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Sturmspaziergang

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23.08.2001
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Sturmspaziergang

Kalter Wind fegt um die Häuser, läßt Blätter wirbeln und Haare wehen. Kalt und feucht von Nebel ist die Welt, alle Wärme scheint ihr entzogen. Wer kann, bleibt zuhause, kocht sich Tee und setzt sich wärmesuchend vor den Kamin, lauscht dem prasselnden Knacken des Holzes, welches seine über Jahrzehnte gesammelte Lebensenergie nun in wenigen wärmespendenden Minuten wieder hergibt, um eine Seele und ein paar klamme Finger aufzutauen.
Mein Tee verbrüht mir fast Lippen und Zunge, so heiß versuche ich, ihn hinunterzustürzen. Meine Finger klammern sich um den dicken Tonbecher, der mich schon durch meine Kindheit begleitete, meine Augen schauen über den Rand, meine Seele will in den Sturm hinaus.
Noch einen Schluck oder zwei, dann bin ich gewappnet. Ziehe Pullover und Mantel an, wollene Socken und dicke Schnürstiefel. Den Tee gieße ich in eine Thermoskanne um. So ausgerüstet kann ich der Welt trotzen, selbst wenn sie gerade untergeht.
Merkwürdige Vorstellung: Ich stehe allein im Weltuntergang, Blitz und Donner um mich her und eine gigantische Welle, die alles verschlingt – nur mich nicht, denn ich bin immun gegen die Wirren der Welt. Mit einem leisen Seufzen kehre ich zeitweilig in die Gegenwart zurück, packe mein Bündel und wage mich vor die Tür.

Der Wind schwillt an, beginnt zu tosen, die Blätter werden schneller, reißen von den Zweigen und segeln um mich her, ein letzter Totentanz vor dem Verfall. Meine Haare wollen mit ihnen spielen, wollen fliegen, frei sein, doch ich bändige sie kurzerhand, winde ein Haargummi fest hinein, auf dass mir keines entkommt. Hoffnungslos, sie entziehen sich mir scharenweise. Meine Schritte lenken mich zum Meer, ich höre die Brandung schon brüllen, lange bevor ich sie sehen kann. Seewind, welcher Wellenberge und Veränderungen mit sich bringt, braust über mich hinweg. Ich kämpfe mich Schritt für Schritt gegen ihn an, ringe um jeden Meter, den ich näher ans Wasser komme, überwinde den Deich, auf dessen Grat mir der Wind mit aller Kraft ins Gesicht schlägt und sehe die ganze Schönheit dieser endlos erscheinende Fläche vor mir.
Ich laufe, nun quer zum Wind und parallel zur Wasserkante, den Strand entlang. Hier und da verweile ich, um eine besonders schöne Muschel aufzuheben, einen Stein mit Loch oder etwas, das vielleicht Bernstein sein könnte. Doch mit dem Letzten habe ich heute kein Glück, nur Flinte liegen hier.
An einer leicht geschützten Stelle schlage ich mein Lager auf, setzte mich in den Sand, trinke Tee und lasse meinen Gedanken und meinem Stift auf dem Papier freien Lauf. Erst, wenn mein Kopf wie leergefegt erscheint, kommen die Gedanken, die Hoffnung und Erlösung bringen. Erst, wenn die Trauer überwunden ist, die Leere und Einsamkeit meiner Seele nur noch durch einen Schleier erscheinen, gedämpft wie von Watte, erst dann kann der neue Hoffnungsschimmer sich seinen Weg bahnen und Freiraum schaffen für alles Neue, was auf mich zukommt. Noch bin ich nicht so weit, doch werden meine einsamen Spaziergänge voller Wind und Tee und Frösteln mich dorthin bringen, wenn ich nur lange genug ausharre.
Dann werde ich wie ein Phönix der Asche der Vergangenheit entsteigen und voller Mut in ein neues Leben treten.

______________
14. September 2002

 

Hallo chaosqueen!

