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Theo und die Weißen Berge
Sachte schloss Theo die Badezimmertür hinter sich, horchte, ob auf dem Flur alles still war, und lief hinüber zum Waschbecken. Seine Eltern hatten ihn beim Abendessen beobachtet und mit hochgezogenen Brauen einander Blicke zugeworfen, weil er so schweigsam war. Theo würde es ihnen später erklären. Jetzt musste er sich beeilen.
Er schaute zur Sanduhr neben seinem Zahnputzglas. Das Licht der Abendsonne brach sich in den runden Kammern und warf bunte Schatten auf die Wandfliesen. Im unteren Glasbehälter glitzerte jedes Körnchen der kleinen Wüstendüne.
Erst ein paar Stunden zuvor hatte ihm der Wächter, Dr. Krug, von den Weißen Bergen erzählt – sowie von der bevorstehenden Schlacht, die den Krieg zwischen den Schatten und der Weißen Armee entscheiden würde. Und ausgerechnet Theo sollte in diese geheime Welt reisen, um der Weißen Armee zu helfen. Unter keinen Umständen sollte er jemandem davon erzählen. Theo schob den Unterkiefer vor und pustete sich die zu langen Haarfransen aus der Stirn. Beim nächsten Besuch würde er auf dem hell beleuchteten Stuhl Platz nehmen – ein Blick und der Wächter würde über den Ausgang der Schlacht Bescheid wissen. Theo wollte es wenigstens versuchen. Also nahm er Zahnbürste und Paste. Mit einer flinken Handbewegung ließ er den Tubendeckel abspringen. Schon landete der blauweiße Streifen der Länge nach auf den Borsten. Anschließend griff er die Sanduhr, drehte sie auf den Kopf und sprach die ihm aufgetragenen Worte:
„Dunkel sind die Schatten, kein Ende ist in Sicht. Finde einen Freund und entdecke das Licht.“
Der Sand rieselte von der oberen Kammer durch den schmalen Hals in die untere. Die Körner schienen sich gegenseitig überholen zu wollen. Um Theo herum veränderte sich das Licht und der Raum: Umrisse verschwammen, lösten sich in Schlieren auf und wurden zu einem orangefarbenen, schummrigen Nebel. Alles Blinzeln half nichts. Beim Versuch, Halt am Handtuch zu finden, griff er ins Leere.
Er fand sich in einer fremden Welt wieder. Riesige weiße Steine schienen wie der Größe nach von klein und schmal zu breit und massiv angeordnet. Feiner Nebel überzog die Fronten, ließ sie wie Bergkristalle funkeln. Doch die Steine zeigten auch schwarzgrauen Belag. Flechten überwucherten sie und brachten einen modrigen Geruch mit sich. Theo rümpfte die Nase und wandte sich ab. Er musste die Augen anstrengen, um in der Dämmerung etwas zu sehen. Ein breiter Spalt in der Steinreihe vor ihm gab den Blick auf einen Bergsee frei. Auf dessen Oberfläche spiegelte sich schwach die U-förmige Gebirgskette. Weiter hinten verjüngte sich der See und mündete in eine Grotte, in deren Tiefe letzte Sonnenstrahlen an nassen Wänden glitzerten. Theo stieg durch die Felslücke. Im Boden war ein kleiner Krater zu sehen, als wäre ein Fels in den Himmel geflogen. Er trat näher an den See und suchte in den Hosentaschen nach der Sanduhr. Die Weißen Berge waren ein dunkler Ort. Der Wächter musste sich geirrt haben. Was sollte Theo hier bewirken?
Abendwind zog auf und die Brandung schmatzte an die Uferschräge. Die Gesteinsreihen warfen lange Schatten. Theo ließ sich in die Hocke sinken und legte das Gesicht in die Hände. Dann schrie er schrill auf. Etwas Glitschiges hatte seinen Knöchel gestreift und hinterließ am gesamten Bein Gänsehaut. Er stolperte zurück, wollte Richtung Felslücke fliehen, als er am Ärmel gepackt und zur Seite gezerrt wurde. Theo fuchtelte mit den Armen und landete einen Treffer.
„Aua! Hey, spinnst du?“
Ein helles Licht blendete ihn. Dann schwenkte der Lichtkegel nach unten und er erkannte vor sich ein etwa gleich altes Mädchen, um dessen Hals eine Stirnlampe hing. Ihre Haare und Wimpern waren so hell, dass sie fast weiß aussahen. Sie steckte gerade eine Zitrone in ihre Tasche. Theo schüttelte den Kopf, um die wirren Gedanken abzuwerfen. Das Mädchen rieb sich unterdessen den Oberarm und verengte die Augen zu Schlitzen. „Hallo. Ich bin Marla, die Tochter des Generals“, sagte sie. Ihre Stimme schallte dumpf zwischen den Felswänden wider. Sie reckte das Kinn in die Höhe, als könnte sie auf diese Weise die wenigen Zentimeter Größenunterschied wettmachen. Die weiße, glänzende Seide ihrer Kleidung schimmerte im Schein der baumelnden Stirnlampe.
