles Liebe,
Susi :)

 

aloa sim,

inhaltlich wurde bereits vieles verdeutlicht, so dass ich dem nichts mehr hinzufügen kann. bewältigen ist wohl etwas ganz anderes als das bloße wegwischen. anfangs ging es mir ähnlich wie fisch, da ich an das kollektive verdrängen in der deutschen geschichte zurück erinnert wurde. die leere die bleibt führt zu keiner antwort auf die frage, wer oder was man ist.

formal:

selbst das zeitweise Lächeln sind ihm unangenehm.

wenn ich mich nicht irre kommt hinter lächeln ein ist.

schöne geschichte

germane

 

Liebe Häferl,

da habe ich mich irgendwie mit der Zwischenablage vertan. Ist gefixt. Vielen Dank für den Hinweis.

Hallo germane,

kollektive Verdrängung deutscher Geschichte ist eine durchaus mögliche Lesart. :)

wenn ich mich nicht irre kommt hinter lächeln ein ist.
da eine Aufzählung vorausgeht, ist der Plural richtig. Ich habe den Bindestrich mal durch ein "und" ersetzt, dann liest es sich nicht mehr ganz so schräg.
schöne geschichte
danke:)

Lieben Gruß euch Beiden, sim

 
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Zwei Menschen gehen. Ab und an gesellt sich jemand zu dem einen oder dem anderen und begleitet diesen ein Stück.
Mal gehen sie leicht, mal haben sie Gewicht. Mal tragen sie es, mal fühlen sie sich beladen. Sie erklimmen Berge, mühen sich durch Täler, wandern am Strand das Meer entlang und am Ufer den Fluss.
Beide laufen durch Dörfer und Städte, über Gras und Asphalt, durch Wälder und Felder, über Kiesel und Fliesen, durch Schnee und Pfützen, über fruchtbare Erde und Scherben, durch Sumpf und über Steppen.
Nicht immer finden sie gleich das richtige Schuhwerk und zuweilen hat jeder den Eindruck von Knüppeln zwischen den Beinen oder von Lähmung.
Beide drehen sich manchmal um, betrachten die Spuren, die sie hinterlassen haben, rümpfen die Nase, schütteln den Kopf oder lächeln. Der Erste fegt sie sodann fort. Der Matsch auf den Fliesen, die Scherben, die Abdrücke im Sand, das zertretene Gras und selbst das zeitweise Lächeln sind ihm unangenehm.
»Wer bist du?«, fragt der Zweite, als die beiden sich treffen, und schaut nach dem Weg, den der Erste gekommen ist.
Der blickt zurück und findet keine Antwort.

„Nun, da du mir keine Antwort zu geben weißt, bereust du es nicht, deine Spuren verwischt zu haben?“, fragt der Zweite weiter.
Der Erste lächelt nur und schüttelt den Kopf: „Sieh, es ist deine Frage, die mich treibt und die mich meine Spuren verwischen lässt. Ich trachte nach der Antwort, aber sie wird sich erst in meinem Ende ergeben. Und dann wird es nicht mehr wichtig sein, wer ich war und welchen Weg ich gekommen bin, sondern nur wer dort steht. Und der bin ich.“
Der Zweite aber, stolz auf seine Spuren, erwidert zweifelnd: „Wenn deine Vergangenheit am Ende nicht mehr wichtig ist, hättest du deine Spuren ebenso gut hinterlassen können.“
„Wohl wahr, ich könnte am Ende zu ihnen stehen, auch wenn sie mir nicht immer schmeicheln“, nickt der Erste. „Vielmehr will ich aber verhindern, dass jemand mir Schritt auf Tritt folgt und glaubt, mein Weg führe auch ihn zum Ziel.“
Der Erste verwischt sorgfältig die Spuren, welche auf sein Treffen mit dem Zweiten hindeuten und geht dann weiter.

 

Hallo Etaku,

so ganz schlau bin ich nicht daraus geworden, ob es sich nun um eine Fortsetzung oder um Widerpruch handelt, auf alle Fälle aber um spannende Gedanken, die man sowohl religionsphilosophisch als auch vor dem Hintergrund der um sich greifenden Dauerüberwachung "zu unserer Sicherheit" betrachten kann.

Lieben Gruß
sim

 

Hallo Sim

Man mag auf Anhieb denken, der Erste hätte etwas Falsches gemacht, als er seine Spuren verwischt hat und auf die Frage des Zweiten hin, wer er sei, würde ihm sein Fehler bewusst.
Mit meiner Ergänzung wollte ich ausdrücken, dass dies nicht unbedingt so sein muss. Schliesslich hat er seine Spuren stets von neuem verwischt und es in diesen Momenten für richtig gehalten.
Wer ist denn das Individuum? Jener, der seine Identität definieren kann oder jener, der es eben nicht kann? Welches von beidem ist erstrebenswerter und welches interessanter?
Definieren bedeutet ja "begrenzen". Individuum wiederum bedeuten "unteilbar". Wessen Persönlichkeit ist nun ausgeprägter, entwickelter, menschlicher..? Jener, der die Frage beantworten kann, oder jener, der frei sagen kann, er wisse es nicht?

