- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 15
Tropfsteinhöhlen
Sonnenstrahlen glitten durch die Ritzen der Vorhänge und malten geschwungene Muster aus Licht auf den Boden. Die Sonne ging gerade hellrot über dem Meer auf und stieg an den wolkenlosen Himmel. In dieser morgendlichen Stille erwachte die Küste Spaniens zum Leben.
Der Biologie-Leistungskurs des Charles-Darwin-Gymnasiums war hier auf Exkurs, um Flora und Fauna zu untersuchen. Eine angenehm frische Brise wehte durch das geöffnete Fenster des Hotelzimmers. Joline streckte sich verschlafen. „Guten Morgen, Sina! Aufstehen!“, rief sie ihrer Zimmergenossin zu. Sina, ihre beste Freundin, schmiss sogleich ein Kissen nach ihr und grummelte: „10 Minuten noch! Bitte!“ Doch Joline ließ nicht locker. Sie grinste schelmisch und antwortete: „Ich will nichts vom Tag verpassen! Los, heute geht´s zur Tropfsteinhöhle!“
Mit dem Bus wurde der LK die Küste entlang zu der Höhle gebracht. Es war von außen eine riesige Felswand aus dunklem Gestein und mit viel feuchtem Moos bedeckt. Ein modriger Geruch schlug den Schülern entgegen, als sie die kleine Empfangshalle betraten. Mehrere Stahltüren führten von hier in die Katakomben der Tropfsteinhöhlen. Ein paar Arbeiter mit orangenen Sicherheitshelmen liefen mit Werkzeugen und kleinen Bohrern herum. Man konnte leises Rumoren von tief unter der Erde vernehmen. Anscheinend waren hier Bauarbeiten im Gange.
„Kann so eine Höhle nicht einstürzen, wenn man die falsche Stelle anbohrt?“ Man konnte Sinas Misstrauen an den Augen ablesen. Ein bisschen ängstlich schmiegte sie sich an ihren Freund Timo, der einen Arm um sie legte. „Keine Panik, die Leute hier wissen schon was sie machen“, entgegnete er selbstbewusst. Sina war jedoch nicht wirklich beruhigt: „Ich sehe hier gar keine anderen Touristen…eine Attraktion scheint das ja nicht gerade zu sein?!“
Da trat Nick, der langjährige Freund von Joline, zu den beiden Mädchen und Timo. Er legte seine starken Arme um Joline und sie schmiegte sich lächelnd an ihn. In dem Moment rief ihre Lehrerin Frau Illbruck alle zu sich. Gemeinsam mit drei weiteren fremden Touristen wurden sie nun von einem Höhlenführer in den Berg geführt. Nach der Tür folgte eine lange Steintreppe mit flachen Stufen, die feucht und modrig aussahen. Höchstens zwei Menschen konnten nebeneinander in dem schmalen Flur die Treppen hinabsteigen. Beleuchtet wurde der grob in den Stein gebohrte Gang von schwachen Lampen, die am Geländer hingen. Er mündete in einer riesigen Höhle, die zur Hälfte mit einem gewaltigen Bergsee gefüllt war. Das Wasser war tiefschwarz und lag still nur wenige Meter unter der Decke im Gestein. Die Wasseroberfläche spiegelte den dunklen Fels und am Ufer türmten sich gewaltige Stalagmiten bis hoch zur Decke. Sie sahen glitschig und schleimig aus und viele hatten einen Gegenpart, der von der Decke hing. Von diesen Stalaktiten tropfte regelmäßig Wasser hinunter. Der riesige Bergsee bewirkte eine gruselige Atmosphäre in der Höhle. Kleine Infotafeln mit Beschreibungen waren in den Fels eingelassen, um die vielen Tropfsteine zu beschreiben.
Nach den ersten Minuten des Umschauens begann der Höhlenführer mit seinem Vortrag. Er erzählte von der Entstehung und dem Fund dieser Höhlen und dem Bergsee. Hier unten in der Tropfsteinhöhle roch es modrig, es war kühl und dämmrig und auch ein bisschen gruselig. Plötzlich war ein lautes Dröhnen zu hören, die Wände vibrierten und der Boden erzitterte. „Keine Panik, das sind die Bauarbeiten an unserer neu entdeckten Höhle!“, rief da auch schon der Höhlenführer zur Beruhigung. Die Erschütterungen ließen die Zähne der Schüler klappern und das Vibrieren im Boden kitzelte in den Beinen. Der Höhlenführer lotste seine Gruppe in einen schmalen Seitengang aus der Höhle heraus, während das Dröhnen nicht nachließ. Lautes Scharren und Krachen war zu vernehmen. Sina wurde immer unruhiger und blickte hoch zur Decke. Feine Staubschwaden rieselten auf sie herab und kitzelten in der Nase. Das Gestein rechts von ihnen knackte leise. Es erzitterte so heftig, dass die Besucher nun Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht bekamen. Tief im Fels ertönte ein Rumpeln und man hörte ein Knirschen als würde Stein an Stein reiben. Die erschrockenen Schüler riefen laut durcheinander und fragten sich was los war. Das konnte doch nicht mehr normal sein?!