„Ich heiße Theo“, sagte er und zeigte zum See. „Was war das im Wasser?“ Theo sah Marlas Augenrollen und bereute fast, sie gefragt zu haben.
Marla schnalzte mit der Zunge. „An deiner Stelle würde ich nicht so dicht ans Ufer gehen! Tsungara zieht alles, was sie zu packen bekommt, unter Wasser, in ihre Höhle hinein.“ Sie holte eine gelbe Frucht hervor und warf sie Theo zu, der sie gerade noch zu greifen bekam. „Wenn Tsungara die Zitrone sieht, zieht sie sich in die Grotte zurück. Musst aber aufpassen. Wegen der Flutwelle, die kann einen mitreißen.“ Damit drehte Marla sich um und lief in Richtung Felswand. Federnd sprang sie auf den Fußspitzen von Stein zu Stein.
„Kommst du?“, rief sie hinter sich, ohne auf Theo zu warten. Er hatte nicht vor, bei dem Seeungeheuer zu bleiben. Und Marla konnte ihm vielleicht helfen zu verstehen, was seine Aufgabe in dieser Welt war.
Die beiden tasteten sich im Dämmerlicht vorwärts, quetschten sich durch Spalten und kletterten über Steinbrocken. Theo hörte das Schrubben von Besen und das Schwappen von auskippenden Eimern. Dann blickte er auf emsiges Treiben im Licht unzähliger Scheinwerfer, die jede Ritze der Felsfronten beleuchteten. Mit wachen Augen überblickte und koordinierte ein Mann in prächtiger Uniform die Einsatzkräfte, die mit Schrubber, Haken und Wasserspritzen die Flechtenausbreitung zurückdrängten. Seine Hände waren hinter dem Rücken verschränkt. Die weißen Haare trug er in großen Wellen nach hinten gekämmt. Theo bewunderte die Entschlossenheit und die stolze Haltung des Generals. Dann fiel ihm auf, dass der General, wenn er meinte unbeobachtet zu sein, die Schultern nach vorn fallen ließ und seine Hände knetete. Theos Mutter sagte immer, dass es nicht schlimm ist, unsicher zu sein. Das wäre keine richtige Angst, sondern Bammel. Das sei nichts anderes als Aufregung, die es schließlich auch bei schönen Dingen gibt. Theo fragte sich, ob der General das nicht wusste.
Als der General Marla und Theo bemerkte, drehte er sich um, schaute Theo neugierig an und lächelte. „Du musst der Junge sein, den uns der Wächter geschickt hat.“
Marla räusperte sich. „Hätte ich nicht nach ihm geschaut, wäre er im See gelandet.“ Ihr Vater erwiderte nichts darauf, sondern winkte Theo zu sich. Theo trat näher, beobachtete Marla aber aus den Augenwinkeln, wie sie die Stirnlampe abnahm und sich in ihre Tasche stopfte. Mit verschränkten Armen stellte sie sich neben ihren Vater.
„Die Schäden werden von Minute zu Minute größer. Dort, wo sich dunkle Flechten auf der Felsoberfläche schließen, bröckelt das sonst so feste Gestein ab wie Heidesandkekse.“ Er schüttelte nachdenklich den Kopf. „In der alten Prophezeiung heißt es:
„Ganz nah an des Unheils Quelle, die Lösung liegt an dieser Stelle.“
Der General sah Theo erwartungsvoll an. Doch der strich sich verlegen mit der Hand den Nacken und hatte nicht den leisesten Schimmer, wie er helfen sollte.
Theo lief umher, stolperte von einem auf das andere Bein und versuchte, niemandem im Weg zu sein. Wieder und wieder ging Theo in Gedanken die Prophezeiung durch, bis die Wortfetzen zu einem einzigen Buchstabensalat verschwammen. Vorsichtig stellte er die Uhr auf eine Steinplatte und wischte die schwitzigen Hände an der Hose ab. Mehr als die Hälfte des Sandes war bereits am Boden der Uhr gelandet. Der General suchte über die Menge hinweg Theos Blick und rief: „Theo, uns rinnt die Zeit davon! Kannst du uns helfen?“
Theo überlegte fieberhaft, was er sagen sollte. Er spürte seinen Herzschlag bis in die Ohrläppchen pochen. „Warte mal ... die Zeit rinnt davon“, wiederholte Theo die Worte des Generals. Er trat einen Schritt zurück, beugte sich vor und musterte die Sanduhr. Die aufbäumende Brandung machte die bewachsenen Steine in Ufernähe schmierig glatt. Theo rutschte auf einem der glitschigen Steine aus und landete mit einem Bein im See. Er umklammerte die Felskante, versuchte, wieder hochzuklettern. Hinter ihnen brodelte der Bergsee, denn unter der Wasseroberfläche zog Tsungara ihre Kreise. Im Wasser stiegen hunderte kleine Luftblasen auf. Marla rannte auf Theo zu, der sie verdutzt ansah und ihr bedeutete, dass er keine Hilfe brauchte. Er hatte nicht bemerkt, dass sich das Wasser um ihn herum verdunkelte. Marla griff in ihre Tasche, zerrte die Zitrone hervor und zog sie mit festem Griff über den scharfkantigen Kamm einer kleinen Steinreihe. Die Frucht hinterließ auf der rauen Oberfläche eine gelb gesprenkelte Linie. Gerade als der Kopf des Ungeheuers die Seeoberfläche durchbrach, erreichte Marla die Wasserkante. Sie quetschte die Zitrone so fest sie konnte in der weit von sich gestreckten Hand und verpasste Tsungara eine saure Dusche. Theos Augen folgten Marlas Bewegungen und er erkannte die Gefahr. Schnell griff er Marlas freie Hand und kletterte das steinige Ufer hinauf. Tsungara wand sich und erzeugte einen schaumigen Strudel, als sie sich schließlich Richtung Grotte zurückzog. In großen Wellen schwappte das Wasser zur Seemitte.
