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Stummer Freund
Das Erste, was ich dich fragte, war: Warum müssen wir sterben? Das heißt nicht, dass ich nicht zuvor schon mit dir gesprochen hätte. Es war nur die erste Frage, die ich dir stellte. Warum weiß ich nicht. Als Kind fühlte ich mich oft unvollständig, aber nicht, wenn ich mit dir sprach. Vielleicht wünschte ich mir, deine Stimme zu hören. Vielleicht wollte ich sicher sein, dass du wirklich da bist.
Als Kind fürchtete ich meine Mutter, davon sprach ich oft. Ich erzählte dir, dass ich glaubte, keine Liebe in mir zu haben und dass ich glaubte, alles an mir ist falsch. Heute weiß ich, dass es nicht an mir lag. Kinder sollen ihre Eltern lieben, aber manchmal machen die Eltern es ihren Kindern nicht leicht. Aber das weißt du sicher. Erinnerst du dich noch daran, als meine Mutter eines Nachts mit bleichem Gesicht und weit aufgerissenen Augen in mein Zimmer stürmte? Ihr Blick war fahrig. Sie brauchte mehrere Minuten, um sich zu beruhigen, und als sie mich endlich ansah und fragte, ob jemand bei mir im Zimmer ist, verneinte ich. Es war keine Lüge, denn ich wusste, dass sie dich nicht sehen kann. Ich wusste, dass sie nicht dich meinte.
Ich war kein einfaches Kind. Es gab nur selten Momente, in denen ich lachte und noch seltener waren Momente, in denen ich weinte. Meine Mutter schrie mich oft an. Sie meinte, ich sei kalt und desinteressiert und dass es nichts gebe, was mir wichtig sei. Doch die Wahrheit ist, dass ich nicht mit der Vielzahl an Emotionen umzugehen wusste, die tagtäglich in meinem Inneren tobten. Auch heute liebe ich die Welt, die ich durch meinen Großvater schätzen und durch dich verstehen lernte. Meine Eltern haben das nie gesehen. Sie sahen nur die Zukunft der Menschen. Sie hatten nichts übrig für meine Fantasie und irgendwann, da stellte ich sie ab. Anfangs, um sie glücklich zu machen, später, um mich an meinem eigenen Unglück zu laben. So ist das eben mit den Dingen, die uns nicht guttun. Am Anfang machen wir sie für andere und irgendwann, ist es zu spät. Irgendwann kostet es einfach viel zu viel Kraft, wieder damit aufzuhören.
Ich glaube, ich war fünf, als ich dich fragte, warum wir sterben müssen, und ich erinnere mich zu gut an die Enttäuschung, die ich verspürte, als du mir nicht geantwortet hast. Erst da fiel es mir auf. Egal, was ich dir erzählt habe, egal wie verzweifelt ich gewesen war, du hast nie in Worten zu mir gesprochen, und ich begriff, dass sich das auch niemals ändern würde. Zu diesem Zeitpunkt fingen auch die Albträume an. Es war nichts, das der Realität entsprach, nur dunkle Gestalten. Sie kamen immer wieder und töteten meine Eltern Nacht für Nacht. Ich hatte große Angst davor, einzuschlafen. Deshalb schlich ich mich zu meinen Eltern ins Bett, aber sie verloren schon bald das Verständnis dafür. Und als ich eines Tages den Mut fand, sie zu fragen, warum wir alle sterben müssen, bekam ich von ihnen eine noch schlimmere Antwort als die, die ich von dir erhalten habe: Das ist halt so, frag‘ nicht solche Sachen.
Die Zeit verging. Ich wurde älter und eines Tages bewältigte ich meine Albträume. Leider änderte sich dadurch nichts an der Realität des Todes. Ich war acht, als ich ein Mädchen traf, das meine Gedanken auf ein noch frustrierenderes Thema lenkte. Sie fragte mich: „Und was passiert mit dir, wenn du tot bist? Wer bist du dann?“ Diese Frage bohrte sich in mein Innerstes, sie fraß mich regelrecht auf und es gab niemanden, an den ich mich damit wenden konnte. Meine Eltern empfanden solche Fragen als weltfremd – eine Tatsache, die ich bis heute nicht verstehe – und du, mein stummer Freund, du wärst doch auch nur stumm geblieben. Damals konnte ich das nicht wertschätzen.
Ich war dreizehn, als ich mich damit abgefunden habe, dass ich erst sterben muss, um zu erfahren, was nach dem Tod passiert. Ein Teil von mir konnte es kaum erwarten. Glücklicherweise hatte ich Angst davor, zu verlieren, was ich liebte, und ich glaube bis heute, dass es das ist, was mich am Leben gehalten hat. Doch die Zeit war grausam, grausamer noch, als du es bist. Mich beunruhigte der aufdringliche Gedanke des Verlustes derer, deren Tod immer näher rückte. Ich wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis meine Großeltern aus dieser Welt fortziehen und mich zurücklassen würden.
Meine Beziehung zu dir war gestört. Ich wollte mich mit anderen Dingen beschäftigen, mit spirituellen Entitäten, die mir auch antworten konnten, wenn ich sie nach etwas fragte und so beschäftigte ich mich mit Geistern. Ich sah darin eine reale Chance über den Tod hinaus mit all jenen, die ich liebe, zu kommunizieren. Ich verschwendete so viel Energie darauf und glaubte so fest daran, dass ich vergaß, die verbleibende Zeit mit meinen Großeltern zu nutzen.
Und die Jahre vergingen, ohne dass ich begriff, warum es mir so viel besser ging als Kind. Mich plagten damals die gleichen Fragen und ich hatte ebenso wenig Antworten und doch war es mir gut gegangen. Aber heute, mein stummer Freund, und das kommt ein wenig plötzlich, das gebe ich zu, heute erkenne ich, deinen Wert. Ich habe einige Zeit mit Menschen verbracht, die Fragen haben wie ich. Die sich Antworten ersehnen, wie ich. Anfangs machte es mir Angst, das kann ich nicht bestreiten. Ich hatte das Gefühl, ich wäre ihnen eine Antwort schuldig, aber die meisten wollen einfach nur, dass man ihnen und ihren Gedanken lauscht, dass man ihnen zuhört, und dann sind sie schon zufrieden. So zufrieden, wie ich es war, damals als Kind mit dir.
Stummer Freund, ich habe dich so oft dafür verflucht, dir so oft die Schuld dafür gegeben, dass es mir schlecht ging. Aber heute glaube ich, dass es nicht an dir lag. Du hast mir immer zugehört, nur leider war da sonst niemand, der Wert gelegt hätte auf meine Gedanken und auf das, was ich zu sagen hatte. Ich glaube, dass ich irgendwann verlernte, zu dir zu sprechen, weil ich nicht mehr wusste, wie es sich anfühlt, wenn jemand einfach nur zuhört. Wenn jemand da ist und lauscht.
Stummer Freund, ich hoffe, dass meine Worte dich erreichen. Ich hoffe, dass du auch heute noch zuhörst, nicht nur mir, sondern auch all den anderen Kindern und Menschen, die alleine sind und niemanden sonst haben, der ihren Gedanken, Wünschen und Ängsten lauscht.