Leider weiß ich nicht welche Art von Trauer das Mädchen bewältigen muss. Aber vielleicht ist es auch gar nicht wichtig. Was immer es ist, es schmerzt noch. Und deshalb geht sie, ist in Bewegung, ihr inneres Aufarbeiten sucht eine Parallele im äußeren Gehen. Beschrieben hast du es sehr schön, der anlandige Wind (ein völlig neuer Begriff für mich)der Veränderungen bringt. Aber da ist noch der Totentanz der Blätter und die Frau, die noch allein dem Weltuntergang trotzt. Aber das Wissen ist da, sie wird wiederkehren mit einer Kraft wie nie zuvor. Das alles hast du gut rübergebracht.

Lieben Gruß schnee.eule

 

Hej schnee.eule!

Danke für die nette Kritik! :)
Um welchen Schmerz es geht, weiß ich auch nicht so genau, der Text ist einfach so entstanden, quasi aus meinen Fingern geflossen...
Lieben Gruß,

chaosqueen :queen:

 

Hallo chaosqueen,

Deine Bilder haben mich veranlaßt, meine Jacke anzuziehen. Den Sturm im großen Zusammenhang zu sehen, in der Hoffnung, „immun gegen die Wirren der Welt “ zu werden, ist ein gelungener Gedankengang. Dann die Schönheiten im Kleinen („Muscheln, Bernstein), als Andeutung, daß Natur (das Leben) nicht nur stürmische, feindliche Seiten hat. Hat mir gut gefallen!

Tschüß... Woltochinon

 

Hallo Chaosqueen,

mal abgesehen von metaphorischen Bedeutungen (der angesprochene Sturm des Lebens usw.) finde ich die Beschreibung des Spaziergangs sehr gelungen. Man muss ja nicht unbedingt grade was Schlimmes erlebt haben um bei so einem Wetter am Strand entlang zu gehen. Bis dahin hat es mir also schon als Situationsbeschreibung gefallen. Das Ende war IMHO leicht pathetisch angehaucht - und gerade darum fand ich es sehr gelungen. Hat mich an letztes Jahr erinnert und an einige meiner damals recht wehmütigen Spaziergänge am Ostseestrand.

cu
Mario

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo ihr zwei!

Danke für die netten Kritiken - ja, ich gehe auch so gerne an den Strand, und alle weiteren Bedeutungen hat der Text auch erst beim Schreiben bekommen. Freut mich, dass ein pathetisches Ende auch gefallen kann - ich hab lange mit dem Posting gezögert, weil ich mir nicht so sicher war, ob es nicht ein bißchen dick aufgetragen ist. Umso erfreulicher, dass dieser Pathos auch positiv aufgefasst werden kann! :)
Lieben Gruß,

chaosqueen :queen:

PS Den Schnitzer hier musste ich grad mal ausbügeln...

 

Ich möchte bei dieser Gelegenheit nur zwei kleine Anmerkungen zu deiner Geschichte machen, Chaosqueen.
Einerseits verläßt sie nicht wie "MadameJacks" Geschichte "Normalität oder Drama" die gewohnten ausgetrampelten Pfade der klassischen Kurzgeschichte, kann ihr also keinesfalls Paroli bieten, andererseits heißt es "Pathos" und nicht "Pathetik".
Ciao Tenfingers

 

hallo chaosqueen,

fast mir aus dem herzen geschrieben - hattest es leicht mich mit der geschichte zu bezaubern..da ich diese atmosphäre am meer liebe..das schönste um gedanken schweifen zu lassen..ob man sich bei dem wetter an den strand setzt (oder vielleicht auf die verlassene terasse einer typischen nordsee-strandbar) lasse ich mal dahin gestellt..

man spürt..das reißen des windes und die macht der wellen..sehr schön..und das als metapher für die gedanken..gelungen!

liebe grüße, streicher..

 

@tenfingers:
Ups, natürlich Pathos, ich war müde!
Tja, ich hab "Normalität oder Drama" bisher nicht gelesen, weiß also nicht, womit Du meine Geschichte vergleichst. SChön fände ich es, wenn Deine Kritik sich auf meinen Text beziehen würde und nicht ausschließlich auf den Vergleich zu einem anderen Text. Denn dabei kommt es ja immer auf die Güte des anderen Textes an, nicht wahr?

