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- 01.09.2005
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Stücke für die Sammlung
Mit rechts zog Heiko den Hosenschlitz auf, die linke Hand hielt das Lenkrad. Er holte sein Ding raus. Hose und Unterhose strangulierten ihm den Sack, so würde das nichts werden. Er schob die Cargohose mit Firmenlogo auf den Seitentaschen runter zu den Knien. Danach beugte er sich nach vorn, die Stirn kam dem Lenkrad immer näher. Unter dem Sitz tastete er umher, bis seine Finger das Plastik der Urinflasche berührten. „Jetzt komm hierher.“
Er schob die Hüfte nach vorn, tanzte einen Bauchtanz im Sitzen bei sechzig Stundenkilometern. Die Flasche schluckte seinen verschüchterten Schwanz.
Wie abgestumpft Langenkämper war, dachte Heiko. Langenkämper konnte das: Kupplung treten, schalten, lenken und in die Flasche pissen, der Wahnsinn. Drei Kaffee brannten in Heikos Blase, zwei zu Hause und einer in der Firma. Einen durfte man, aber wenn du dir nach dem Kaffee auch noch eine Sitzung gönntest, vom Scheißhaus kamst und alle anderen waren schon los, das vergaßen sie nicht, und irgendwann, wenn du reingerufen wurdest, warfen sie dir jede einzelne Sekunde vor, die du mit Kacken verschwendet hattest. Wenn du neu warst, sagten die anderen dir erstens nicht in der Firma pissen und zweitens mehr schon gar nicht.
Also hatte Langenkämper sich nach ein paar Monaten die Urinflasche mitgebracht, seine Frau war Krankenschwester. „Ich mach mir den Stress nicht mehr, ich piss im Wagen“, hatte er gesagt. „Soll ich dir auch eine besorgen? Kostet nichts, bei meiner Frau auf Arbeit stehen die überall rum.“
Die in der Firma was zu melden hatten, sagten nicht, piss halt im Wagen, nicht direkt, aber war die E-Mail raus, gab es kein Zurück: Das Paket ist unterwegs, das Paket kommt heute, das Paket kommt gleich, die Leute verließen sich auf einen. In der Firma sagten sie dir, denk über jede Sekunde nach, die du nicht mit Fahren verbringst, muss die wirklich sein? Ein anständiger Flaschenhalter und du kannst während der Fahrt trinken. Den Halter musste man selbst bezahlen. Keine leeren Versprechen in den Mails, das war das Wichtigste. Sonst musstest du ins Büro, und wenn du zu oft ins Büro musstest, musstest du irgendwann nicht mehr ins Büro, also gar nicht mehr.
Heiko drückte. „Komm jetzt.“ Zu viel drücken ging auch wieder nicht, er hatte einen Big Mac gefrühstückt und der war gerade dabei, sich im Gedärm seinen Platz einzufordern.
War die Flasche überhaupt gerade, lief das nicht raus? Er hatte noch nie ins Krankenhaus gemusst. Langenkämper hatte gesagt, darum habe die Flasche diesen Knick, da laufe nichts raus, genau dafür sei sie gemacht. Heiko sah runter, sein kleiner Wurm lag wie tot im Flaschenhals. Der Kaffee glühte im Unterbauch, aber nichts passierte. Ladehemmung. Heiko sah auf, Straße frei, fletschte die Zähne wie ein Hund, presste, knurrte auch wie ein Hund. Nichts. Irgendwas klemmte.
Er sah wieder runter. „Vergiss es.“ Nahm die Flasche und warf das Scheißding auf den Boden vor dem Beifahrersitz. Sah auf und da kam das Kind aus dem Wald gelaufen, mitten auf die Straße.
„Scheiße!“ Heiko stampfte aufs Gaspedal, wollte den Hacken bis zum Asphalt durchtreten. Der eigene Schrei gellte ihm in den Ohren, Front- und Seitenscheibe warfen den Schall zurück. Die Reifen quietschten. Ein dumpfer Aufschlag, Blech gegen Fleisch und kleine Knochen. Bump. Das Kind flog ein Stück und drehte sich auf der Straße noch zweimal um sich selbst. Dann lag es da.