 

Hallo Etaku,

ich musste ein bisschen über deine Antwort nachdenken. Mein Text hat wohl eine Wertung zu dir transportiert, die du verständlicherweise so nicht teilen magst. Durch das offene eine personale Frage stellende Ende ist diese Wertung natürlich nicht ausgeschlossen, ich persönlich finde sie aber nicht zwingend aus dem Text hervorgehend.
Was für einen selbst erstrebenswerter ist, kann auch nur jeder für sich selbst beantworten. Und Spuren für andere zu verwischen heißt ja nicht: die Schritte nicht gegangen zu sein. Die Erfahrungen, die wir am liebsten vergessen möchten (und oft auch erfolgreich vergessen), die wir am liebsten ungeschehen machen möchten, prägen uns ja in der Regel am tiefsten. Es kann also durchaus der mit den verwischten Spuren die ausgeprägtere Persönlichkeit aufweisen (was nicht heißt, dass die Persönlichkeit sich nicht noch weiter ausprägen könnte, würde er die unangenehmen Spuren wieder freilegen). Eine Wertung, was richtig, was falsch, was gut, was schlecht davon ist, wollte ich nicht abgeben und habe ich auch in dem Text glaube ich nicht, höchstens kommt es in den Kommentaren dazu.
Eher freue ich mich über so spannende Diskurse, wie den unseren gerade. :)

Der Erste lächelt nur und schüttelt den Kopf: „Sieh, es ist deine Frage, die mich treibt und die mich meine Spuren verwischen lässt.
Das übrigens kenne ich gut, erst recht, wenn jemand penetrant in meiner Seele bohren will. ;)
Ich trachte nach der Antwort, aber sie wird sich erst in meinem Ende ergeben. Und dann wird es nicht mehr wichtig sein, wer ich war und welchen Weg ich gekommen bin, sondern nur wer dort steht. Und der bin ich.
Und das fand ich in sofern schon eine spannende Erweiterung, weil sie eine regligiöse Dimension mit hineinbringt. Die Frage nach dem Tod und die Frage nach Gott (als Instanz, die uteilt, kann durchaus auch im Ich liegen, nicht zwingend in äußerer Autorität)
„Vielmehr will ich aber verhindern, dass jemand mir Schritt auf Tritt folgt und glaubt, mein Weg führe auch ihn zum Ziel.“
hier liegt sowohl die Frage nach Vorbildern als auch eine zusätzliche religiöse Dimension im Satz, denn er steht im Widerspruch zum Anspruch Jesus in Johannes 14.6, aber auch allgemein zu Glückseligkeitsversprechungen.

Lieben Gruß
sim

 

Hallo Sim

Ich denke nicht, dass aus dem Text selbst eine Wertung oder ein Urteil hervorgeht. Diese entnehme ich eher den Kommentaren der Leser.
Die Geschichte gefällt mir übrigens gerade deswegen so gut, weil sie alles offen lässt.

Der Zweite fragt den Ersten: „Wer bist du?“. Doch ist dies wirklich die Frage, die sich stellt, wenn jemand seine Spuren verwischt? Müsste er nicht fragen. „Woher kommst du?“ oder noch nahe liegender „Weshalb hast du deine Spuren verwischt?“
Vielleicht hat der Erste seine Spuren gerade deshalb verwischt. Weil andernfalls einer seinen Weg kreuzen würde und nur anhand seiner Spuren glaubte, er wisse, wem er da begegnet. Hier aber wird der Zweite überhaupt erst durch das Fehlen der Spuren motiviert, die Frage nach der Identität eines anderen zu stellen.
Und dass der Erste in der Folge keine Antwort findet, heisst ja weiter auch nicht, dass er keine weiss. Möglicherweise ist sie nur zu komplex. Oder vielleicht wüsste er auch keine zu geben, wenn er seine Spuren nicht verwischt hätte.
Auch ist das Motiv des Ersten unklar. Ist ihm unangenehm, was er selbst in den Spuren liest, oder was andere darin lesen könnten?
Vielleicht kann er die Frage nicht beantworten, weil er „niemand“ ist, aber vielleicht ist er auch zu viel, um es in Worte fassen zu können. Und er ist der Ansicht, dass die naive Frage des Zweiten nicht ausreicht, um seine Persönlichkeit zu ergründen.

