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{[Staub]}
Staub
Joe Palmer hatte innerhalb von zwanzig Ehejahren nie einer anderen Frau hinterher geschaut. Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass die werte Marsha Palmer nun tot und steif in der Tiefkühltruhe in einer Nische des Wohnzimmers liegt. Er macht sich seit Langem nichts mehr aus Frauen - sein Hobby lässt dafür keinen Spielraum. Joe ist Staubfarmer.
Nur als unsichtbare Eindringlinge dürfen wir ihn in seinem privaten Mikrokosmos im Keller besuchen, denn er lässt seit Jahren niemanden mehr in seine kleine Schatzkammer. An jenem Tag, an dem wir Joe Besuch abstatten, liegt Marsha schon drei Wochen zwischen auftauenden Schweinehaxen und aufgedunsenen Gänseleibern, die gierig ihr geronnenes Blut aufsaugten.
Sie ist mit ihren eins neunundsiebzig nicht unbedingt eine Hühnin gewesen, doch weigert sich die anderthalb Meter lange Kühltruhe trotzdem, die ungebetene Besucherin in ihrer vollen Größe zu beherbergen. Ihre blau angelaufenen Füße, die noch immer in den spießigen blau-roten Pantoffeln trotzig in der Luft schweben, verhindern, dass die Tür ganz zuklappen und die Kühltrue ihrer Aufgabe fachgeregt nachkommen kann. Maden tummeln sich im Fleisch der toten Schweine und Gänse und Ehefrauen.
Es stinkt nach Tod auf Eis.
Joe hat sich längst an den bestialischen Gestank gewöhnt. Wir sollten es ihm schnell gleich tun oder uns zu mindestens die Nasen zu halten, wenn wir ihn heute bei der Ernte Gesellschaft leisten wollen. Seine Besuche an der Oberfläche sind kurz und Zweck orientiert, denn Staubfarmer zu sein, verlangt ihm viel Zeit beim Pflegen der unterirdischen Staubfarm ab.
Mit geschlossenen Augen entriegelt Joe das Schloss der Kellertür, um sich vor dem schreienden Sonnenlicht an der Oberfläche zu schützen. Vorsichtig schließt er die Pforte zu seinem eigenen Reich wieder hinter sich ab. Die Gefahr, dass jemand in den Keller eindringen und mit einem Besen der Farm zu Leibe rücken könnte, ist für Joe immer präsent. Als Profi ist er jedoch auf alle Eventualitäten vorbereitet und hat jemand und Besen zum Wohle seiner staubigen Schützlinge auf Eis gelegt. Aber wir geben Joe recht: man kann nie vorsichtig genug sein!
(Schließlich konnten wir uns ja auch unbemerkt hinein schleichen.)
Psst! - es geht los!
Joe legt sich auf den Boden und öffnet erst jetzt wieder die blau unterlaufenen Augen. Vor einigen Tagen noch lief er nichts ahnend in das helle Licht, das ihn strafend und wohlwissend seines Ehebruches grell in die Augen stach. Nur die Sonne und er wissen, was mit seiner Frau passiert ist. Wir können lediglich spekulieren, obwohl die Beweisstücke für sich sprechen. Er robbt sich vorbei an dem Treppenabsatz, vorbei an der rot-braunen Lache geronnenen Ehefrauenblutes neben der Nische mit der Kühltruhe, hin zum Telefonschrank. Der blaue Teppich passt herrlich zu Marshas Schuhen. Wir dürfen sie zu ihrem guten Geschmack beglückwünschen.
Das rostfarbene Pulver klammert sich vorwurfsvoll an den dürren Beinen des Mannes fest. Anklagend, versucht es ihn an sein Gelübde zu erinnern, das er vor rund zwanzig Jahren in einer schäbigen, texanischen Kapelle ablegte. Doch dies ist unwürdiger Staub. Er wischt ihn beiläufig weg. Joe möchte den weichen, flockigen Staub haben, der sich nach einigen Tagen Wirbelei gerne auf Holz- und Glasmöbeln eine Ruhepause gönnt, um dann beim nächsten Windstoß wieder auf Reise zu gehen.