Der Wagen stand. Heiko fühlte sich leicht. Alles fühlte sich leicht an. Als würde er gleich auseinanderfallen. Sein Mund stand offen, die Hände hatte er noch am Lenkrad. Sie zuckten wie die Pfoten eines träumenden Hundes.
Heiko sah nicht direkt zum Kind, er sah daran vorbei, und dann immer wieder hin, nur eine Sekunde lang. Vielleicht war es ja doch kein Kind, nur Einbildung, nur auf den ersten Blick. Das hier war Wald, der Wald zwischen zwei Dörfern. Wo die Felder aufhörten und die Bäume begannen, stand ein Schild, das vor Rehen warnte, die über die Straße liefen.
Er wollte aussteigen. Beim ersten Mal bekam er den Türöffner nicht zu fassen. Sein Arm war schlaff wie seine Beine.
Die Hose hing noch unten. Beim Aussteigen rutschte sie bis zu den Knöcheln. Heiko stolperte und schürfte sich am Asphalt die Knie auf. Er legte ein Stück auf allen vieren zurück. Sein Magen krampfte. Er würgte, spuckte aber nur einen dicken Speichelfaden aus.
Als er sicher war, sich nicht übergeben zu müssen, kam er wieder auf die Beine und zog die Hose hoch, hing den kleinen Haken wieder ein und ging auf das blaue Reh zu. Es war der Stoff eines Kleides, ein blaues Kleid, das war keine Einbildung und das war kein Reh. Er hatte ein Kind angefahren, es hatte blonde Haare mit einem roten Fleck darin. Das Mädchen lag auf dem Bauch, das Kleid ließ die Arme frei. Im Unterarm war ein Knick wie von einem zusätzlichen Gelenk, genauso in einem Unterschenkel. Der Körper hob und senkte sich nicht.
Heiko fasste sich in die Tasche, suchte sein Telefon, um den Notruf zu wählen. „Oh Gott, oh leck mich.“ Beide Taschen waren leer, das Handy lag im Auto. Er fuhr herum und wollte zum Transporter sprinten. Stattdessen erstarrte er.
Ein Jäger stand da bei seinem Lieferwagen. Braune Hose, grüne Jacke, Gummistiefel. Auch in Grün. Grüne Mütze, keine Schirmmütze, so ein altes Teil mit Fasanenfedern daran oder was das war. Traditionell. Ein Gewehr.
Heiko hob die Hand. Sie wog drei Tonnen. „Es gab einen Unfall“, erklärte er. „Ich hatte einen Unfall.“
Der Jäger bewegte den Kopf ein Stück, sein Blick ging von Heikos Gesicht zum blauen Bündel auf der Straße und wieder zurück.
„Ich rufe einen Krankenwagen.“ Heiko machte einen Schritt nach vorn.
Der Jäger hob das Gewehr. „Bleib da stehen.“
Heiko machte einen zweiten, langsameren Schritt, und dann einen dritten, den er mittendrin abbrach. „Was?“
„Genau da.“
Heiko schüttelte den Kopf. „Was machen Sie?“ Er zeigte auf das Mädchen. „Da liegt ein Kind.“
„Sehe ich.“ Der Jäger zuckte die Schultern. „Hinterher tut’s euch immer leid.“
„Es war ein Unfall, sie war auf einmal da!“ Heiko zeigte auf das Gewehr. „Nehmen Sie das bitte runter.“
Der Jäger schüttelte den Kopf.
