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Sturmspaziergang
Kalter Wind fegt um die Häuser, läßt Blätter wirbeln und Haare wehen. Kalt und feucht von Nebel ist die Welt, alle Wärme scheint ihr entzogen. Wer kann, bleibt zuhause, kocht sich Tee und setzt sich wärmesuchend vor den Kamin, lauscht dem prasselnden Knacken des Holzes, welches seine über Jahrzehnte gesammelte Lebensenergie nun in wenigen wärmespendenden Minuten wieder hergibt, um eine Seele und ein paar klamme Finger aufzutauen.
Mein Tee verbrüht mir fast Lippen und Zunge, so heiß versuche ich, ihn hinunterzustürzen. Meine Finger klammern sich um den dicken Tonbecher, der mich schon durch meine Kindheit begleitete, meine Augen schauen über den Rand, meine Seele will in den Sturm hinaus.
Noch einen Schluck oder zwei, dann bin ich gewappnet. Ziehe Pullover und Mantel an, wollene Socken und dicke Schnürstiefel. Den Tee gieße ich in eine Thermoskanne um. So ausgerüstet kann ich der Welt trotzen, selbst wenn sie gerade untergeht.
Merkwürdige Vorstellung: Ich stehe allein im Weltuntergang, Blitz und Donner um mich her und eine gigantische Welle, die alles verschlingt – nur mich nicht, denn ich bin immun gegen die Wirren der Welt. Mit einem leisen Seufzen kehre ich zeitweilig in die Gegenwart zurück, packe mein Bündel und wage mich vor die Tür.
Der Wind schwillt an, beginnt zu tosen, die Blätter werden schneller, reißen von den Zweigen und segeln um mich her, ein letzter Totentanz vor dem Verfall. Meine Haare wollen mit ihnen spielen, wollen fliegen, frei sein, doch ich bändige sie kurzerhand, winde ein Haargummi fest hinein, auf dass mir keines entkommt. Hoffnungslos, sie entziehen sich mir scharenweise. Meine Schritte lenken mich zum Meer, ich höre die Brandung schon brüllen, lange bevor ich sie sehen kann. Seewind, welcher Wellenberge und Veränderungen mit sich bringt, braust über mich hinweg. Ich kämpfe mich Schritt für Schritt gegen ihn an, ringe um jeden Meter, den ich näher ans Wasser komme, überwinde den Deich, auf dessen Grat mir der Wind mit aller Kraft ins Gesicht schlägt und sehe die ganze Schönheit dieser endlos erscheinende Fläche vor mir.
Ich laufe, nun quer zum Wind und parallel zur Wasserkante, den Strand entlang. Hier und da verweile ich, um eine besonders schöne Muschel aufzuheben, einen Stein mit Loch oder etwas, das vielleicht Bernstein sein könnte. Doch mit dem Letzten habe ich heute kein Glück, nur Flinte liegen hier.
An einer leicht geschützten Stelle schlage ich mein Lager auf, setzte mich in den Sand, trinke Tee und lasse meinen Gedanken und meinem Stift auf dem Papier freien Lauf. Erst, wenn mein Kopf wie leergefegt erscheint, kommen die Gedanken, die Hoffnung und Erlösung bringen. Erst, wenn die Trauer überwunden ist, die Leere und Einsamkeit meiner Seele nur noch durch einen Schleier erscheinen, gedämpft wie von Watte, erst dann kann der neue Hoffnungsschimmer sich seinen Weg bahnen und Freiraum schaffen für alles Neue, was auf mich zukommt. Noch bin ich nicht so weit, doch werden meine einsamen Spaziergänge voller Wind und Tee und Frösteln mich dorthin bringen, wenn ich nur lange genug ausharre.
Dann werde ich wie ein Phönix der Asche der Vergangenheit entsteigen und voller Mut in ein neues Leben treten.
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14. September 2002