@Streicher:
Ich freue mich, dass es hier so viele Meer-Liebhaber gibt! Und wenn ich all diese mit meiner Geschichte bezaubern kann, hab ich ja auch schon etwas erreicht.

Liebe Grüße,

chaosqueen :queen:

 

Hej Bo!

Tja, jetzt hast Du nacheinander die beiden Geschichten gelesen, die jeweils eine Art Liebeserklärung an einen Ort sind. Ich möchte nie wieder so weit vom Meer entfernt wohnen, dass ich es nicht "mal eben" besuchen kann. Leider fallen dann wohl alle bis auf eine meiner Lieblingsstädte als zukünftige Wohnorte aus. :(

Vielleicht hast Du ja Lust, in Sommer mal ans Meer zu fahren? In meinem Chaos findet sich immer ein Plätzchen für einen Schlafsack! :)

Lieben Gruß

chaosqueen :queen:

 

Hallo Chaosqueen,
mir hat Dein Sturmspaziergang sehr gut gefallen - die tollen Naturbeschreibungen und die Gedanken der Prot.

Ich möchte nie wieder so weit vom Meer entfernt wohnen, dass ich es nicht "mal eben" besuchen kann.
Genauso geht es mir auch. Ich kann zwar von meinem Haus aus das Meer nicht sehen, dafür aber, wenn ich zur Arbeit fahre. Und oft setze ich mich einfach an die Klippen und lasse die Seele baumeln.

Doch mit dem Letzten habe ich heute kein Glück, nur Flinte liegen hier.
Was bedeutet Flinte in diesem Zusammenhang? Das es keine Bernsteine sind? Ich kenne das Wort Flinte nur als anderes Wort für Gewehr.

LG
Blanca :)

 

Hallo chaosqueen.
Deine Geschichte ist wie immer sprachlich ein Genuss, obwohl ich den Begriff anlandiger Wind nicht kenne. Entweder ist er ablandig, oder Seewind, oder von See kommend.
Zitat:
Hoffnungslos, sie entziehen sich mir scharenweise

Diese Beschreibung finde ich etwas unbeholfen.

Zitat:
mir der Wind mit aller Kraft ins Gesicht schlägt und sehe die ganze Schönheit dieser endlos erscheinende Fläche vor mir


Hier musste ich schmunzeln. Mir tränen vom Sturm immer die Augen und meist macht mir die sturmgepeitschte See Angst. Ich empfinde in solchen Momenten die Urgewalt der Natur als bedrohlich schön.

Fazit:
Du hast Melancholie mit wunderschönen Bildern sprachlich gezeichnet.

@ Blanca
Hast du noch nie Flintensteine gesehen?
Ich mag am liebsten die Donnerkeile.

Liebe Grüße
Goldene Dame

 

hallo queen!

eine geschichte, die aus dem herzen spricht und zum wetter passt... da kann man nur noch duestere gedanken hegen...
und zu lange ueber vergangene sachen nachdenken...

gruss
dany

 

Hallo chaosqueen!

Auch mir hat Deine Geschichte sehr gut gefallen. Man glaubt als Leser diese Landschaft, die Athmosphäre im Sturm selbst spüren zu können. Die starke Natur, das Leben mit ihr ist etwas ganz tolles – leider wohne ich viel zu weit weg vom Meer, und habe es erst ein paar Mal so direkt erleben dürfen. Und dazu noch die Stimmung der Protagonistin, das rauszeichenen/schreiben alles Bedrückende. Der letzte Satz, Neuanfang empfinde ich als gelungenen Abschluss.
Eine Stelle ist mir aufgefallen:

„Meine Haare wollen mit ihnen spielen, wollen fliegen, frei sein, doch ich bändige sie kurzerhand mit einem Band, winde es fest hinein, auf das mir keines entkommt“ – mit einem Band bändigen, diese Formulierung hat mir wegen der wdh nicht so gut gefallen…

schöne Grüße
Anne

 

Hej zusammen,

huch, so viel Resonanz! Danke schön, freut mich sehr, dass die Geschichte Euch gefallen hat.