„Mann, sehen Sie nicht, was hier passiert ist?“
Die linke Hand des Jägers ließ das Gewehr los und ging zum Fernglas um seinen Hals. Er hob es kurz an. „Hab ich von den Bäumen aus ganz genau gesehen, die Hose unten. Ich weiß wohl, was hier passiert ist. Ich lese Zeitung und denke immer, so einer müsste mir mal vor den Lauf kommen.“ Er nickte. „Was soll ich dazu jetzt sagen?“
„Was?“ Heiko rieb sich die Stirn. „Nein! Sind Sie irre? Mann, ich hab das Kind angefahren!“
„Mit Hose unten?“
„Ich wollte gerade pissen, als es passiert ist!“
„Im Auto.“
„Ja!“
„Während der Fahrt.“
„Ja, verdammt!“
Der Jäger griff das Gewehr fester. „Erzähl das Märchen mal dem Richter. Schwere Kindheit.“ Er leckte sich die Lippen. „Heute nicht, du kleine Drecksau.“
Heiko schloss die Augen in der Hoffnung, sie wieder zu öffnen und im Bett zu liegen. Aufs Handy zu gucken und festzustellen, dass er spät dran war. Dass das jetzt sein größtes Problem war. Aber das erste, was er sah, war der Jäger.
„Hören Sie.“ Heiko sprach ruhig, trotzdem zitterte seine Stimme. „Hier ist echte Scheiße passiert, aber ich schwöre nicht so, wie Sie glauben. Lassen Sie mich einfach einen Krankenwagen rufen, dann kommt doch sowieso auch die Polizei.“
Der Jäger sah zum Kind und nahm dabei das Gewehr runter. Als Heiko einen Schritt machte, hob er es wieder an.
„Verdammt!“ Heiko stapfte mit seinem schweren Arbeitsschuh auf. „Wenn sie noch lebt, braucht sie einen Notarzt!“
Wieder ging der Blick des Jägers zum Haufen auf der Straße. Er schüttelte den Kopf. „Nee, die lebt nicht mehr.“
Heiko faltete die Hände. „Hören Sie mir jetzt wirklich zu, bitte. Ich weiß nicht, vielleicht haben Sie getrunken, aber im Ernst, Sie verstehen alles komplett falsch und werden das hier so was von bereuen.“
„Das sagt der Richtige.“ Mit dem Daumen über die Schulter zeigte der Jäger auf den Lieferwagen, ohne sich umzudrehen. „Deiner?“
„Nein.“ Ein Gedanke blitzte auf in Heikos Kopf. „Gehört der Firma! Meiner Firma! Die werden mich suchen.“
Der Jäger spuckte auf die Straße. „Sollen sie ruhig. Die Kinder suchen sie auch oft. Zwei Jahre, drei Jahre, zwanzig Jahre. Drehen wir den Spieß heute mal um. Du fährst.“
Heiko presste die Knöchel gegen die Schläfen. „Nein, ernsthaft, das reicht mir jetzt. Die Kleine …“
Der Jäger zielte auf Heikos Kopf. „Einsteigen.“
Heiko zischte durch die Zähne, tsss, ein seltsam unpassender Laut, als hätte sein Gegenüber vorgeschlagen, im Regen Rasen zu mähen. Während er zur Fahrertür ging, wechselte der Jäger an der Front des Wagens vorbei zur Beifahrerseite. Er ging dabei rückwärts, hielt das Gewehr weiter hoch und ließ Heiko nicht aus den Augen. Die Tür stand noch offen. Als Heiko einsteigen wollte, sagte der Jäger: „Ach scheiße, warte mal.“ Er zeigte auf das Kind. „Geh sie holen.“
Heiko sah zum ersten Mal wirklich lange in das Gesicht des Mannes unter dem olivgrünen Hut. Er trug Schnurr- und Dreitagebart, das rechte Auge war fast geschlossen, der Augapfel dahinter nur weiß. Ein Jagdunfall vielleicht. Es erinnerte Heiko an den Freund eines Freundes. Jörn trug die Bundeswehrzeit unauslöschlich ins Gesicht gebrannt, weil er besoffen mit Übungsmunition herumgespielt hatte.
Jörn. So taufte Heiko den Jäger in seinem Kopf. Jörn winkte ungeduldig mit seinem Gewehr. „Du sollst sie holen.“
Heiko nickte. „Wenn wir dann ins Krankenhaus fahren, gern.“
Der Schuss pfiff an Heikos Ohr vorbei. Er spürte den scharfen Windzug der Kugel. Im Wald knackte Holz, irgendetwas sprang auf und rannte davon. Heiko hielt sich das Ohr und besah sich danach seine Hand. Kein Blut, aber dieses Pfeifen, wie manchmal nach einer Nacht unterwegs. Es wurde nicht leiser.