So langsam wurde auch Joline mulmig zumute. Die Wände rumorten jetzt lauter und wackelten bedrohlich. Von der Decke rieselte nun mehr Staub und ganze Steine kamen herunter. „Achtung!“ , plötzlich löste sich ein riesiger Felsbrocken mit einem gewaltigen Krachen aus der Decke und hätte Nick unter sich begraben, wenn Joline ihn nicht nach vorne geschubst hätte. Er stolperte erschrocken und völlig verdattert nach vorne, entkam dem tödlichen Geschoss nur knapp. „Ach du scheiße“, Nick rang nach Atem. Der Felsbrocken war so groß, dass er den Tunnel vollständig blockierte. Der ganze Berg erzitterte jetzt so heftig, dass jeder Mühe hatte auf den Beinen zu bleiben. Mehrere kleinere Steine fielen noch von der Decke, wo eben der Felsbrocken herausgebrochen war. „Joline!?“, brüllte Nick und drückte verzweifelt gegen den rauen Stein mitten im Tunnel. Die Erschütterungen ließen ihn schwanken, doch er klammerte sich an den Fels und rief noch einmal lauter nach ihr. Er hoffte inständig, dass niemand verletzt oder begraben worden war. Kein Laut war von drüben zu hören. Nur das Rumpeln im Berg dauerte an. Das leichte Zittern des Bodens nahm wieder zu, es schwankte stark und aus den Wänden bröckelten noch mehr Steine.
„Joline! Sina!“, Nick brüllte sich mittlerweile die Seele aus dem Leib, doch es kam keine Antwort. „Scheiße, Scheiße, scheiße!“ Verzweiflung schwang nun in seinen Flüchen mit, während er den riesigen Felsbrocken nach einer Lücke absuchte. Timo drehte sich zu ihm um und rief: „Der Gang stürzt ein! Wir müssen sofort hier raus!“ Panik stand in seinem Gesicht. Als Nick flüchtig an ihm vorbei schaute, sah er die anderen aus der Klasse den zitternden Gang entlangrennen. Währenddessen fielen immer mehr Steine von der Decke oder brachen aus den Wänden heraus. Der Tunnel war bereits übersät von Felsbrocken. „Joline und Sina sind da drüben! Willst du sie einfach zurücklassen?“, Wut stieg in Nick auf. Er würde seine Freundin nicht einfach ihrem Schicksal überlassen.
Verzweifelt hämmerte Nick gegen das dunkle Gestein. Das Rumoren und Knacken wurde lauter, immer mehr Steine rieselten von oben nach und krachten auf den Boden. Durch den Lärm konnte man keine Stimmen von der anderen Seite ausmachen. Nun machte sich eine große Angst in Nick breit. Was wenn die beiden Mädchen begraben wurden? Er sie nie wieder sehen könnte? Heiße Tränen rannen ihm über die Wange. Energisch wischte er sie sich weg. Er durfte jetzt keine Schwäche zeigen. Sie lebten. Sie waren auf der anderen Seite und rannten den Tunnel zurück zu der großen Höhle mit dem See. Zuversichtlich drehte sich Nick schließlich um und schubste Timo Richtung Ausgang. Es tat weh, nicht zu wissen was mit Joline war, doch hier in dem Gang konnten sie auch nicht bleiben. Er konnte jeden Moment ganz einstürzen. Timo stolperte vor ihm über die Steine und Felsbrocken durch den Tunnel, stützte sich an den schwankenden Wänden ab und rief immer wieder: „Schneller! Es stürzt gleich ein!“ Nicks Gedanken überschlugen sich. Er musste sich auf den Weg konzentrieren, der immer wieder erzitterte und mit Steinen verschüttet wurde, doch seine Gedanken kreisten um Joline. Hoffentlich waren die Mädels am Leben.