Die tiefe Wintersonne späht wie ein Hirte auf der Suche nach zwei verlorenen Schäfchen durch das dreckige Fenster. Schäfchen eins versteckt sich auf dem Boden, um ihren strafenden und stechenden Blicken zu entgehen. Schäfchen zwei liegt in ihrer Kühltruhe
(naja, sie versucht es zu mindestens).
Das Wohnzimmer ist durch einen gold-braunen Schleier verhangen, der vom Gestank des Mordes dunkel verfärbt wird und sich zunehmend auf Möbel und Boden senkt. Einem Brautschleier gleich, wehen ihm Schwärme von Staubwolken. Um seine Beute nicht zu verscheuchen, bewegt er sich langsam aber zielsicher.
Dass dabei trotzdem viel Staub vom Boden aufschreckt und verscheucht wird, stört ihn nicht mehr. Er weiß jetzt, wo er den besten Staub ernten kann. Als die Sonne, müde von ihrer Suche, grell durchs Fenster stöhnt, verlieren wir Joe kurz aus den Augen. Die Luft ist stickig und von Luftschlössern aus Staub bevölkert, die von der Morgensonne erhellt, nicht minder leuchten als Las Vegas bei Nacht. Wir schwimmen in einem Meer unendlicher Helle und Undurchdringbarkeit. Joes Beispiel folgend, legen wir uns auf den Boden, um dem schrillen Glimmern zu entkommen – und da entdecken wir auch unseren Hausherren wieder. Er ist bereits vor dem Telefonschrank angekommen und beginnt mit der Ernte des Tages.
Behutsam wie eine Mutter, die zum ersten Male ihr Neugeborenes nach Stunden der Wehen in den Armen halten darf, streicht er über die glatte Oberfläche des Schrankes. Staub sammelt sich in seinen knochigen und knotigen Klauen. Nach wenigen Minuten ist die Arbeit vollbracht. Die drei Ebenen des Möbelstücks sind nun abgeerntet und liegen für die nächste Woche brach. Joe klatscht seine Hände, deren Innenseiten grau vom Staub sind, lautlos zusammen und reibt diese an einander wie ein Kind, das im Sandkasten eine Wurst zwischen den Händen rollt.Joe Palmer ist Stolz auf seine Leistung und betrachtet voller Vorfreude den gesponnenen Faden aus Staub.
Nach einigen Momenten der Betrachtung krächzt er: Giraffe! Wir erschrecken beim Klang der heiseren und trockenen Stimme des Mannes. Wenn die Wüste Sahara mit uns reden wollten, dann mit der Stimme von Joe Palmer. Weder seine Frau in der Tiefkühltruhe noch die Möbel noch die Sonne reagieren auf seine Worte. Giraffe, wiederholt er lachend, wobei er seine grau-gelben Zähne und das weiße Zahnfleisch entblößt.
Den Impuls, vor Freude in die Hände zu klatschen, muss er unterdrücken. Wir bewundern seine Selbstdisziplin und klopfen ihm schwerelos auf die Schulter. Es gibt Tage, da er nicht einmal genug Material für ein Schwein oder ein kleines Fohlen zusammen klauben kann, aber eine Giraffe – eine ganze Giraffe! – das ist doch etwas! Ein Grund zur Freude.
Joe Palmer verstaut den Staubfaden sachte in der linken Hand, schließt die fünf Riegel seiner Finger über seinen Schatz und macht sich für den Rückweg bereit. Er achtet darauf, sich beim Umdrehen keinen beißenden Lichtsplitter in die Augen stechen zu lassen. Vor dem Totenlager seiner Frau hält er kurz an, um zu trinken.
Das kondensierte Wasser der halboffenen Kühltruhe tropft auf das von Joe ausgebreitete Handtuch. Ein Geburtstagsgeschenk von den Kindern, die seit Jahren nur noch aus Pflichtgefühl einen Brief zu Joes und Marshas Geburtstagen, Weihnachten und Thanksgiving schicken. Er lehnt sich mit dem Rücken gegen die Truhe, wachsam nicht mit den kalten, blauen (und toten) Füßen seiner Frau in Berührung zu kommen.