Heikos Kiefer bewegte sich zitternd. „Sind …“ Sein Mund fühlte sich wie ausgeleiert an. „Sind Sie …“
„Ist das dein Ernst?“
Heiko brauchte nicht hinabzusehen. Er wusste, was Jörn meinte, spürte es warm die Schenkel hinunterfließen. Der Jäger stöhnte angewidert auf und zog und schob den Hebel an seinem Gewehr zurück und wieder vor. Klack-klack. „Bei einem Kind bist du ganz groß und jetzt pisst du dich ein. Pfui Teufel. Jetzt geh sie gefälligst holen.“
Heiko machte ein paar Schritte rückwärts. Den Kopf hielt er schief, das Pfeifen blieb. Er drehte sich um und ging auf das Mädchen zu. Als er angekommen war, kniete er sich zu ihr und drehte sie vorsichtig auf den Rücken. Leere Augen starrten in den Himmel über dem Wald und weiter.
Tränen liefen Heiko heiß über die Wangen. „Das darf doch verdammte Scheiße bitte alles nicht wahr sein.“
„Hör auf zu nuscheln“, rief Jörn hinter ihm. „Heb sie auf jetzt und gut ist.“
Heiko versuchte, dem Kind in die Augen zu sehen. Er bekam ihren Blick nicht zu fassen, weil da kein Blick mehr war. Blut lief aus der Nase. Heiko wischte sich die Augen trocken. „Scheiße, Kind, es tut mir leid.“
Er schob seine Arme unter ihre Kniekehlen und die schmalen Schultern. Links fehlte ein Schuh. Der kleine Fuß steckte in einem schmutzigen, weißen Socken mit Gesichtern, diese japanischen Comics, wo alle Riesenaugen haben. Die Wucht des Aufpralls musste ihr den Schuh vom Fuß gerissen haben. Heiko suchte danach beim Weg zum Lieferwagen, während ihr Blut von seinen Armen auf den Asphalt tropfte.
Wo war der Schuh? Wie weit kann der fliegen? War er wirklich so schnell gefahren? Und warum war dieser Socken nicht einfach nur schmutzig, sondern vollgesogen mit Dreck, mit Blättern und kleinen Steinen daran?
Langenkämper hatte Kinder. Er hatte mal gesagt: Kinder sind toll, aber es sind Schweine. Tunkst du sie nicht regelmäßig in die Wanne, machen sie von allein gar nichts. Dann sind sie schmutzig, das macht ihnen nichts.
Dieser Strumpf war nicht einfach schmutzig, sondern pottdreckig. Als wäre sie über eine weite Strecke mit nur einem Schuh gelaufen. Auf der Straße. Über ein Feld. Oder im Wald.
„Bleib da stehen.“ Jörn hielt das Gewehr mit einer Hand, die andere tastete an der hinteren Tür des Transporters herum. „Wo ist … ach hier.“ Er zog am Hebel und öffnete die Tür. Dann nickte er Heiko mit wissendem Lächeln zu, als wären sie Sechzehnjährige, von denen einer gerade ein Mädchen entjungfert hatte. „Na los, tu sie rein, du perverse Sau.“
Heiko bewegte sich wie in Trance. Das Pfeifen im Ohr tat seinen Teil dazu. Es war jetzt leiser, aber noch da. Er fühlte sich wie im Sommer, wenn man auf einer Wiese bei Vogelgezwitscher die Augen zumachte und langsam einnickte. Vorsichtig platzierte er den toten Körper zwischen großen und kleinen, breiten und flachen Paketen. Ihr Paket kommt heute. Lüge.
