Thema und Information
Nach längerer Pause ist es nun endlich so weit: Ein neu zusammengestelltes Challenge-Team hat in aller Heimlichkeit ein Thema für den 10. Challenge ausgeheckt und freut sich schon auf Eure Beiträge.
Themenvorgabe:
Wer kennt ihn nicht, den gleißenden Helden, permanent dem Bösen trotzend, unterwegs für die Armen und Schwachen, Erlöser verwunschener Traumprinzessinnen, selbstlos, tapfer und von strahlender Schönheit?
Nein, um ihn geht es hier nicht, Protagonist soll der Antiheld sein.
Was ihn vom Helden unterscheidet? Selbstlosigkeit ist für ihn gleichbedeutend mit Dummheit. Was er tut oder lässt, geschieht allein aus Eigennutz. Tapferkeit und Risikobereitschaft mögen Attribute sein, derer er sich brüstet, im Ernstfall wählt er den kalkulierbaren Weg des geringsten Widerstandes: Maximaler Nutzen bei minimalem Aufwand. Ihn als ’böse’ zu bezeichnen, greift vielleicht zu kurz, und das nicht nur, weil er zufällig auch einmal etwas Gutes tun könnte: Er hat nicht die Absicht zu schaden oder zu verletzen, er nimmt es lediglich in Kauf, wenn ihm die Alternative zu gefährlich scheint. Anders wäre da Bernard Laplante, der Charakter, den Dustin Hoffman in Ein ganz normaler Held darstellt: dieser trägt den Misanthropen als Vorzeige-Ich, erweist sich im Ernstfall aber als Held.
Was ihn noch vom Helden unterscheidet: Der Antiheld wird nicht klüger aus seinen Fehlern. Schlimm, wenn er diese erst gar nicht erkennt, noch schlimmer, wenn er sie zwar erkennt, aus ihnen aber nicht lernen will, sei es aus Faulheit, Profilierungssucht oder Eigennutz. Der Antiheld ist kein Mensch großer Erkenntnisse.
Der Protagonist Eurer Geschichte muss ein Antiheld sein, darin besteht der erste Teil der Aufgabe.
Technikvorgabe:
Und statt nur einen Antihelden zu beschreiben, verlangen wir Weiteres: Versetzt Euch in den Antihelden hinein! Dieses Hineinversetzen muss sich auch in der erzählerischen Form niederschlagen, und welche ist da nahe liegender als die Form des Bewusstseinsstroms, des stream of consciousness, jene Erzähltechnik, deren prominentester Vertreter vermutlich James Joyces “Ulysses” ist.
Der Bewusstseinsstrom erzählt die Geschichte nicht mehr von außen. Da wird nichts beschrieben, nichts erklärt, keine Handlungsabfolge dargestellt. Die Gehirnforscher wissen: Eine bewusste Verarbeitung und Bewertung von Sinneseindrücken steht am Ende einer langen Kette. Zu Anfang steht die Wahrnehmung als solche, dann fragt sich das Gehirn, ob die Wahrnehmung wichtig ist, gleicht sie mit gespeicherten Erinnerungen ab, fragt nach Assoziationen. Gibt es davon welche, gelangt die Wahrnehmung ins Bewusstsein.
Und das ist der Moment, wo diese Erzähltechnik ansetzt: In der Schwebe zwischen Wahrnehmung, Erinnerungsassoziation und Bewusstsein.
Eine der Pionierinnen dieser Technik war Virginia Woolf, und ihr berühmtester Roman, Mrs. Dalloway, beginnt mit den Worten:
Mrs. Dalloway sagte, sie wolle die Blumen selber kaufen. Denn Lucy hatte genug zu bestellen. Die Türen würden aus den Angeln gehängt werden; Rumpelmayers Leute kämen. Und dann, dachte Clarissa Dalloway, was für ein Morgen frisch, wie geschaffen für Kinder am Strand.
„Mrs. Dalloway sagte ihrem Hausmädchen Lucy, sie würde sich um die Blumen für das Fest selber kümmern. Es war eine nette Geste von ihr, da sie wusste, dass Lucy auch so sehr viel zu tun hatte.
Clarissa Dalloway stellte sich vor, wie die Vorbereitungen für das Fest wären: Die Türen zwischen den Räumen würden ausgehängt, um mehr Platz zu machen; das Bedienungspersonal würde sich vorbereiten.
Sie war froh, sich abseilen zu können und trat ins Freie. Sie atmete befreit durch, die Luft war am kühlen Morgen so frisch, dass sie Erinnerungen ans Meer weckte, an Kinder, die im Sand spielten.“
Diese rein erzählende Form wirkt distanziert. Der Autor betrachtet, bewertet und kommentiert die Protagonistin und beschreibt die Handlung.