@Blanca: "Flintstein" oder einfach "Flint" ist ein anderes Wort für Feuerstein. Die kennst Du sicher, denke ich mir.

@Goldene Dame: Hmpf. Ich war mir immer sicher, dass der BEgriff "anlandiger Wind" als Gegensatz zum ablandigen benutzt wird, aber wie es scheint, hast Du Recht... ich werde das gleich mal umformulieren.

@Maus: Das bändigen mit dem Band ist ungeschickt, in der Tat. War mir noch nie aufgefallen, danke Dir!

Lieben Gruß

chaosqueen

 

Hej Sumpfdotter,

danke für Deine Kritik! Ich werde den Text mal in Ruhe auf Deine Anmerkungen hin durchlesen - ist immerhin fast zwei Jahre her, dass ich ihn geschrieben habe.
Ob ich diesen ändere, weiß ich nicht, auch nicht, ob ich ihn neu schreibe (wäre aber zumindest eine gute Übung), aber auf jeden Fall werde ich bei zukünftigen Texten drauf achten, nicht zu viel Pathos unterzubringen, das war nämlich nicht meine Absicht!

LG
chaosqueen

 

Ola!

Tja, ich hab den Text sehr genossen, wobei du mit Sturm und Meer gar nicht genug übertreiben kannst, insofern bin ich vielleicht voreingenommen.
Ich fand deine Sprache sehr schön und grade das Bildhafte hat mich angesprochen. Da bekomme ich das richtige "Sturm-Feeling" und wünschte mir, hier würde es auch stürmen und regnen, damit ich drin rumlaufen kann.

Deine Prot kann ich jedenfalls sehr gut verstehen :)

Und ich beneide dich um das Meer. Kannst du das mal ins Ruhrgebiet schicken?

Liebe Grüße,

Felsenkatze

 

Hi CQ,

ja, das sowas noch wer macht!
Ich habe geglaubt ich bin der Einzige.

Bei mir ist es nicht das Meer, sondern die Donau bei Sturm und Hagel.
Du hast die Atmosphäre ganz toll eingefangen.

Viel schöner finde ich aber die Intention.
Aus dem kurzen Kampf mit dem Unwetter geht man gestärkt hervor.
Ein kleiner Sieg des unbedeutenden Menschen über die Urgewalten der Natur.

Die beste Motivation überhaupt! :thumbsup:

lg, LE

 

Hej LE,

ich streife gerade zufällig durch Rubriken, die ich nicht moderiere, sonst wäre mir nie aufgefallen, dass Du auf meine Geschichte geantwortet hast!

Freut mich, dass sie Dir gefällt, dass Du die Atmosphäre nachempfinden kannst und auch meine Intention rüberkam.

Ich liebe Sturmspaziergänge am Meer, ich werde im Herbst immer ganz hibbelig! ;)

@Felsi: Dein Kommentar ist mir wohl durch die Lappen gegangen. Aber auch nach einem Jahr muss ich leider sagen, dass das Meer sich einfach nicht ins ruhrgebiet abdrängen lassen will, sorry. Ich versuche es auch schon länger, dann könnte ich mich bei euch wohl fühlen! :)

 

Hi chaosqueen,

handwerklich fast perfekt geschriebener Text (teilweise leider etwas pathetisch ;) ) der einen mitleben lässt und sehr lebendig wirkt... ich möchte ans Meer... *seufz*
In meinen Augen ist er allerdings etwas zu lurz, eine Erweiterung halte ich für ratsam. Falls du hier also noch überarbeiten magst, könntest du versuchen, unter all die Bilder ein wenig mehr Hintergrund und Tiefe einzuschieben... dein Text hätte es verdient.
Stilistisch sehr gut. :)

Liebe Grüße,
Anea

 

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