Jörn klopfte gegen die Tür des Transporters. „Komm mach, muss kein Kunstwerk werden.“
Von Weitem näherte sich ein knatternder Motor, ein Traktor bestimmt hier draußen. Noch war nichts zu sehen. Jörn blickte in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Er schürzte die Lippen. „Los jetzt, Junge“, sagte er. „Zumachen und dann ab.“
Sie fuhren ein Stück auf der Straße geradeaus, bis Jörn sagte: „Hier rechts ab.“ Ein Waldweg, Forst- und landwirtschaftlicher Verkehr frei. Das Gewehr lag auf Jörns Schoß, das Ende des Laufes stieß einige Male gegen Heikos Oberschenkel. Jörn drehte sich um zur Ladefläche und wieder zurück, sah hoch zum Wagendach und beugte sich nach vorn, als wollte er kontrollieren, ob Heiko die Armaturen ordentlich gewischt hatte. Er lehnte sich zurück und räusperte sich. „Fährst Pakete aus?“
Heikos Mund war trocken, die Zunge klebte am Gaumen.
„Wenn du nicht gerade Kinder fickst, meine ich.“
„Ich-“
„Freund von mir hat einen Schuhladen. Hatte. Vom Urgroßvater bis zu ihm und letztes Jahr pleite. Die Leute kommen rein, probieren welche an, und wenn sie ihre Größe haben, bestellen sie die im Internet, da sind sie billiger.“
Schuhe, du Arschloch. Den Schuh hatte das Mädchen vorher verloren. Ganz sicher. Dieser dreckige Strumpf.
Der Wagen schaukelte, der Weg war uneben und es ging bergauf. Heiko hatte Angst, bei dem Auf und Ab könnte Jörns Finger sich plötzlich krümmen. Ein Schlagloch. Hoppala. Peng. Vielleicht nur ins Bein, vielleicht auch in die Seite. Dieser Alptraum wäre vorbei, aber sein Leben wäre ihm das nicht wert gewesen. Beim Gedanken ans Sterben hätte er sich fast ein zweites Mal in die Hose gepinkelt. Sein Kopf würde aufs Lenkrad sacken, tot, eben hier und jetzt nicht mehr, und der Lieferwagen würde abdriften und vor einen Baum fahren.
Und so gnädig töteten Kugeln nur in alten Filmen. Wahrscheinlich würde es sich anfühlen, als hätte er Rohrreiniger getrunken, während er über Minuten, Stunden vielleicht, an schwarzem Blut und Stücken seiner Innereien erstickte und Jörn neben ihm saß und erklärte, das geschehe so einer perversen Sau nur recht. Schuhe aus dem Internet. Ein paar Meter vor ihnen huschte ein Hase über den Weg.
„Du hilfst ihnen“, sagte Jörn.
Heiko schüttelte den Kopf. „Was?“
„Sagst dir, irgendeinen Job musst du machen. Hättest du was Anständiges gelernt, hättest du jetzt einen anständigen Job.“
„Woher wollen Sie wissen-“
„Halt’s Maul.“ Nachdenklich zupfte Jörn an der Krempe seines Hutes. „Kinderficker wärst du natürlich trotzdem, auch als, was weiß ich, Bauingenieur.“
Heiko sagte etwas. Sein Hals zog sich dabei zusammen, die Worte kamen nicht durch. Der Husten trieb ihm die Tränen in die Augen.
„Hä?“, fragte Jörn.
„Wo fahren wir hin?“
„Sind gleich da.“ Er beugte sich vornüber in den Fußraum, fischte mit links die Urinflasche vom Boden, während der rechte Zeigefinger am Abzug blieb. Vielleicht würde sich so der Schuss lösen. Heikos Eingeweide zogen sich zusammen. Immer noch das Pfeifen im Ohr. Er war froh, als Jörn wieder hoch kam. Der Jäger hatte die Flasche in der Hand und inspizierte sie, glotzte mit dem gesunden Auge hinein, als wäre es ein Fernrohr. „Ist das eine Pissflasche? Mein Alter konnte irgendwann nur noch so. Hab sie oft leergemacht.“
„Das ist eine.“
„Pissflasche?“
„Ja.“
„Und was willst du hier drin damit?“
„Das habe ich doch gesagt!“ Heikos Stimme überschlug sich. „Darum hatte ich die Hose unten, und dann …“ Dann habe ich ein kleines Mädchen getötet. Sie ist tot, weil ich pissen musste.
