Was ist neu

Timotius Bakker

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13.03.2003
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Timotius Bakker

Ein wenig sah er aus wie Cat Stevens. Ja, wie Cat Stevens ohne Bart, langes, dunkles, lockiges Haar, eine schmale Nase, sinnliche Lippen, Augen, in denen ein Mädchen versinken konnte. Groß war er, schlank war er. Und er sprach mit einem betörenden holländischen Akzent.

Die Schülerinnen und Schüler der 10b packten ihre Schulsachen ein. Die Jungs: laut und polternd, wie losgelassene junge Hunde.
Die Mädchen eher leise, tuschelnd, kichernd.
Nur Elke, Sigrid und Sabine, die sich mit Linda, der langen Linda, eine der Bänke in der hinteren Reihe teilten, unterhielten sich angeregt.
„Ich treffe mich heute Nachmittag mit Bodo vorm ‚Luxor‘, wir wollen uns ‚Easy Rider‘ ansehen!“, erzählte Sigrid, nachdem die Schulglocke das Ende des Unterrichts verkündet hatte.
„Oh, der Film ist gött-lich!“, sagte Sabine und schloß vor Wonne die Augen, wie immer, wenn sie etwas göttlich, superb oder einfach toll fand. „Ich hab ihn schon dreimal angesehen, zusammen mit Ingo!“
„Na, wenn ihr beide ihn euch noch dreimal anseht, wisst ihr vielleicht in etwa, worum es geht!“, fiel Elke, die Älteste der Klasse, ein. Sie zwinkerte Sabine zu und brach gemeinsam mit ihr und Sigrid in lautes Lachen aus.
„Ach, mein Ingo, der ist toll!“, schwärmte Sabine augenrollenderweise. „So zärtlich, immer lustig, immer gut gelaunt... Nur, dass er seine Hände nicht bei sich behalten kann, sobald er mit mir alleine ist...!“
„Und? Was stört dich daran?“, fragte Elke, frivol grinsend, als die drei schon über den Schulhof schlenderten, gefolgt von der stillen Linda. Ein Hupen verhinderte Sabines Antwort, die darin bestanden hätte, dass gar nichts daran sie störte, dass sie es sogar sehr gerne hatte, wenn er seine Hände auf Wanderschaft schickte.
„Da ist Charly – Tschüss, ihr drei Hübschen!“, rief Elke noch und lief auf den vor der Einfahrt zum Schulhof geparkten VW-Käfer ihres Freundes zu.

Linda kannte die Gespräche ihrer Freundinnen (waren es wirklich ihre Freundinnen? fragte sie sich oft) zur Genüge. Es gab fast nur das eine Thema: die Freunde ihrer Freundinnen. Was ihre Liebsten sagen, tun, wissen, können oder vorhaben. Welche Filme sie sich mit ihren Freunden angesehen haben, was sie am Wochenende mit ihren Freunden unternehmen wollen, welche hübschen Geschenke ihre Freunde ihnen gemacht haben, was für unglaublich witzige Bemerkungen ihre Freunde zum Besten gegeben haben. Als wenn es nichts anderes im Leben gäbe, dachte sich Linda dann oft, ohne genau zu wissen, was es anderes Erzählenswertes geben sollte.

„Na - und du, Linda?“, fragte Sabine und lächelte ein wenig hinterhältig, „so groß und schlank und blond und hübsch – und immer noch kein Freund in Sicht?“
„Weißt du, manchmal denken wir, du magst keine Jungs!“, fügte Sigrid hinzu, ein wenig zickig.
„Das sind nicht meine Freundinnen...“, ging es Linda durch den Kopf. „Ich muss laufen, damit ich meinen Bus kriege – Tschüss, bis morgen!“, verabschiedete sich Linda von ihren Klassenkameradinnen und lief los. Sie hatte das Gefühl, dass die beiden hinter ihrem Rücken über sie lächelten und spotteten, sie spürte es. Und es stimmte auch.

Später, am Abend, in ihrem Zimmer, bei Schummerlicht und den Klängen von Lady d‘Arbanville dachte Linda über sich, ihre Freundinnen und die Jungs nach. Es stimmte nicht, was Sigrid und Sabine gemutmaßt hatten, es war nicht so, dass sie keine Jungs mochte. Im Gegenteil. Sie fühlte sich zu ihnen hingezogen
und träumte oft von einem Freund, schon lange, von einem richtigen, lieben Freund. Aber der sollte anders sein als die pickligen, naseweisen Lieblinge ihrer Klassenkameradinnen. Er sollte älter sein als sie, klug, und ein Künstler: ein Musiker vielleicht. Ein Gitarrist, ein Sänger, wie Leonard Cohen, wie Cat Stevens. Oder ein Schriftsteller. Ja, ein Schriftsteller, ein Dichter, ein Poet, ein Lyriker. Einer, der Gedichte schreibt, Balladen... Eine ihrer Lieblingsballaden kam Linda in den Sinn, die sie auswendig konnte, die sie – völlig unverständlich für ihre Freundinnen – gerne auswendig gelernt hatte, wie viele andere Gedichte auch:

Da hört man auf den höchsten Stufen
Auf einmal eine Stimme rufen:
„Sieh da! Sieh da, Timotheus,
die Kraniche des Ibykus!“ -
Und finster plötzlich wird der Himmel,
und über dem Theater hin
sieht man in schwärzlichtem Gewimmel
ein Kranichheer vorüberziehn.

Timotheus... was für ein Name: „Der Gott Ehrende“, hatte sie damals gelernt. Ein Freund musste keinen schönen, ausgefallenen Namen haben, das war nicht unbedingt erforderlich. Aber schaden konnte es auch nicht. Viel wichtiger war ihr: er müsste Holländer sein! Nicht Spanier, nicht Italiener, nicht Südamerikaner – nein: Linda wollte keinen heißblütigen Südländer. Sie wollte einen Niederländer! So wie jenen, der samstags auf dem Markt der kleinen Stadt steht und Blumen verkauft. Das Firmenschild auf seinem Lastwagen weist den langen Kerl als Jan Bakker aus Utrecht aus. Seinen Kunden erzählt Jan, der ein Witzbold und Charmeur ist, gerne scherzhaft, er sei der verstoßene Sohn Piet Bakkers, des weltgrößten Blumenhändlers. Nicht Jans Aussehen war es, was Linda mochte, sondern sein bezaubernder Akzent. Diese sprachliche Attitüde, die selbst das harte „R“ weich rollte, die leise, tiefe Stimme, die melodisch säuselte wie der Wind über den flachen Niederlanden. Eine Zunge, die sanfte, weiche Laute formte: konnte so ein Mund laut werden? Böses sprechen? Lügen?
Nein, Linda war sicher: aus einem holländischen Mund konnten nur Worte der Liebe und der Zärtlichkeit kommen.
Das würden ihre so genannten Freundinnen nie verstehen können: dass Eine sich aufhebt, sich nicht dem ersten Besten an den Hals wirft, sich nicht mit zweiter Wahl zufrieden gibt. Sollten ihre Freundinnen sie belächeln und verspotten. Es war ihr egal!
Nein...
Das war es nicht.
Linda ärgerte sich über die Sticheleien ihrer Freundinnen. Sie wollte sich nicht mehr länger ärgern lassen. Ihre Freundinnen sollten sich wundern! Das Spotten sollte ihnen vergehen.
Linda schaltete das Licht aus. Im Hinübergleiten ins Traumland hörte sie einen sanft gezupften Gitarrenakkord und eine sonore, rollende Stimme: „Hallo Linda, ich bins, Timotius...“

Linda saß im Bus, der Motor lief. Fahrer und Insassen warteten die Verabschiedung der letzten drei Mädchen von ihren Freunden ab. Nach einer Aufforderung der begleitenden Lehrerin hupte der Busfahrer schließlich, lächelnd. Und endlich löste sich Elke aus Charlys Armen, Sigrid von Bodo und Sabine gab ihrem Ingo einen letzten Kuss. Kurz darauf ließ Elke sich neben Linda in den Sitz fallen und winkte dem zurückbleibenden Freund zu. Sigrid und Sabine taten das Gleiche auf dem Doppelsitz hinter ihr. Linda konnte hören, wie sie ihren Freunden Kusshändchen zuwarfen. Ein nervtötendes Geschnatter setzte ein: Hoffnungen, dass die Freunde treu blieben und ihre Mädchen nicht vergessen in der langen Woche, in der sie auf Schulabschlussfahrt waren. Dass die Mädchen nicht wüssten, wie sie es eine Woche lang ohne die Küsse und Zärtlichkeiten ihrer Freunde aushalten sollten, jammerten sie sich vor. Von Befürchtungen, vor Sehnsucht kaum schlafen zu können während der endlos scheinenden Woche, war die Rede.
„Du hast’s gut, Linda!“, seufzte Sabine, „diese Sorgen hast du nicht!“
„Nein...“, antwortete Linda leise und blickte durch die Scheibe des Busses auf die vorbeiziehenden Häuser ihres Städtchens. „Die Sorge, dass er mir untreu wird oder mich vergisst, hab ich nicht. Weil ich weiß, dass er mich wirklich liebt!“
Elkes Unterkiefer klappte hinunter. Sabine und Sigrid erschienen gleichzeitig über der Rückenlehne des Sitzes.
„Wer?“, fragten die Drei im Chor.
„Timmi, Timotius, mein Verlobter!“, entgegnete Linda, lächelnd.
„Du bist verlobt? Nicht nur einfach einen Freund, verlobt bist du?“ Elke konnte es nicht fassen. Und auch Sigrid fiel aus allen Wolken:
„Warum hast du uns nie davon erzählt? Wer ist es?“
Sabine lächelte. „Du kleine Heimlichtuerin!“, tadelte sie, und drohte Linda augenzwinkernd mit dem Finger. „Da hast du uns ja einiges zu erzählen auf dem Ausflug! Und ich hatte schon befürchtet, es könnte eine langweilige Woche werden!“