Der Bewusstseinsstrom gibt die Eindrücke und die entsprechenden Assoziationen wieder, hält sich nicht mit Erklärungen auf, da die nächste Sinneswahrnehmung schon kommt. Handlung wird nicht beschrieben, sondern eben wahrgenommen. Die Erzählform gleicht dem steten Fluss des Wassers in einem mächtigen Strom: Ruhig, spielerisch an manchen Stellen, rasch, zerstörerisch, abgehackt an anderen.
Deutlicher ist die Technik in Alfred Döblins “Berlin Alexanderplatz” zu beobachten, man achte auf die Mischung der Perspektiven:
Er¹ stieg unbeachtet wieder aus dem Wagen, war unter Menschen. Was war denn? Nichts. Haltung, ausgehungertes Schwein, reiß dich° zusammen, kriegst meine Faust zu riechen. Gewimmel, welch Gewimmel². Wie sich das bewegte. Mein³ Brägen hat wohl kein Schmalz mehr, der ist wohl ganz ausgetrocknet. Was war das alles. Schuhgeschäfte, Hutgeschäfte, Glühlampen, Destillen. Die Menschen müssen doch Schuhe haben, wenn sie soviel rumlaufen, wir hatten ja auch eine Schusterei, wollen das mal festhalten. Hundert blanke Scheiben, laß die doch blitzern, die werden dir doch nicht bange machen, kannst sie ja kaputt schlagen, was ist denn mit die, sind eben blankgeputzt. Man riß das Pflaster am Rosenthaler Platz auf, er ging zwischen den anderen auf Holzbohlen. Man mischt sich unter die anderen, da vergeht alles, dann merkst du nichts, Kerl.
Einmal Schritt für Schritt durch die Textpassage: Die Nennungen “unbeachtet” und “unter Menschen” sind auf Wahrnehmungen des Protagonisten zurückzuführen. Plötzlich unterbricht die Frage “Was war denn?” den Gedankenfluß, sogleich die Beantwortung “Nichts”. Dem Leser wird nicht klar, woran sich der Protagonist gerade gestoßen hat. Es folgen Wahrnehmungen (“Wie sich das bewegte”, “Hutgeschäfte, Glühlampen, Destillen”), wilde Assoziation setzt ein: Viele Mensche ⇒ bewegen sich ⇒ auf Füßen ⇒ tragen Schuhe ⇒ Schuhe sind notwendig ⇒ man hatte selbst eine Schusterei.
Die Beobachtung der Bauarbeiten am Rosenthaler Platz kann man den Gedanken des Protagonisten zuordnen, muß keinem Erzähler zugeschrieben werden. Dann wieder Gedanken des Protagonisten, die darauf hinweisen, wie unwohl und fremd er sich zwischen den anderen, ’normalen’ Menschen fühlt (Franz Biberkopf wurde zu Beginn aus dem Gefängnis Tegel entlassen).
Ein letztes Beispiel, ganz ohne einleitende Formeln, findet sich in Arthur Schnitzlers “Lieutenant Gustl”, ein Werk, das komplett in der Technik des Bewusstseinsstroms gehalten ist, durchbrochen nur von Dialogpassagen (je nach Auffassung handelt es sich bei “Lieutenant Gustl” auch nur um Inneren Monolog, vergleiche die Abgrenzung in dem Link zur Uni Essen am Ende des Info-Textes):
Keine ruhige Minute hätt’ ich mehr im Leben … immer hätt’ ich die Angst, daß es doch einer erfahren könnt’, so oder so … und daß mir’s einer einmal in’s Gesicht sagt, was heut’ Abend gescheh’n ist! – Was für ein glücklicher Mensch bin ich vor einer Stund’ gewesen … Muß mir der Kopetzky die Karte schenken – und die Steffi muß mir absagen, das Mensch! – Von sowas hängt man ab … Nachmittag war noch alles gut und schön, und jetzt bin ich ein verlorener Mensch und muß mich totschießen … Warum renn’ ich denn so? Es lauft mir ja nichts davon …
In der Hoffnung, nicht weiter zu verwirren:
Wie in der Aufgabenstellung weiter unten auch zu lesen ist, wird die Jury durchaus auch “Inneren Monolog” akzeptieren, hier noch einige Stichpunkte, die “Bewusstseinsstrom” von diesem unterscheiden:
- Schon beim “Inneren Monolog” verschwindet die Erzählerinstanz, ist aber implizit noch spürbar, weil sie Gedanken ordnet
- Freie Assoziation (mit dem ersten Punkt eng verbunden)
- Sprachspiele und Lautmalereien