Jörn warf die Flasche zurück auf den Boden. „Das glaubst du doch selbst nicht.“ Er tastete rechts an der Tür herum, bis er den Knopf gefunden hatte. Das Fenster fuhr zur Hälfte runter. „Hier drin stinkt’s. Hast dir eine ordentliche Ladung in die Hose gedrückt.“ Er zeigte nach vorn. „Siehst du die dicke Fichte da mit dem Pilz?“
Da war ein Baum mit einer Ausbuchtung von der Größe einer Melone. Durch die Mitte verlief ein Schlitz.
„Sieht aus wie ein großes Fötzchen, oder?“ Jörn sagte das sehr ernst. „Du magst sie lieber klein, aber so sieht das aus finde ich, wie ein großes Fötzchen.“
Heiko hielt an.
„Von hier ist es nicht weit.“ Jörn sah in den Wald. „Halbe Stunde.“ Er öffnete die Tür auf seiner Seite und ging vorne um den Transporter herum, das Gewehr auf Heiko gerichtet. Als er die Runde gemacht hatte, öffnete er die Fahrertür. „Wie eben“, sagte er. „Du trägst sie.“
Vollgesogen mit tiefgelber Morgenkaffeepisse wog die Hose schwer und spannte sich über Heikos Oberschenkel, inzwischen nicht mehr warm, sondern kalt. Seine Füße versanken bis zu den Knöcheln im Laub, das raschelte, während er bergauf stapfte. Der Kopf des toten Mädchens baumelte hin und her. Ein paar Mal blieb Heiko stehen, um ihn sicher auf seinem Oberarm zu wiegen. Er wollte nicht, dass sie sich auch noch den Hals brach, selbst wenn sie tot war. Wie einen Sack aus Haut trug er sie, mit kaputten Knochen darin. Seine Lungen brannten und seine Beine auch. Ein paar Mal wurde er langsamer und Jörn drohte, er würde ihn erschießen und für die Wildschweine liegen lassen. „Die fressen alles,“ sagte er. „Pferdescheiße, Kinderficker, alles.“
Heiko hatte zwei Stimmen im Kopf. Die eine sagte, Jörn ist nicht ganz dicht, aber kein Mörder. Die andere sagte, das war es jetzt, das hier sind die letzten Minuten, die letzten Schritte, bergauf stapfen in vollgepissten Hosen mit einem toten Kind auf dem Arm.
Diese zweite Stimme klang kälter, aber ehrlicher. Umso mehr klammerte Heiko sich an den mutmaßlichen Rest seines Lebens, lieber noch ein paar Stunden mit diesen Hosen dieses Kind durch den Wald tragen als ihm ins Nichts zu folgen.
Das Geraschel von Jörns Schritten hinter Heiko verstummte. „Bleib stehen.“
Heiko ließ den Blick schweifen. Bäume und Laub, sonst nichts. Jörn stapfte um ihn herum. Äste knackten unter seinen Gummistiefeln. Einer ragte vertikal aus dem Boden. Jörn zog ihn raus und legte ihn auf die Blätter. Dann ging er in die Knie und hielt das Gewehr wieder mit einer Hand. Mit der anderen tastete er auf dem Boden umher. Eine rostiges Quietschen erklang.
Es war eine Falltür, die Jörn aufzog, während er wieder auf die Füße kam. Gestank schoss in die Luft wie Bier aus einer geschüttelten Dose. Süß und faul traf der Geruch Heikos Magen wie eine Faust. Er würgte.