Linda ahnte nicht, was sie begonnen hatte. Sie hatte nur Ruhe vor den Sticheleien der anderen haben wollen, sie wollte deren Vermutungen den Boden nehmen. Das Interesse der Mädchen an Timotius überraschte sie; aber schnell bemerkte Linda auch einen gewissen Stolz, eine stille Freude darüber, der Grund für, und die Herrscherin über die Neugier ihrer Freundinnen zu sein.
Tatsächlich war es ihr oft so, als wenn es den erträumten Verlobten gäbe; oft wachte Linda morgens auf und war nicht sicher, ob sie seine Schmeicheleien und Liebesschwüre, seine Liebkosungen und Zärtlichkeiten nur geträumt hatte, oder ob Timotius in der Nacht wirklich bei ihr gewesen war, ihr etwas auf der Gitarre vorgespielt und dazu leise gesungen, sie mit Küssen überhäuft und mit Zärtlichkeiten verwöhnt hatte. Immer häufiger verschwammen Traum und Wirklichkeit ineinander. Und hatten sie sich nicht in den Nächten immer wieder über ihre gemeinsame Zukunft unterhalten?

„Ich darf das eigentlich nicht erzählen, dass wir verlobt sind, ich hab’s ihm versprochen. Außer euch weiß niemand davon, bitte behaltet es für euch!“, sagte Linda leise.
„Auf uns kannst du dich verlassen!“, versicherte Sigrid ihr und schaute sich verschwörerisch um. Die anderen Klassenkameraden waren miteinander beschäftigt, niemand schien sie zu belauschen.
„Das klingt ja richtig abenteuerlich!“, stellte Elke fest und sah sich
ebenfalls nach möglichen Spionen um.
„Nun erzähl doch schon!“, forderte Sabine sie auf.
„Bitte – drängt mich nicht. Ich erzähl euch heute Abend in der Jugendherberge mehr, wenn wir alleine sind. Hier könnten andere mithören!“
Das sahen die drei ein. Sie lenkten das Gespräch wieder auf ihre eigenen Freunde, nur manchmal machten sie eine anzügliche Bemerkung in Richtung Linda, leise und nicht böse gemeint. Linda quittierte das mit einem Lächeln und dem Zeigefinger, der die Lippen verschloss.
Angst, sich zu blamieren, zu verraten, hatte sie nicht. Dafür war Timotius schon ein zu einflussreicher Bestandteil ihres Lebens geworden. Nein, Angst hatte sie nicht. Sie freute sich darauf, von ihrem Verlobten zu erzählen, ihrem heimlichen Verlobten, Geliebten und Liebhaber, ihrem Timmi, ihrem Timotius.

„Wo habt ihr euch kennen gelernt?“, fragte Elke, kaum dass sie im Bett lag. Die vier Mädchen teilten eines der Zimmer in der Jugendherberge am Fuße des Feldbergs. Länger als erwartet hatte die Fahrt dorthin gedauert, ein Autounfall und die damit verbundene Sperrung der Autobahn hatte die geplante Fahrtzeit um mehrere Stunden verlängert. Nach der Ankunft aßen die ausgehungerten Schüler gemeinsam Abendbrot – lecker war es: deftiges Landbrot und würziger Schwarzwälder Schinken. Anschließend: ein kleiner Spaziergang in der näheren Umgebung, und dann gaben Elke, Sigrid und Susanne große Müdigkeit vor, die sie daran hinderte, an den weiteren Geselligkeiten des Abends teil zu nehmen.
„Auf dem Weinfest im letzten Jahr haben wir uns zum ersten Mal gesehen. Und es war Liebe auf den ersten Blick, wisst ihr? Wir sahen uns in die Augen und wussten sofort, dass wir füreinander bestimmt sind“, erzählte Linda verklärten Blickes.
„Meine Güte, dass es so was gibt...“, murmelte Sabine, „sowas kenne ich nur aus den Heftromanen meiner Mutter!“
Mittlerweile lagen die vier Mädchen in ihren Betten, nur eine große Kerze spendete sanftes Licht. Aus Lindas Kassettenradio sang Cat Stevens:

Chop me some broken wood
We’ll start a fire
White warm light the dawn
And help me see
Old Satans tree.
Katmandu -
I’ll soon be seeing you...