Joe ergreift das Tuch mit der rechten Hand und presst die Flüssigkeit in seinen Mund. Die Linke mit der wertvollen Ernte
(eine Giraffe – eine ganze Giraffe!)
streckt er dabei so weit wie möglich von der gefährlichen und Leben spendenden Feuchtigkeit weg. Aus feuchtem Staub lassen sich im besten Falle noch verkorkste Schneemänner erschaffen, die jedoch erfahrungsgemäß nach weniger als drei Tagen schmelzen würden und dabei die halbe Staubfarm verunreinigen würden. Aus Liebe zu seiner Staubfarm - Joe's Dustlands - muss Joe das große Bedürfnis nach erfrischendem Wasser und gierigen Schlücken unterdrücken.
Ein Käfer kriecht an ihm vorbei. Joe fängt ihn mit seiner knorrigen Rechten und lässt ihn lebendig seine Speiseröhre hinunter krabbeln. Einen Schluck Wasser, hin und wieder einen kostlichen Krabbelkäfer oder ein Spinnentierchen und die Liebe zu einer sinnvollen Arbeit - was braucht ein Mann mehr?
(Hat das Ding in der Kühltruhe gerade geseufzt? Schaurig! Wir klopfen Joe auf die knochige Schulter, um darauf hinzuweisen, dass wir weiter wollen.)
Joe ist wieder für einen ganzen Tag gestärkt – er nahm drei vorsichtige Schlücke aus dem Handtuch und aß zwei weitere Käfer und eine kleine Spinne als wir nicht aufgepasst haben. Aber das, was ihm die meiste Kraft gibt, ist der Staubfaden in seiner linken Hand, dem er endlich seine verborgene Gestalt entlocken will.
(Eine Giraffe – eine ganze Giraffe!, hallt es immer wieder durch die engen Korridore seines Verstandes.)
Er legt den ekligen Lappen wieder auf die nasse Stelle im Teppich, greift sich mit der gleichen Handbewegung noch eine kleine Assel und setzt seinen Rückweg fort.
An der Tür angekommen, beginnt die schwierigste Aufgabe: Joe muss einhändig das Schloss entriegeln, die Kellertür öffnen und dann in den dunklen Spalt hinein schleichen ohne dabei den Staub im Wohnzimmer aufzuwirbeln. Wichtiger ist jedoch, dass er beim Öffnen der Tür keinen Tornado im Keller und der geheimen Welt da unten erzeugt, welcher die Dustlands mit einem einzigen Hauruck verwüsten könnte wie ein Kind, das die Seiten eines Buches, das es nicht versteht, vor Wut zerreißt und als Fetzen in alle Winde verstreut. Doch Joe ist bereits geübt, und in der Lage die geheime Zauberwelt im Keller zu betreten ohne beim Übergang in die andere Dimension Schaden anzurichten oder seine Beute in der linken Klaue zu verlieren.
Er zwängt seinen Skelettkörper durch den engen Riss, aus dem ihm die Dunkelheit zuruft, zieht dabei in einem Künststück ungeahnter Fertigkeit den Schlüssel aus dem äußeren Schloss und führt ihn mit der gleichen Eleganz in das innere Schlüsselloch ein und verriegelt die Tür. Auf dem Knauf am Ende des Treppengeländers starrt ihn eine Eule mit großen Augen an. Wir, die wir uns heimlich mit in den Keller geschlichen haben
(was eine große Leistung war, wir dürfen uns auf die Schulter klopfen!),
sehen natürlich keine Eule, sondern nur eine daumengroße Staubflocke auf dem Treppenknauf. Aber wir sind schließlich auch keine Experten. Die Eule begrüßt ihn gurrend, fliegt einmal um ihren Herrn und Schöpfer herum und landet wieder auf ihrem Stammplatz.
(Für uns sieht es aus, als würde sie einfach stumm auf ihrem Ausguck sitzen bleiben.)