Jörn lachte. „Jetzt stellst du dich an.“ Er hielt das Gewehr wieder mit beiden Händen und zeigte mit dem Lauf auf das Loch im Boden. „Wirf sie rein.“
Heiko machte zwei Schritte nach vorn, an den Rand der Grube. Er stöhnte auf. Für einen Schrei fehlte die Kraft, für Worte war es zu viel, was er sah. Wie viele er sah. Sieben Stück, wenn er richtig zählte. Von zweien waren nur Knochen geblieben, am besten erhalten war ein Junge in einem Laker’s-Basketball-Hemd. Gelbe Wachshaut war noch über seine Knochen gespannt. Er lehnte an der Wand, die Wände und der Boden waren aus Holz. Am Holz klebten braun-rote Striche. Die Fingernägel des Laker’s-Jungen waren abgebrochen und auch an den Fingern klebte braunes Blut.
Eines der Skelette trug einen Anzug und bewegte sich kurz. Eine Maus kam aus dem Ärmel des Sakkos gekrochen und machte sich davon in eine Ecke, die das so plötzlich hereinscheinende Tageslicht nicht traf.
Heiko sah hoch zu Jörn. „Das kann ich nicht.“
Jörn machte ein erstauntes Gesicht. „Ach, das kannst du nicht?“
„Sie wissen genau, dass ich nichts gemacht habe.“ Und du weißt auch, warum sie ihren Schuh verloren hat und warum sie auf die Straße gelaufen ist wie ein ängstliches Reh.
Die Kadaver dort unten und ihr entsetzlicher Gestank. Eine Jauchegrube des Todes. Heiko wollte keiner von ihnen sein. Er hatte Angst gehabt spätestens, seit Jörn geschossen hatte, aber ihm war nicht klar gewesen, wie sehr er wirklich leben wollte, nicht so sehr wie jetzt, da er sah und roch, wie das war, wenn man nicht mehr atmete, das Herz nicht mehr schlug, der Darm keine Big Macs mehr in Scheiße verwandelte. Eine Frau in McDonald’s-Uniform lag dort unten, eine schwarze Frau war sie gewesen, nach dem zu urteilen, was noch übrig war. Ihr Mund stand offen, die Lippen hatten sich weit über die Zähne zurückgezogen. Es sah aus wie ein Grinsen. Spring, schien sie Heiko aufzufordern. Du bist einer von uns, das sehe ich doch.
Wieder schüttelte Heiko den Kopf. Er meinte damit die McDonald’s-Frau, aber Jörn verstand es anders und legte an.
Heiko fuhr zusammen. „Warte!“ Leben, ich will leben! „Ich mache es!“
Jörn nickte, der Lauf sank wieder ein Stück. Wenn du sie reingeworfen hast, knallt er dich ab. Noch ein Stück für seine Sammlung.
„Ich mache es.“
„Dann mach auch.“
Heiko holte noch einmal tief Luft und beugte sich vornüber. Er ließ das Kind nicht einfach fallen. Stattdessen warf er es, so fest er konnte. Jörn schoss, überrascht. Der kleine Körper zuckte in der Luft, bevor er gegen den Jäger prallte und in die Grube fiel.
„Nicht ganz dicht, Kinderficker?“, schrie Jörn und zog wieder an diesem Hebel am Gewehr, klack-klack, und Heiko dachte Renn, und du hast sie im Rücken, die Kugel im Rücken, du hast sie im Rücken!
Er machte einen Satz über die Grube und bekam Jörn an der grünen Jägerjacke zu packen. Eine Sekunde überlegte die Schwerkraft, in welche Richtung sie die beiden werfen sollte, dann spürte Heiko die Leere unter sich, sein Magen machte einen Salto. Im Sturz krachte Jörn mit dem Gesicht auf die Kante der gegenüberliegenden Grubenseite.
Totes Fleisch dämpfte Heikos Aufprall. Jörn hatte nicht so viel Glück. Ein lautes Knacken hallte durch die Grube.
Kurze Stille, Stille und Gestank, so dicht hier unten, als könnte man ihn anfassen. Überall krabbelte Ungeziefer, Maden wuselten auf Menschenresten.
Heiko kam auf die Beine, wartete auf den Schock des Schmerzes, aber alles schien heil geblieben an ihm. Er fühlte sich benommen und fragte sich, ob es vom Moschusgeruch in der Grube kam oder vom Sturz. Magensäure schwappte in seinen Mund. Er würgte und sie tropfte ihm vom Kinn.