Linda ignorierte Sabines Bemerkung. „Seit dem haben wir uns jedes Wochenende getroffen, und manchmal auch in der Woche, immer heimlich, natürlich. Er wohnt ja nicht sehr weit weg, nur eine halbe Autostunde hinter der holländischen Grenze, und ein Auto hat er auch!“
„Und wann habt ihr Euch verlobt?“, wollte Elke wissen.
„Vor zwei Monaten haben wir uns geschworen zu heiraten, bald nachdem ich mit der Schule fertig bin!“
„Ich hab nie einen Ring an deinem Finger gesehen!“, stellte Elke fest.
„Nein, wie denn auch. Ich sagte doch: wir sind heimlich verlobt. Den Ring habe ich versteckt, zuhause. Niemand darf wissen, dass wir verlobt sind!“
„Du bist sechzehn, wenn du mit der Schule fertig bist. Wie alt ist dein Timmi? Und wo wollt ihr heiraten? Du musst einundzwanzig sein, um heiraten zu können!
„Aber nicht in Gretna Green!“
„Gretna Green!“, entfuhr es den dreien, wieder wie im Chor.
„Ja, es war Timmis Idee. Er wusste, dass man in dem schottischen Dorf schon viel früher getraut werden kann, mit sechzehn, oder fünfzehn, sogar. Er ist zwanzig und darf hier auch nicht heiraten. Aber in Gretna Green. Dort wird man vom Dorfschmied getraut, stellt euch vor! Und wenn wir da sind, bleiben wir in Schottland. Vielleicht gehen wir aber auch nach Torremolinos, oder noch weiter weg, nach Marrakesch oder Katmandu. Wir kommen jedenfalls nicht mehr zurück nach Deutschland oder in die Niederlande!“
Sigrid legte die Stirn in Falten. „Und wie kommt ihr dahin, nach Gretna Green und weiter weg? Wovon wollt ihr leben? Und warum darf eigentlich niemand davon erfahren, dass ihr ein Paar seid?“
Einen Moment lang kniff Linda die Lippen zusammen, überlegte.
„Mit seinem Auto kommen wir dahin. Er hat einen Porsche, einen roten Porsche, und den...“
„Einen roten Porsche?“ Elke setzte sich ruckartig im Bett auf.
Misstrauisch sah sie zu Linda hinüber.
„Willst Du uns verkohlen, Linda?“ fragte sie leise und zögernd.
Linda lächelte: „Nein, das will ich nicht Ich habe wohl schon zu viel erzählt, und ihr glaubt mir sowieso nicht. Aber das ist auch egal. Ich bin müde, schlaft gut. Gute Nacht!“, wünschte sie und drehte sich zur Wand.
„Ach komm, Linda, so war es nicht gemeint! Aber du musst zugeben, es ist schon merkwürdig, dass du einen Jungen kennenlernst, der einen Porsche fährt! Die meisten Jungs hier fahren in dem Alter einen Käfer, eine Ente oder einen R4, bestenfalls einen Kadett! Aber einen Porsche...“
„Ich erzähls euch morgen!“, murmelte Linda. Dann schlief sie ein.

„Du darfst ihnen nicht zuviel erzählen, Linda! Sie sind Tratschsusen, so sagt ihr doch, oder?“
„Oh – Timmi, schön, dass du wieder da bist! Ja, so sagen wir, du kennst unsere Sprache sehr gut! Komm, leg die Gitarre aus der Hand und komm zu mir, du Lieber, ich mach dir Platz... Sie werden es nicht weiter erzählen, sie haben es mir versprochen. Und irgendjemandem musste ich von dir und mir erzählen, Timmi, sonst platze ich! Es ist so schwer, dass wir uns immer nur heimlich sehen können, nur nachts, und ich sehne mich so nach dir und deinen Küssen!“
„Und ich sehne mich nach deinen Küssen, Linda!“
Küssend, schmusend und mit langen Gesprächen verbrachte Linda auch diese Nacht.