Abgelenkt vom Versuch, die Eule auf uns aufmerksam zu machen, verlieren wir unseren Gastgeber im dunklen Keller erneut kurz aus den Augen. Wir tun mal so, als hätte er uns eingeladen - das macht die Sache einfacher. Joe Palmer sitzt bereits auf seinem dreibeinigen Schemel an einer großen staubigen Holzplatte, die einst Schauplatz eines kleinen Modellbaubahnhofes war. Einer Beschäftigung, der er schnell überdrüssig wurde. Joe wollte nie Lokomotivführer werden. Sein Kindheitstraum war eh und je das Farmen.
Den grauen Mundschutz aufsetzend, legt er den geernteten Staub auf das Holz und schaltet die kleine, abgedunkelte Glühbirne an. Joes Pendant zur garstigen Sonne da draußen. Neugierig schauen dicke Staubschweine und dünne Ziegen mit Fusselbärten bei der Geburtshilfe zu. Giraffe, brubbelt er in den graunen Stoff, worauf hin die Schweine
(für uns wie gewohnt nicht erkennbar)
zustimmend grunzen und die Pferde zu galoppieren beginnen. Der Bauer und seine Frau beginnen zwischen den grauen Gänsen zu tanzen. Er heißt Josef Palmer und die Frau heißt Marshalita und schläft mit dem Bauern in einem Staubbett und nicht im Gefrierfach.
Unser Joe trennt den Faden mit chirurgischer Präzision in zwei Teile im Verhältlis des goldenen Schnittes. Den längeren Teil zerlegt er in fünf kleinere Fäden gleicher Länge und formt daraus Körper und Beine. Der kürzere Teil wird an einem Ende abgeknickt und mit dem anderen Ende am Rumpf befestigt. Nach wenigen Minuten des Feinschliffs ist Joe mit seiner Arbeit zufrieden. Die Giraffe findet ihren Platz in einer Herde aus Schweinen, Zebras, Krokodilen und Hunden. Sie wird sofort als Familienmitglied willkommen geheißen – in den Dustlands gibt es keine Fremdlinge. Nur Freunde. Jeder wird so akzeptiert und geliebt wie er ist, egal ob mit Rüssel, Streifen oder langem Hals.
Fröhlich tanzen die Tiere durcheinander und selbst der Bauer nimmt sich heute frei und verschwindet mit seiner Frau zu einem Schäferstündchen in einer der Staubbaracken. Auch unser Freund Joe
(er ist uns bereits so sympatisch, dass wir ihn als Freund bezeichnen wollen)
wird durch die allgemeine Euphorie mitgerissen. Er beginnt auf seinem Schemel zu rackeln und wackeln, zu zippeln und zappeln und schließlich zu tanzen. Nach einigen Minuten wird er dessen überdrüssig und legt sich müde auf die Holzplatte vor sich. Der letzte Käfer liegt ihm wohl noch schwer im Magen, spekulieren wir.
Wir ahnen bereits, was nun folgen muss und lassen Joe und seine Freunde für diesen intimen Moment alleine.
Als Joe Palmer seinen letzten Atemzug durch seine staubigen Zähne aushaucht, wirbeln die Tiere in wilder Trauer durcheinander. Wir glauben zu sehen wie das Allerlei aus Staubflocken sich wie ein Leichentuch über unseren nun toten Gastgeber legt. Aber wir wissen es ja inzwischen besser: sie umarmen ihn. Wie Kinder, die dem sterbenden Vater am Totenbett die letzte Ehre erweisen. Als letzte Geste setzten wir ihm noch die Treppeneule auf die Schulter und verlassen den Keller. Wir danken Joe für diese ehrlichen Einblicke in sein Leben. Vor allem sind wir dankbar, dass er den Kellerschlüssel in der Tür stecken ließ, sodass wir ihn in dieser schweren Stunde nicht noch mehr zur Last fallen.
Beim Verlassen des Hauses winken wir zum Abschied noch einmal Joe (mit seiner Staubdecke zugedeckt im Keller) und seiner Frau Marsha (mit ihrem Besen in der Kühltruhe) zu und bedanken uns für ihre Gastfreundschaft.
09.12.2006/ 20.03.2007