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Thalamusgesang

jbk

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17.06.2003
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Thalamusgesang

U-Bahnschacht​

Rauchen verboten! Paul Orbis zerdrückte die Kippenschachtel. Schweiß lief kalt über seinen Rücken. Er zitterte. Sein Magen krampfte. Stetes Rattern der Räder auf metallnen Schienen. Er wollte schreien. Doch kein Laut entwich seinen spröden Lippen. Er war allein. Wieso war er hier? Die Erinnerung blieb aus. Er blickte nervös um sich. Sah das kalte Licht an der Decke und fröstelte. Die billigen Lederimitate der Sitzreihen waren teilweise aufgeschlitzt. Die Fenster von scharfen, spitzen und kleinen Gegenständen zerritzt. Wilde Kreise, willkürlich und chaotisch!
Er wollte aufstehen, doch drückte oder hielt ihn irgendetwas im Sitz. Oder war er kraftlos geworden, ausgebrannt und leer? Hatte er all seine Energie aufbringen müssen, um hierhin zu kommen, in einen seelenlos dahinratternden Zug?
Paul Orbis schaute an sich hinunter. Eine lumpige Jeans und löchrige Schuhe trug er. War er das wirklich? Nur schwarz vor seinem inneren Auge…
Die Leere schien ihn zu verschlingen, das Rattern in ihn einzudringen und als unendliches Echo im Kopf zu hallen. Er ballte die Hände, schlug seine Ohren, krampfte seinen Kiefer und presste die Augen in die Höhlen. Immer noch war seine Kehle ausgedörrt, seine Schleimhäute rissig wie der Sahelboden. Ihm kam es vor, als breite sich die Wüste aus, als tobe Sandsturm um Sandsturm und schmirgele entlang seines Rachens.
Plötzlich tauchten Bilder von Oasen in ihm auf, von klarem und kühlem und erfrischendem Wasser, das Schluck um Schluck vom Durst erlöste.
Paul Orbis schloss die Augen. Die Ahnung eines Lächelns huschte über sein Gesicht. Dann folgte ein traumloser Schlaf.

Der Moloch​

Ein Rempler stieß ihn zu Boden. Perplex riss Paul seine Augen auf. Füße stampften neben seinem Kopf, schwarze Hosen strömten auf ihn zu. Er sprang auf die Beine. Menschenmassen ergriffen ihn, strömten in Häuserschluchten immerfort. Haltlos, rastlos, stetig drängend. Menschenfluss, unheilvolle Strömung ohne Rast und Ruh. Schritt für Schritt einem undefinierten Ziel entgegen, treibend im Moloch Großstadt.
Ja, dort war er jetzt. Paul erkannte die sich türmenden Hochhäuser, verspiegelte, sterile Fassaden. Und die Menschen: schwarze Anzüge, Schlipsträger, ökonomische Uniformität. Gleichschritt Marsch! Stumpfer Blick, leblos und kalt. Zitternde Nasenflügel, Witterung aufnehmend. Bluthunde im Menschenpelz! Kaltschnäuzigkeit! Die Jagd ist eröffnet. Tod oder lebendig – fliehen ist zwecklos, das Schicksal zu akzeptieren zeugt von Effizienz im Denken. Optimales Verhalten erwünscht, dazu Kenntnisse im Ellebogenkampf und psychologischer Kriegsführung. Jede Geste eine Bombe, die Taktik fetzend wie Schrapnell. Im Endeffekt soll die Seele in Napalm brutzeln. Nur ausgebrannt und strategisch bearbeitet ist die Maschine Mensch loyal und hilfsbereit. Die Infanterie schreitet voran, besetzt den Moloch, stationiert die Maxime der Ökonomie, sichert gegen Feinde des Systems, arretiert sie lebenslang.

„Bist du für uns oder gegen uns?“
„Wer bist du?“, fragte Paul, ohne zu sehen, wer von diesen Leuten mit ihm sprach.
„Ich bin die Maxime!“
„Und was willst du?“
„Die Quintessenz!“
„Von mir?“
„Letztlich würden alle Fragen auf die Quintessenz hinauslaufen. Es wäre uneffizient, sie zu stellen, weshalb ich optimiere und es auf den Punkt bringe: Bist du für uns oder gegen uns?“
„Ich weiß nicht…“
„Wissen ist Macht. Wer nicht weiß, ist machtlos und austauschbar. Nicht wichtig für das Ganze. Verstehst du?“
„Nicht wirklich…“
„Nicht zu verstehen heißt Unverständnis. Aus Unverständnis resultiert Abneigung. Aus Abneigung wiederum eine Kontraposition. Die Effizienz verbietet kontraproduktives Verhalten um ihrer selbst willen. Wer also bist du?“
„Paul Orbis…“
„Niemand des Systems hat einen Namen. Namen tragen Emotionen. Sie sind der Effizienz wegen zu eliminieren. Durch Nummern zu ersetzen. Emotionen stören den Ablauf, lenken ab. Der Fluss muss stetig fließen, gleich bleibend strömen, begradigt bleiben.“
Paul blieb auf einem Gulideckel stehen. Er spürte den Druck in seinem Rücken, der stärker und stärker wurde.
„Steine sind auszumerzen! Sie stören, behindern, lenken ab!“
Der Deckel öffnete sich und Paul fiel in ein schwarzes Loch…