Am nächsten Tag stand ein Ausflug in den Elsass auf dem Programm. Zum Abschluss der Tagesreise hatte die 10b eine zweistündige Freizeit in Colmar. Die vier Mädchen suchten und fanden ein kleines, etwas außerhalb gelegenes und sehr ruhiges Café, vor dem sie sich an einen der freien Tische in die milde Nachmittagssonne setzten. Bei Rotwein und Weißbrot ließ Linda sich nicht lange bitten und begann zu erzählen.
„Ich hab euch ja gesagt, dass wir es geheim halten müssen. Das ist so, weil Timotius‘ Vater es nicht wissen darf, er würde dem nie zustimmen, schlimmer noch: er würde Timmi den Porsche wegnehmen, den er ihm zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hat, und er würde seinen Sohn im Haus einsperren. Timmi soll einmal das Familiengeschäft übernehmen, versteht ihr?“
„Was für ein Geschäft ist das?“, fragte Sigrid und nippte am Wein.
Linda holte tief Atem und beugte sich über den Tisch zu den dreien vor: „Piet Bakker – sagt euch der Name etwas?“
„Ja, sicher, der holländische Blumenhändler! Meine Eltern bestellen bei ihm alle Pflanzen für unseren Garten!“
„Ja, genau - der ist’s! Und Timmi ist sein Sohn, sein einziges Kind: Timotius Bakker. Und ihr könnt euch wohl vorstellen, dass sein Vater nicht davon begeistert wäre, wenn sein einziger Sohn und Erbe ausgerechnet ein nicht besonders reiches Mädchen aus Deutschland heiraten würde!“
Elke lehnte sich im Stuhl zurück, legte ein Bein über das andere und den Kopf auf die Seite.
„Nicht, dass ich dir nicht glaube, Linda. Aber du musst schon zugeben, dass das alles sehr merkwürdig ist, nicht? Das klingt alles nach Courts-Mahler. Zeig uns doch mal ein Foto von deinem Timmi!“
„Dann glaubt ihr mir halt nicht! Ein Foto von ihm habe ich. Er sieht ein wenig aus wie Cat Stevens, aber ohne Bart. Ich hab das Foto zuhause, ich habs versteckt. Außerdem habe ich Timmi geschworen, es niemandem zu zeigen!“
Linda trank die Neige aus ihrem Glas, stand auf, ging in das Cafe und bezahlte. Elke, Sigrid und Linda sahen sich wortlos aber vielsagend an.

„Siehst du, Linda? Ich hab dich gewarnt: erzähl deinen Freundinnen nicht zuviel, besser gar nicht von uns!“
„Ja, du hattest wohl recht, Tim. Aber nachdem wir im Straßencafé gesessen hatten, habe ich ihnen nichts mehr erzählt. Ich habe überhaupt nicht mehr mit ihnen gesprochen. Sollen sie doch glauben, was sie wollen, ich spreche nicht mehr mit den albernen Gänsen!“
„So ist es gut mein Lieb... Komm, nimm mich in den Arm und streichle mich...“

Die Tage und Nächte in der Jugendherberge und bei den Ausflügen in den Schwarzwald, in seine schönen Städte und Dörfer, an den Rhein, auf den Belchen, zum Kaiserstuhl vergingen, ohne dass Timotius Bakker noch einmal erwähnt wurde. Weder fragten Elke, Sabine und Sigrid danach, noch erzählte Linda von ihm. Das Verhältnis zwischen den Mädchen hatte sich abgekühlt. Gespräche beschränkten sich auf das Notwendigste, auf Höflichkeitsfloskeln, auf Allgemeines: „Würdest du mir bitte die Erdbeermarmelade reichen?“ „Seht mal, das ist das Haus, in dem Dr. Faustus mit dem Tintenglas nach dem Teufel geworfen hat!“
„Bin ich froh, dass wir morgen wieder zurück fahren!“