Plötzlich ertönte ein tiefes Donnern direkt hinter ihm und mit einem gewaltigen Krachen stürzte die gesamte Tunneldecke hinter ihnen ein. Eine Staubwolke drängte sich in den Gang und nahm den beiden Jungs die Luft zum Atmen. Das Erschüttern riss sie zu Boden und ein scharfkantiger Felsbrocken streifte Nick am Oberarm. Sofort schoss warmes Blut seine Haut hinab und vermischte sich mit dem Staub und dem Dreck. Hustend und Keuchend half Timo Nick auf die Beine und stütze ihn. „Alles okay?“, schrie er gegen den Lärm des einstürzenden Berges an. Dabei sah er besorgt auf Nicks blutverschmierten Arm. Stechender Schmerz jagte durch Nicks Körper. Benommen rappelte er sich auf, konzentrierte sich und antwortete: „Alles okay. Lass uns endlich verschwinden“ Die beiden kletterten flink über Steintrümmer vor ihnen und ignorierten die einstürzende Decke hinter ihnen so gut es ging. Die Staubwolke brannte in ihren Lungen. Blinzelnd und hustend kämpften die beiden sich durch den einstürzenden Gang und ignorierten ihre schmerzenden Muskeln. Ein Zurück gab es nicht. Wenn sie einmal länger hinfallen würden, hätte die Decke sie erreicht und würde sie unter sich begraben.
Und endlich erreichten die beiden das Ende des Tunnels. So schnell ihre müden Beine sie noch tragen konnten, rannten sie aus dem Gang und stolperten in die Eingangshalle mit dem Empfangstresen. Der Tunnel hinter ihnen schloss sich mit einem letzten Knirschen und Rieseln. Die Öffnung war vollkommen verschwunden, als wäre hier nie ein Tunnel gewesen. Völlig erschöpft fiel Nick auf die Knie. Sie hatten es geschafft. Sein Körper zitterte, das Adrenalin hielt seinen Körper aufrecht. Alle Muskeln im Körper schmerzten, sein Herz raste wild und sein Atem ging stoßweise. Joline war noch im Berg, wahrscheinlich sogar verschüttet unter Tonnen von Gestein. Am Ende seiner Kräfte kauerte er sich auf dem sandigen Boden der Höhle zusammen. Das Dröhnen des Berges war hier kaum noch zu hören, anscheinend stürzten lediglich die unteren Höhlen ein. Die Luft war voll von Staub, der allerdings nur noch im Rachen kratzte. Nick war alles egal. Er hörte kaum noch etwas und nahm sein Umfeld nur verschwommen wahr. Seine Augen füllten sich wieder mit Tränen und diesmal war es ihm egal, wer es sehen konnte. Seine Kehle war wie zugeschnürt und ein dicker Kloß im Hals erschwerte ihm das Schlucken. Vorbei. Vorbei, alles vorbei. Die Erleichterung, dass er es lebend aus der Höhle geschafft hatte, konnte die Gedanken an seine Freundin nicht verdrängen. Eine tiefe Leere, die sämtliche Gefühle schluckte, breitete sich in ihm aus. Seine wirren Gedanken erzeugten Bilder vor seinem inneren Auge. Bilder von Joline und Sina, wie sie unter den Steinen zerquetscht wurden, nach Hilfe schrien und verzweifelt versuchten, unter dem Schutt hervorzukommen. Vergeblich.
Doch plötzlich kam Nick eine Idee. Wenn der Tunnel zum Bergsee noch intakt war, gab es eine Möglichkeit, wie Joline und Sina herauskamen. Vorausgesetzt sie waren am Leben. Ein kleiner Hoffnungsschimmer flackerte in ihm auf. Er ließ sich von der Flamme wärmen, nährte sich von ihrer Kraft. „Sie lebt“, flüsterte er immer wieder vor sich hin.
Nach einem tiefen Atemzug fasste er die kalte Türklinke und öffnete die schwere Stahltür. Der Tunnel dahinter war leer, aber tatsächlich frei. Eifrig nahm er immer schneller Stufe für Stufe. Der Berg vibrierte nur noch leicht und man konnte ein leises Grollen weiter entfernt wahrnehmen. Der Tunnel war unversehrt bis auf ein paar abgeplatzte Felsklumpen und Staub, der von der bebenden Decke gerieselt war. Plötzlich tauchte Timo hinter ihm auf. Er schnaufte schwer und krächzte erschöpft: „Warte, ich komme mit!“ Anscheinend hatte ihn Nick mit seinem Hoffnungsschimmer angesteckt. Sie würden ihre Freundinnen nicht aufgeben. Nicht, solange noch Hoffnung bestand.