Die Kanalisation​

Paul wachte mit einem stechenden Gestank in der Nase auf. Dunkelheit umgab ihn. Klamm fühlte sich der Stein an und kalt. Sein Kopf dröhnte, seine Muskeln brannten brenzlig, als wäre er meilenweit gerannt, geflohen!
Wie war er hierhin gekommen? Und wo war hierhin? Paul griff in seine Tasche und holte ein Feuerzeug, das er anzündete, um sich umzuschauen. Er sah nackten Stein, tubenartig gewölbt und einen dunklen Fluss an seinen Füßen vorbei strömend.
Paul holte seine Schachtel Zigaretten aus der Tasche. Warum war sie zerknüllt? Keine der Zigaretten konnte noch geraucht werden. Paul sehnte sich nach einem Automaten. Einen, wie er drei Straßen von seiner Wohnung entfernt stand. Wo seine Wohnung wohl war? Er erinnerte sich an seine saubere Küche, an sein gemütliches Wohnzimmer, an sein gepflegtes Badezimmer, an sein kuscheliges Bett. An seine Katze Mauzi. Wie es ihr wohl gehen mochte? Paul stand auf und strich sich durchs Haar. Es fühlte sich schlaff und leblos an. Er bemerkte, wie seine Fingernägel an der Kopfhaut entlang kratzten. Er würde sie sich schneiden, sobald er wieder in heimischen Gefilden war, dachte Paul.
Er ging im Dunkeln den schmalen Steig entlang. Er hörte das Wasser glucksen, als söge es ein Strudel in die Tiefe, als schlürfe eine Kraft es in den Schlund.
Er hatte weder Angst noch Sorge. Ein Gefühl der Gefühllosigkeit indes ergriff Besitz von ihm. Keine Kälte mehr war zu spüren, keine klamme Luft. Es roch nicht mehr. Und auch das Glucksen schwand in diesem Moment in unendliche Ferne.
Nicht mit Watte war dieses Gefühl zu vergleichen, denn Watte war spürbar. Es war die abstrakte Vorstellung des Vakuums, die passend schien für seinen Zustand. Zeit war nicht relevant, bedeutlungslos, alles Leben einzig nur eine Worthülle.
Paul blieb stehen, still und schweigend. Seine Lider sanken nieder, schlossen sich.

Das Universum​

Schwebend im unendlichen Schwarz, weder Licht noch Schall als adäquate Reize, Synapsenfeuer ist erloschen. Es transmittiert nichts mehr. Gefroren das Blut in steifen Venen, alle Millionen Jahre schlägt das Herz einmal. Diffusion steht still, die Permeabilität ist nicht mehr existent. Zerquetschtes Hämoglobin, kraftloses Adrenalin. Des Auges Rhodopsin zerfällt für immer, ewig.
Nikotin wirkt nicht mehr - Rauchen: zwecklos!

 

Dieser Satz gefällt mir: "das Schicksal zu akzeptieren zeugt von Effizienz im Denken"
Sehr zynisch. Die darauf folgenden Sätze sind mir dagegen etwas zu dick aufgetragen.
"Ein Gefühl der Gefühllosigkeit indes ergriff Besitz von ihm" ist ein Widerspruch in sich; falls Absicht, dann weiß ich nicht, was er bedeuten soll.
Überhaupt: Wirklich klar wird mir die Erzählung nicht. Irgendwie geht es um das System. Darum, Teil von ihm zu sein oder eben nicht. Aber die Handlung, wenngleich klar, kommt nicht auf den Punkt. Das Ende wirkt (wie einiges im Mittelteil) eher wie ein Trip als eine Auflösung. Nicht, dass man zwingend eine bräuchte. Aber ich kann in Deinem Text leider keine tiefere Bedeutung erkennen. Deshalb fehlt mir ein Ende, das die Geschichte rund macht.

Aber vielleicht ist die Story auch die Niederschrift eines Wahns beim Nikotinentzug :D

 

In die Richtung könnte es gehen.
Es sind Situationen, in denen ein Gefühl vorherrscht.
Ob es das ist, was man beim Nikotinentzug verspürt, weiß ich (noch) nicht... :)

Gruß
Jan

 

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