Am letzten Abend, dem Donnerstagabend, feierte die Klasse Abschied vom Schwarzwald. Die Klassenlehrerin hatte nichts dagegen, dass die Schüler Bier und Wein eingekauft hatten. Nur Schnaps war verboten. Und so saß die Klasse lange im großen Speise- und Aufenthaltsraum der Jugendherberge beieinander. Sie erzählten sich Anekdoten aus den gemeinsam verbrachten Schuljahren. Das große Stereoradio spielte Musik, einige tanzten, einige schmusten, Liebespärchen hatten sich gebildet.
Linda, Elke, Sigrid und Sabine saßen wieder beisammen. „Die vier Unzertrennlichen“, witzelte die Lehrerin, was den vier Mädchen ein Lächeln entlockte. Still war es am Tisch. Die Mädchen summten und sangen die Lieder mit, beobachteten andere beim Tanzen, tranken hin und wieder vom süffigen Badischen Wein, der nach und nach die Zungen löste und die Wortlosigkeit zwischen den Vieren beendete. Elke freute sich auf ihren Freund, Sigrid konnte es nicht erwarten, dem ihren wieder in den Armen zu liegen, und Sabine war sicher, ein tolles Wochenende mit Ingo vor sich zu haben. Linda hörte ihren Freundinnen zu.
Elke war es, die auf das seit Tagen nicht mehr angesprochene Thema kam. Das Thema, über das sich die Drei ausführlich unterhalten hatten, wenn Linda nicht zugegen war. Ihre Neugier war gewaltig.
„Sag mal Linda, was mich interessiert, du wolltest es uns noch erzählen: wovon wollt ihr Leben, wenn ihr in Schottland seid, oder sogar in Nepal?“
Linda zierte sich. „Ihr glaubt mir sowieso nicht und wollt euch nur lustig machen!“
„Ach – nein! Es tut mir leid, dass ich so misstrauisch war. Aber es klingt ja alles auch sehr... abenteuerlich, eben. Nun komm schon, sei nicht so!“, redete Elke auf Linda ein, ihre Bedenken zu zerstreuen.
„Wir brauchen den Porsche“, begann Linda, nachdem auch Sigrid und Sabine versprochen hatten, sich nicht über sie zu mokieren. „Darum muss ja alles geheim bleiben, das ist ein wesentlicher Teil unseres Plans. Den Porsche verkauft Timmi, bevor wir durchbrennen. Von dem Geld werden wir lange, lange leben können. Und wir werden Geld verdienen: Timmi ist Künstler, Sänger, Dichter. Und er wird auftreten und dafür Geld bekommen. Nicht sehr viel, aber immerhin. Außerdem kennt er sich gut mit Landwirtschaft aus, kein Wunder, er ist ja auf einer Plantage groß geworden, sozusagen. Wir werden Obst und Gemüse anbauen und es auf den Märkten verkaufen!“
„Und die Schule? Du wolltest doch nach den Sommerferien weiter zur Schule gehen, bist doch schon auf der Handelsschule angemeldet!“
„Ja, zunächst mal, ein paar Wochen, bis wir abhauen. Das musste ich ja machen, mich irgendwo bewerben, damit meine Eltern ruhig sind und keine Fragen stellen!“
Damit schwieg Linda. Die drei anderen nickten.
„Toll!“, beendete Sabine das Schweigen. „So romantisch ist das: sein eigener Herr zu sein, musizieren, dabei genug Geld verdienen und besitzen, um bescheiden, aber sorgenfrei leben zu können...“ Sigrid stimmte dem zu, verzückt. Nur Elke schwieg.

„Linda, Linda, das war nicht gut... Sie werden nicht locker lassen! Sie werden immer weiter bohren, werden immer mehr nach mir fragen und immer mehr von mir wissen wollen...“
„Ach was, Timmi! Du kennst sie nicht, sie sind meine Freundinnen! Sie freuen sich mit mir, ich vertraue ihnen! Sei unbesorgt, du Lieber. Bald ist die gemeinsame Schulzeit zu Ende, ein paar Tage nur noch. Dann werden wir uns aus den Augen verlieren, die anderen Mädchen und ich. Und sie werden ihr Interesse an dir verlieren. Sie sind neidisch, weil du und ich so ein aufregendes Leben vor uns haben, und sie ein so langweiliges... Und nun sorge dich nicht länger, halt mich fest im Arm und schlaf... Schlaf mit mir...“

Nach der Abschlussfahrt brach die letzte gemeinsame Schulwoche an. Es sollte eine ruhige Woche werden, alle Arbeiten waren geschrieben, die Noten der Abschlusszeugnisse standen bereits fest. Die Unterrichtsstunden wurden zu Plauderstunden. Die Schüler erzählten von ihren Zukunftsplänen: weiterführende Schule, Berufsausbildung, und dann mal sehen...
„Heiraten will noch niemand von euch?“, fragte die Lehrerin unvermittelt - scherzhaft war‘s gemeint. Viele lachten.
„Doch!“, sagte Elke leise, aber vernehmlich, als sich die Heiterkeit gelegt hatte. Und sah Linda an. Die blickte zurück und wurde rot.
„Linda will heiraten!“, fuhr Elke fort und lächelte kalt und boshaft.
Sigrid und Sabine unterdrückten ihr Lachen.
„Dazu bist du doch noch zu jung!“, bemerkte die Lehrerin verwundert an Linda gewandt.
„Aber nicht in Gretna Green!“, erklärte Elke theatralisch.
„Ach, ihr Träumer!“, rief die Lehrerin aus, „Gretna Green, der Dorfschmied, der die Minderjährigen traut - das ist vorbei! Seit gut einem Jahr gibt’s das nicht mehr, es ist verboten worden! Zu viele Jugendliche sind durchgebrannt! Gretna Green ist genau so ein Jugendtraum wie Katmandu, da wollen auch alle hin, aufs Dach der Welt... Die meisten Ausreißer kommen nicht mal mehr über die Grenze!“
„Na, dann müsst ihr euch ja einen anderen Verwendungszweck für den Erlös aus dem Porsche-Verkauf einfallen lassen!“, sagte Sabine, und bemühte sich nicht mehr länger, ihr Lachen zu verschlucken. Sigrid und Elke fielen in das Lachen ein. Linda biss sich auf die Unterlippe, starrte auf einen unbestimmten Punkt auf ihrem Tisch und schien in sich zusammen zu sinken.
„Einen Porsche verkaufen? Wovon redet ihr? Lasst mich mitlachen!“, forderte die Lehrerin die drei auf.
„Ihr könntet ja ein Geschäft aufmachen, für holländischen Käse!“, höhnte Sigrid.
„Oder als Musikant und Märchenerzählerin auf Jahrmärkten auftreten!“, trat Sabine nach.
Linda, rot vor Scham und Wut, nahm ihre Schultasche und verließ schluchzend das Klassenzimmer.
Auf dem Flur blieb sie stehen, trocknete Tränen. Das Lachen im Klassenzimmer wurde immer lauter, immer hämischer. Sie konnte es hören. Die ganze Klasse lachte, lachte über Linda und Timotius Bakker.

