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Susi lacht
Wenn ich morgens das Haus Richtung Strand verlasse, steht manchmal ein weisses Rad vor dem Hauseingang. Nicht immer, aber oft. Es ist ein weisses SCOTT-Rad, etwas Besonderes nicht nur in der Farbe, sondern auch rein technisch gesehen. Wer fährt schon ein weisses Rad, das mehr als ein dunkles gepflegt werden will?
Das Rad vor der Tür gehört Susi, die es günstig erstanden und schon einen Grossteil ihres Gehaltes in Durchsichten und Reparaturen investiert hat.
Sie arbeitet bei der Zimmervermittlung. Laufe ich an der Tür vorbei, dann lacht und winkt sie. Genau wie ich.
Morgens ist die Welt noch in Ordnung.
Susi kommt aus Magdeburg und hat sich irgendwann in den Norden verliebt. Nun teilt sie ihre Gunst zwischen dem Norden und der Mitte von Deutschland. Natürlich hat sie einen Freund, den Stefan, der aber nicht in den Norden will. Gern für ein Wochenende oder etwas mehr, aber nicht für immer.
Susi ist stets modisch gekleidet und kann so ziemlich alles tragen. Ausser schweren Wassereimern, aber die trägt ja der Stefan.
Neulich postete Susi Bilder vom Strand, auf dem ein Stuhl mit einer gelben Tasche zu sehen war. Wow! Der Designer muss das Bild einer Frau wie Susi vor Augen gehabt haben, als er Form und Farben kreierte. Gross, blond, schlank und ein Lachen im Gesicht! Dazu das Meer, das als blauer Kontrast im Hintergrund leuchtet. Ist die Tasche praktisch? Auf jeden Fall, denn sie ist gross. Als ich das Bild sah, hätte ich gern die Tasche gefragt, wo sie schon überall war. Am Mittelmeer? Oder doch nur am Strand der Ostsee? Am Badesee? Oder vielleicht wurde sie auch nur zum schnellen Einkauf bei EDEKA missbraucht?
Man weiss es nicht.
Tagsüber herrscht reger Betrieb bei der Zimmervermittlung bzw. es wird unentwegt telefoniert. Warnemünde an der Ostsee ist ein gefragter Ort und in Zeiten der Pandemie noch mehr. Nun lacht Susi nicht mehr so viel, denn bei einigen Kunden vergeht ihr das Lachen. Ihr Gesicht ziert jetzt nur ein kleines Lächeln, das weisse Zähne erahnen lässt.
Am frühen Nachmittag checkt ein Pärchen mittleren Alters ein. Sie erkundigen sich nach den Radwegen und was es wegen Covid 19 zu beachten gilt. Susi gibt bereitwillig Auskunft, sagt, dass die Zahl der positiv Getesteten in Mecklenburg extrem niedrig ist. Der Abstand von 1,5 m, das Tragen einer Maske in Bahn/ Geschäften sowie das Händewaschen sind einzuhalten.
So wie überall.
Um 17 Uhr hat Susi Schluss und radelt zurück nach Nienhagen. Gemächlicher als am Morgen und sie überlegt, ob sie baden gehen soll. Bei dem Gedanken an das kühle Wasser leuchten ihre Augen und ihr Mund verzieht sich zu einem Lächeln. Die Wassertemperatur ist immer ein Aufhänger für einen kleinen Flirt. Sie beschliesst, hinter der nächsten Kreuzung abzubiegen, um einen Stopp einzulegen.
Plötzlich sieht sie, wie eine Frau links abbiegen will und die Kurve nicht bekommt. Sie rutscht weg und stürzt.
Zwei andere Radfahrer, Mann und Frau, sind sofort zur Stelle, helfen aber nicht. Der Mann steigt von seinem Rad ab und schaut auf die Frau, die am Boden liegt und stöhnt. Er hilft ihr immer noch nicht.
Susi, inzwischen angekommen, steigt ab, fordert den Radfahrer wütend auf, ihr Rad zu halten und hilft der Frau hoch. Aufgeschlagene Kniee und mehrere Prellungen an Armen und Beinen! Susi, immer noch wütend, fragt die Radfahrer, warum sie nicht geholfen haben.
Beide sind verlegen. Schliesslich stottert die Frau:
"Naja, heutzutage in Corona-Zeiten, weiss man ja nicht wirklich ...wenn wir uns anstecken ... und überhaupt ..."
Susi ist sprachlos. Inzwischen hat sie die Beiden erkannt. Sie checkten am frühen Nachmittag ein und waren dankbar, dass ihnen bei ihren Fragen zu ihrem Urlaub geholfen wurde.
"Verschwinden Sie!", schreit sie die Beiden an.
Aus ihrer gelben Tasche holt sie Pflaster und gibt es der Frau, die sich bedankt und dann ganz langsam weiterradelt.
Susi steigt ebenfalls auf ihr Rad, fährt weiter, ohne die Abbiegung zum Strand zu nehmen.
Das Lachen ist ihr für heute vergangen.