Die Kinder sahen einander kurz an. Marlas Pupillen füllten die Iris völlig aus. Die Luft war vom Duft der Zitrusfrucht erfüllt.
Um die beiden herum ging es weiter hektisch zu. Die Flechten hatten einen weiteren weißen Riesen fast vollständig bedeckt. Theo ging zur Plattform, auf die er die Sanduhr gestellt hatte. „Der Sand ist fast komplett durchgerieselt“, rief er hinter sich. „Die Prophezeiung sagt: Die Lösung liegt an dieser Stelle.“ Mit zittrigen Händen griff er nach der Uhr und kippte sie um die Hälfte, sodass beide Glaskammern nebeneinander auf gleicher Höhe ruhten. Das Verbindungsröhrchen war leer. In der linken Kammer befand sich so wenig Sand, dass man die Körner hätte zählen können.
Laute Rufe erklangen aus allen Richtungen. Der General trat zu Theo, bückte sich hinunter, um die auf der Seite liegende Sanduhr zu inspizieren und ließ den Blick über die Bergkette schweifen. Überall schauten Arbeiter verwundert auf die dunklen Flächen, die aufgehört hatten, sich weiter auszubreiten. Das Überwuchern der Felsen und Steine war zum Stillstand gekommen. Und es wurde wieder heller, als ginge die Sonne in die Verlängerung. Nun war es ein Leichtes, die Flechten zu entfernen. Überall wurde mit Besen geschrubbt, mit Schläuchen der Dreck weggespült. Die Oberflächen funkelten weiß im Sonnenlicht, als der dunkle Belag entfernt war. Und die ruhige Oberfläche des Sees spiegelte den prächtigen Gebirgszug. Theo strahlte Marla an. „Wir haben es geschafft! Die dunklen Flecken wachsen nicht mehr weiter.“
Doch Marla lächelte verzagt. „Nur bis die Zeit deiner Uhr weiterläuft, denke ich.“
Der General legte den Arm um die Schultern seiner Tochter und drückte sie kurz. „Aber wir haben diese Schlacht gemeinsam gewonnen. Ich werde Patrouillen einsetzen, die einen Befall sofort melden. So können wir eine erneute Ausbreitung verhindern.“
Theo wurde klar, warum Marla verhalten reagierte. Er musste die Sanduhr aufstellen, um zurück nach Hause zu kommen. Der General bemerkte Theos Blick und nickte. „Wenn der Wächter im Spiegel der Wahrheit eine Bedrohung sieht, bist du willkommen, dich gegen die dunklen Schatten an unsere Seite zu stellen.“
Marla trat einen Schritt vor und umarmte Theo. „Ich würde mich freuen.“
„Ich mich auch“, erwiderte Theo. Er atmete ruhig und tief in den Bauch, ging hinüber zur Sanduhr und sprach an Marla gerichtet lächelnd die zweite Formel, die er vom Wächter bekommen hatte:
„Wahre Freunde bleiben da, sagen ade und sind doch immer nah.“
Dabei richtete er die Sanduhr auf. Die wenigen Körner der oberen Kammer rieselten durch die Verengung der Uhrenmitte. Auf dem See verschwammen die Konturen der Bergkette. Um Theo herum färbte sich erneut alles orange, alles Blinzeln war vergebens. Die Umgebung veränderte sich, bis er durch den Nebel in sein eigenes Gesicht schaute.
Er stellte die Sanduhr langsam auf das schmale Spiegelregal, als sein Vater die Badezimmertür öffnete.
„Großer, wenn du mit dem Zähneputzen fertig bist, kannst du noch auf eine kurze Spielrunde rüber zu Marla geh‘n.“
Theo runzelte die Stirn und schaute seinen Vater wortlos an. Dieser schmunzelte beim Anblick von Theos verträumtem Gesichtsausdruck. „Sie hat gerade geklingelt und nach dir gefragt. Ihr Vater ist noch in der Kaserne und kommt erst spät nach Hause“, erklärte er und verließ das Bad wieder. Theo fuhr mit der Zunge die sauberen Zahnreihen ab – von den Schneidezähnen, mit der frischen Lücke, bis zu den großen, breiten Backenzähnen – und beförderte die Zahnbürste klirrend in das Glas. Dann schlüpfte er in seine Turnschuhe, öffnete die Tür zum Treppenhaus und klopfte nebenan bei seiner Freundin.