Linda hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und weigerte sich beharrlich, es zu verlassen. Nicht einmal, um mit den Eltern zum Abend zu essen.
„Ich habe keinen Hunger, Mama!“, erklärte sie ihrer besorgten Mutter wiederholt. Und das stimmte. Das Hohnlachen der ganzen Klasse hatte sich wie Blei auf Lindas Magen gelegt. Sie würde nicht mehr dort hingehen. Sie war zum Gespött geworden, weil sie ihren vermeintlichen Freundinnen vertraut hatte. Und die hatten hinter ihrem Rücken intrigiert, sich über Linda lustig gemacht und ihr Geheimnis an die Schulklasse verraten.
Es war längst dunkel, und es war still im Haus. Alles schlief. Nur Linda lag wach, bei Kerzenlicht, und lauschte Cat Stevens, der leise sang:

Who’ll be my love
You’ll be my love
You’ll be my sky above
Who’ll be my light
You’ll be my light
You’ll be my day and night
You’ll be mine tonight

Linda sah aus dem Fenster ihres Zimmers auf die beleuchtete Straße. Sie war beschämt und blamiert. Sicher - die Schule war bald vorbei. Aber sie lebte in einer kleinen Stadt. Noch lange würde sie das Gespött der Leute sein, dafür würden ihre falschen Freundinnen sorgen, das war sicher. Linda wünschte sich weg, irgendwo hin, ganz weit weg.
„Timmi, warum kommst du nicht und holst mich und bringst mich weg von hier, ganz weit weg, irgendwohin wo niemand mich kennt, wo niemand dich kennt, wo wir für uns sein können, uns lieb haben und immer zusammen sein...“
„Ich komme doch mein Lieb, ich bin schon auf dem Weg zu dir...“

Linda sah von ihrem Fenster aus in der dunklen Seitenstraße zwei Autoscheinwerfer aufleuchten. Schnell näherten sie sich der Kreuzung. Der Fahrer setzte den Blinker und das Auto bog in Lindas Straße ein. Ein roter Sportwagen, ein Porsche, hielt unter der Laterne, die Lindas Elternhaus gegenüberstand und die Straße matt beleuchtete. Das Fenster auf der Fahrerseite senkte sich. Eine Hand erschien und winkte Linda zu.
„Timmi...! Timotius...! Ich komme!“


Herrlingen. Seit dem vergangenen Dienstag wird die 15-jährige Linda Herkand vermisst. Linda ist 1,80 m groß, schlank und hat blondes, gelocktes Haar. Zuletzt trug sie eine blaue Jeans, rote Segeltuchschuhe und eine weiße Bluse. Möglicherweise befindet sie sich in Begleitung eines jungen Mannes, der einen roten Porsche mit niederländischem Kennzeichen fährt. Hinweise über Lindas Aufenthalt nimmt jede Polizeidienststelle an.

 

Hallo Bobo!

Eine guterzählte und sehr flüssige Geschichte. Besonders gut hat mir gefalllen, wie Du die Dialoge und Gedichte/Lieder eingefügt hast, es passt alles zusammen. Die Dialoge erscheinen mir stimmig.
Ebenfalls sehr gelungen finde ich den Schluss, damit rechnet man als Leser nicht, aber er rundet ab.
An manchen Stellen gleitest Du leider ein weinig in Standartformulierungen und Klischees ab, was mich etwas gestört hat.
Und was mir noch aufgefallen ist... : "Timotheus... was für ein Name" ... in der restlichen Geschichte ist von Timotius die Rede. Absicht?