Eid des Hippokrates, kein Leben sollst du nehmen, was geben sie jetzt an mit diesem Eid, wer ist wohl drauf gekommen? Kater nach Euthanasieprozessen, Mord an Geisteskranken, Mord an Ungeborenen, bei mir hängt das in gotischer Fraktur im Gang, und der Spruch macht sich da sehr gut, was ist Leben? die Quanten und das Leben, die Physiker quälen sich jetzt mit der Biologie, ich kann ihre Bücher nicht lesen, zu viel Mathematik Formelkram abstraktes Wissen Gehirnakrobatik, ein Leib ist kein Leib mehr, Auflösung der Gegenständlichkeit in den Bildern der neuen Maler, das sagt mir nichts, ich bin Doktor, vielleicht zu ungebildet, habe auch keine Zeit, kaum für die Fachblätter, immer wieder was Neues, ich bin müde, am Abend, meine Frau will ins Kino, Film mit Alexander, ich halte ihn für einen Schnösel, aber die Frauen? Leben schon im Sperma? das Ei? dann auch Gonokokkenschutz, die Priester sagen natürlich die Seele, sollten sich das mal aufgeschnitten ansehen, Hippokrates, war er Kassenarzt? hatte er eine Großstadtpraxis? die Spartaner warfen die Mißgestalten in die Schluchten des Taygetos, Militärdiktatur totaler Staat, sicher verwerflich, lieber Athen Philosophie und Knabenliebe, aber Hippokrates? er sollte mal zu mir kommen und sich’s anhören »ich bring’ mich um« – »wenn Sie’s Herr Doktor nicht machen« – »ich will’s weghaben«, und zu wissen, wo sie dann hingehen, die Pfuschaborte, sterben zu Tausenden, Ladenmädchen, Sekretärinnen, können sich selber kaum erhalten, und zu was wächst so was heran? Wohlfahrtssuppen Heimbetreuung Familienpflegschaft Arbeitslosigkeit Gefängnis Krieg, ich war Feldarzt, was fiel da rot auf den Tisch, noch mal wie geboren, die Glieder schon weggerissen, zum Tod geboren, Achtzehnjährige, besser nie geboren, was erwartet das Negerkind? man müßte ihnen den Koitus verbieten aussichtslos, sie werden es nie lassen […]
—
Nach diesen langwierigen Erklärungen nun endlich die Aufgabe für den 10. Challenge:
Erzählt die Geschichte eines Antihelden, der sich mit einer Handlung konfrontiert sieht, der er nicht entrinnen kann. Beschreibt sein Stolpern durch diese Handlung, immer mit dem Bestreben, heil aus der Sache zu kommen. Beschreibt sein Scheitern, wenn er nach Erkenntnissen aus der Handlung sucht.
Der Text muss in der Technik des “Bewusstseinsstroms” gehalten sein, wobei wir diesen nicht streng von “Erlebter Rede” oder “Innerem Monolog” abtrennen wollen. Wichtig ist uns, dass die Gedankenwelt des Protagonisten gut lesbar und verständlich bleibt: der Leser soll also eventuelle Sprünge nachvollziehen können.
Sinn der Übung ist es, sich in eine Person hineinzuversetzen, mit der man sich als Autor eigentlich nicht identifizieren möchte. Und dieser Person eine eigene, individuelle Sprache zu geben, als hätte der Leser einen direkten Einblick in die Gedanken dieser Figur, während diese gerade noch entstehen.
Viel Vergnügen und gutes Gelingen,
das Challenge-Team.
—
Termine
Geschichten dürfen bis Sonntag, 30. Oktober gepostet werden. Bitte direkt hier in dieser Rubrik (Geschichten → Challenge → Bewusstseinsstrom).
In der Woche vom 31. Oktober bis 6. November dürfen Kommentare verfasst werden, den Teilnehmern bleibt dann bis zum 13. November Zeit, ihre Geschichten zu bearbeiten.
Danach zieht sich die Jury zur Beratung zurück.
Sonstiges
Jedes Mitglied darf nur einen Text posten.
Jury-Mitglieder dürfen posten, ihre Beiträge werden (natürlich) nicht prämiert.
cbrucher moderiert das Forum, hat auf die Entscheidung der Jury aber nur Einfluß, sofern diese sich nicht einigen kann.
Für die Jury-Mitglieder wird nach Ablauf der Fristen eine Version ohne Autorenname und auch ohne Titel der Geschichte erstellt.
Weblink
Wikipedia: Bewusstseinsstrom
Zu Innerem Monolog und Bewusstseinsstrom (Literaturwissenschaft Universität Essen)