Jörn lag auf dem Bauch. Seine Fingernägel kratzten über den Boden, als wollte er sich nur mit der Hand voran ziehen, auf das Gewehr zu, das vor ihm lag. Der Kolben lag auf dem Schenkel der McDonald’s-Frau. Auf der Hose und dem grünen Pullover mit ihrem Namensschild und den goldenen Bögen darauf hatte sie Flecken vom Verwesen.
Jörn streckte den Arm, ein Zentimeter Leichenluft lag zwischen seinen Fingern und der Waffe. Heiko wollte einen Satz machen, aber dann erkannte er, dass das nicht nötig war. Bis auf die wie von selbst kriechende Hand war Jörns Körper fast vollkommen leblos. Aus seinem Mund quoll dickes Blut, Stücke von Zähnen trieben darin. Den Hut hatte er verloren. Die Haare, mit denen er wohl sonst die Glatze überkämmte, hingen ihm links das Gesicht runter bis zum Kinn.
Heiko machte einen Schritt. Schmerz stach in seine Hüfte und er stöhnte auf. Er setzte seinen Weg fort, hielt das linke Bein gerade und zog es hinterher. Es waren nur drei Schritte. Wegen des Schmerzes konnte er auch nur ein Bein beugen, als er sich nach dem Gewehr bückte. Eine umständliche Bewegung, aber Jörn bewegte sich noch viel umständlicher, gar nicht eigentlich. Heiko hatte Zeit.
Er hielt das Gewehr locker an der Seite. Aus dieser Entfernung gab es keinen Grund, anzulegen und zu zielen. Abgesehen davon, dass er das noch nie gemacht hatte. Nur ein halber Meter zwischen dem Ende des Laufs und Jörns Gesicht. Was sollte da schiefgehen?
Jörn spuckte Blut aus. „Und jetzt?“ Es war kaum zu verstehen, aber Heiko verstand. Und nickte.
Jörn grinste. Eine Blutblase vor seinem Mund platzte und gab den Blick auf seine abgebrochenen Zähne frei. „Dann mach. Im Bau bist du dran als Kinderficker. Hier unten wäre besser gewesen für dich.“
Heikos Finger krümmte sich über dem Abzug. Dann sah er von einem Körper zum anderen. „Alles Kinderficker?“
Jörn schüttele den Kopf und machte einen erschöpften Augenaufschlag. „Ein paar. Drogensüchtige auch. Schwule. Moslems. Irgendwann muss es einer machen.“
„Was machen?“
„Den Müll wegbringen.“ Er spuckte Blut. „Das ist eine Müllkippe hier, verstehst du das nicht?“
Heiko schlurfte einen Schritt auf Jörn zu und presste ihm den Lauf gegen die Stirn. Jörns Finger legten sich um Heikos Knöchel. Es war kein fester Griff. „Mach doch“, sagte er. „Ich-“
Heiko zog den Abzug. Nach dem Schuss in der Grube war auch das Pfeifen weg, er hörte gar nichts mehr. Mit einem Loch in der Stirn sackte Jörns Kopf auf den Boden. Die hartnäckige Hand zuckte noch eine Weile.
Heiko ließ das Gewehr fallen, humpelte unter die Falltür und streckte den Arm danach aus. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, trotzte dem Schmerz in der Hüfte. Zwischen seinen Fingern und dem Weg nach draußen war mehr Luft als zwischen Jörns Fingern und dem Gewehr gelegen hatte, dem unerreichbaren Gewehr. Er brauchte eine Idee, eine richtig gute Idee, so wie eine Plastikflasche aus dem Krankenhaus, dass man zum Pissen gar nicht aussteigen musste.
Er fühlte sich müde wie bei einer Grippe. Wahrscheinlich würde er bald ohnmächtig werden. Da war noch so viel im Transporter gewesen, die Tour hatte ja gerade erst angefangen. Entweder fiel ihm etwas ein oder viele Leute würden heute vergebens auf ihre Pakete warten.