Ansonsten aber sehr gut erzählt.

schöne Grüße
Anne

 

Hallo Anne,

vielen Dank, dass Du Dir Zeit für das lange Stück und eine nette Kritik genommen hast!
Interessieren würde mich natürlich, welche Textstellen Dir platt oder abgegriffen erscheinen.
Die Wandlung vom Timotheus zum Timotius ist Absicht.

Lieber Gruß
Bobo

 

Hallo Bobo nochmal!

Ich hab mal ein paar Sachen rausgesucht...

"Augen, in denen ein Mädchen versinken konnte." - fehtl nur noch, dass sie blau sind...diese Formulierung ist schon extrem geläufig und hat den Reiz verloren, finde ich.

"Die Schülerinnen und Schüler der 10b packten ihre Schulsachen ein. Die Jungs: laut und polternd, wie losgelassene junge Hunde.
Die Mädchen eher leise, tuschelnd, kichernd." - sooo lange ist meine eigene Schulzeit noch nicht her...die Mädchen sind genauso laut und selbstbewusst wie die Jungs. Die Rollen, die Du hier zuordnest, finde ich eher klischeehaft.

"„Du kleine Heimlichtuerin!“, tadelte sie, und drohte Linda augenzwinkernd mit dem Finger. „Da hast du uns ja einiges zu erzählen auf dem Ausflug!"- diese Szene erscheint mir wie in einem Bauerntheater irgendwie, sehr übertireben...

"tranken hin und wieder vom süffigen Badischen Wein," - badischen, denke ich.

"Auf dem Flur blieb sie stehen, trocknete Tränen. Das Lachen im Klassenzimmer wurde immer lauter, immer hämischer. Sie konnte es hören. Die ganze Klasse lachte, lachte über Linda und Timotius Bakker." - An dieser Stelle wird es etwas unglaubwürdig, meiner Meinung nach. Wenn ein Schüler den Raum verllässt, sichtlich die Beherrschung verlieert, spätestens dann schreiten die Lehrer normal schon ein, sorgen für Ruhe in der Klasse und kümmern sich um den Schüler...

ich hoffe, Du kannst mit den Ausführungen etwas anfangen, vieles davon ist sicher auch subjektive Sicht. Hoffentlich kommentiert hier noch jemand, damit Du mehrere Meinungn hast, der Text lohnt sich nämlich schon. :)

liebe Grüße
Anne

 

Hallo Anne,

danke!
Ja, das eine oder andere werde ich umformulieren, die tiefen Augen und das Bauerntheater auf jeden Fall! ;)
Allerdings meine ich, "Badischer" ist richtig, ich sehe es als Eigenname an, lasse mich aber gerne belehren...

Lieber Gruß
Bobo

 

Hi!
Mich würde mal interessieren, wann deine Geschichte spielt. Mit kommt es vor als könnte man sie Anfang der 70er einordnen. Wenn ja, gibt es dafür einen Grund?

 

Hallo Christian,
ja, Anfang der 70er stimmt genau.
Deine Frage nach dem Grund verwirrt mich ein wenig. Ist das nicht egal?
Der Grund ist dieser: weil ich in jener Zeit einen Teil meiner Jugendjahre verbracht habe, und weil ich mich noch gut an die Träumereien und Spinnereien um Greta Green, Torremolinos und Katmandu entsinne. Gerne entsinne. Und weil ich Cat Stevens immer noch gerne höre. ;)

Gruß
Bobo

 

Hi!
Selbstverständlich ist es im Grunde egal, es ist mir nur aufgefallen.
Weißt du, mich hat einfach nach dem Lesen sie Frage beschäftigt, was aus Linda geworden ist. Wäre doch bestimmt interessant, wenn es irgendwann mal eine Fortsetzung gäbe...
Linda dreißig Jahre später, sie hat fast ihr ganzes Leben auf der Straße gelebt, und plötzlich begegnet sie in der dunklen Seitenstraße am Bahnhof, wo sie im Müll nach etwas Brauchbarem sucht einem Niederländer namens Timotius *g*
Das war es jedenfalls, was mir nach deinem Text durch den Kopf schoss, und ich danke dir, dass du meine Fantasie angeregt hast ;-)
Übrigens... Cat Stevens höre ich auch gerne.

 

Hallo Christian,

"Wäre doch bestimmt interessant, wenn es irgendwann mal eine Fortsetzung gäbe..."

...ich denke darüber nach. ;)

gruß
bobo

 

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