Aber auch ganz andere Fragen ergeben sich aus der Geschichte. Was ist mit jenem, der seine Spuren stehen lässt? Geht er nur unversehens und selbstbewusst seinen Weg, wobei rein zufällig halt Spuren entstehen, oder will er ganz bewusst Spuren hinterlassen?
Braucht er selbst seine Spuren, um zu wissen wer er ist? Oder hofft er, dass andere daraus lesen können? Hinterlässt er sie am Ende gar, um ein Bild von sich selbst zu suggerieren und nicht danach gefragt zu werden, wer er sei? Weil er ebenfalls keine Antwort zu geben wüsste? Oder „schlimmer“: Die Antwort wüsste, aber nicht preisgeben will?
Das führt unversehens zu der Frage, ob der Zweite seine eigene Frage überhaupt beantworten könnte. Sofern er den Ersten nur fragt, weil er hinter diesem keine Spuren sieht, könnte man annehmen, dass er jemanden, der Spuren hinterlässt, nicht fragen würde. Dies folglich aus dem Grund, weil er dann aus den Spuren lesen würde, wer der andere ist.
Er selbst hinterlässt Spuren. Glaubt er also, seine eigenen Spuren geben eine Antwort darauf, wer er ist? Wenn der Zweite nach seiner Identität gefragt würde, wüsste er dann eine Antwort zu geben, die weiter geht, als man es alleine aus den Spuren bereits lesen kann? Und wenn nicht, ist er dann überhaupt jemand? Da er ja sein ganzes Leben nur in seinen Spuren sieht?

 

Hallo Etaku,

so ist das manchmal, erst bin ich nicht zu einer Antwort gekommen, dann habe ich es glatt vergessen. Ich hoffe, du bist nicht böse drüber.

Ich denke nicht, dass aus dem Text selbst eine Wertung oder ein Urteil hervorgeht.
Na, da bin ich aber beruhigt.
Der Zweite fragt den Ersten: „Wer bist du?“. Doch ist dies wirklich die Frage, die sich stellt, wenn jemand seine Spuren verwischt? Müsste er nicht fragen. „Woher kommst du?“ oder noch nahe liegender „Weshalb hast du deine Spuren verwischt?“
Noch naheliegender, auch wenn es dumm klingt: Was tust du da?
Ich ging eher davon aus, dass der erste beim Vorgang des Spuren verwischens selbst nicht beobachtet würde.
Auch ist das Motiv des Ersten unklar. Ist ihm unangenehm, was er selbst in den Spuren liest, oder was andere darin lesen könnten?
Hier könnte ich zurückfragen. Ist uns selbst nicht meistens das unangenehm, von dem wir denken, es könnte anderen unangenehm sein?
Auf alle Fälle liest du angenehm viele Fragen aus meinem Text. Das freut mich sehr. :)

Lieben Gruß und vielen Dank noch mal.
sim

 

Hallo sim,

sich an so kurzen Texten zu versuchen, die einen Gedanken beschreiben und viel Spielraum für Interpretationen lassen, halte ich für eine ausgezeichnete Idee und finde die Umsetzung gelungen. Diese Geschichte ähnelt einer Sufi-Geschichte, einer Zen-Lehrgeschichte oder einer Miniatur von Borges.

Für meinen Geschmack ist die Interpretation von weltflucht sehr gelungen: Das eigene Ich in der Vergangenheit, das die Frage nach dem Kern des eigenen Ichs nicht beantworten kann. Die Version, die Du vermutlich beim Schreiben im Sinn hattest, erinnert mich an gewisse Mitglieder hier, die ihre Geschichten löschen lassen. ;)

Der Text erinnert mich auch an die Geschichten über den Langen Mann von Naut, die zwar um einiges länger sind, aber ebenfalls einen tiefsinnigen, knapp formulierten Gedanken zum Thema haben.

Freundliche Grüße vom

Berg

 

Salü sim,

ja, wer seine Spuren löscht, löscht auch sein Herkommen, seinen Weg, sein Schicksal, seine Identität. Somit ist er/sie nicht mehr zu erkennen - und hat sich auch um die Möglichkeit der Selbsterkenntnis gebracht. Dies ist wohl das Schlimmste, was man sich antun kann.
Da ist Dir in meinen Augen ein sehr feiner Text gelungen.

Herzlich grüsst Dich,
Gisanne

 

Hallo Berg,

deine Vergleiche ehren mich. Neben den langen Projekten finde ich es für mich immer mal wieder spannend, Stoffe zu finden, die kurz erzählt werden möchten.
An Geschichten löschende Mitglieder habe ich ehrlich nicht gedacht, dann hätte ich nicht Philosophisches gewählt.


Hallo Gisanne,

ich weiß nicht, ob man damit gleich seine Herkunft löscht. Verschwinden die Erfahrungen, wenn ich deren Spuren beseitige? Oder mache ich einen Mord ungeschehen, indem ich die Spuren beseitige?
Vielleicht verwische ich nur meinen Zugang zu den Stationen meines Weges und erschwere mir so tatsächlich die Selbsterkenntnis, der Weg bleibt aber irgendwo in der Seele als Trauma vergraben?

Auf alle Fälle freut es mich, dass mein Text dich zu Gedanken anregen konnte und du ihn für gelungen hältst.

Euch beiden vielen Dank und liebe Grüße
sim

 

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