Man konnte leise Stimmen vom Eingang oben hören. Rettungsleute hatten den Unfallort erreicht und eilten mit passenden Werkzeugen den beiden hinterher. Doch bevor sie die große Höhle mit dem See erreichen konnten, versperrte ihnen der eingestürzte Tunnel den Durchgang. Auch hier war anscheinend die Decke runtergekommen. Ganz oben bemerkte Nick ein etwa ein Meter breites Loch, das auf die andere Seite führte. Ein schwacher Lichtschimmer drang von dort herüber. „Sina!?“, brüllte da Timo verzweifelt los. Und tatsächlich konnte man ein leises Rufen von der anderen Seite vernehmen. Die beiden Jungs strahlten sich an. Eifrig kletterte Nick die Felsbrocken hinauf zu dem kleinen Loch unter der Decke. „Joline!? Sina!?“, rief er direkt hindurch. Sein Herz machte einen Satz, als Joline unvermittelt antwortete: „Ja wir sind hier“ Es klang schwach und erschöpft, aber sie lebten. Wohlige Schauer der Erleichterung jagten durch Nick hindurch. Seine Hände und Beine begannen zu zittern. Sein Bauch kribbelte vor freudiger Erwartung und zügelloser Erleichterung.
„Die Höhle hinter uns mit dem Bergsee ist vorhin eingestürzt, seitdem hocken wir hier direkt vor dem Tunnel in einer kleinen unversehrten Nische!“, erklärte eine Männerstimme. Anscheinend hatte sich auch einer der fremden Touristen retten können. Nick blickte zu dem kleinen Loch. Mit vereinten Kräften würden sie sie da durchgezwängt bekommen. „Ist irgendwer verletzt?“, fragte Nick in die Dunkelheit der Nische hinein. „Sina hat sich ein Bein gebrochen. Ansonsten sind wir okay“, antwortete Joline. Dann fügte sie erleichtert hinzu: „Ich wusste du kommst zurück“ Ein wohliges Kribbeln durchjagte ihn beim Klang ihrer vertrauten Stimme. „Ich hol dich da raus“, erwiderte er zuversichtlich.
Endlich kamen vier Rettungsmänner durch den engen Gang gerannt. Sie hatten ein dickes Seil dabei und Werkzeug zum Graben. Einer von ihnen wandte sich nun an Nick, während ein anderer durch das Loch spähte. Nick erklärte dem Rettungsmann die Lage und beobachtete dann zusammen mit Timo, wie die Männer das Seil hindurch schoben. Timo lief ungeduldig auf und ab und kaute an seinem Daumennagel. Als erstes kam die verletzte Sina aus dem Loch gekrochen. Sie war überall voll Dreck und Staub. Im Gesicht hatte sich dieser mit Tränen vermischt und klebte feucht an den Wangen. Doch als sie befreit war, konnte ihr Grinsen breiter nicht sein. Ein Rettungsmann trug sie den Schutthaufen hinab und übergab sie in Timos wartende Arme. Der schloss sie sofort in eine feste Umarmung und ließ für lange Minuten nicht los.
Als nächstes kam der fremde Mann herausgeklettert. Nick grummelte unzufrieden und ungeduldig vor sich hin. Er wollte endlich Joline in Sicherheit wissen. Und endlich krabbelte auch sie aus der Bergnische. Völlig verdreckt und zittrig kletterte sie den kleinen Hang runter und ließ sich in Nicks Arme fallen. Ihre Beine gaben nach und er hob sie auf seine Arme. Wie ein Klammeräffchen hing sie nun an ihm und bebte vor Erschöpfung. Nick drückte sein Gesicht an ihren Hals und ließ zu, dass heiße Tränen über seine Haut liefen. Er verspürte ein ungeheures Glücksgefühl, das ihn zu zittern beginnen ließ. So fest er konnte drückte er Joline an sich, hielt sie ganz fest und weinte vor Erleichterung. Überall hatte sie kleine Schürfwunden, die ein wenig bluteten. Sie schmiegte ihr Gesicht an Nicks Schulter, atmete seinen vertrauten Geruch ein und ließ ebenfalls ihren Tränen freien Lauf. Als sie zusammen mit den anderen in der Nische begraben worden war, hatte sie schon fast aufgegeben. In völliger Dunkelheit sitzend, hatten sie dem Grollen im Berg gelauscht und gebetet, dass ihre Nische nicht einstürzen würde. Sie konnten nichts tun, außer still sitzen und warten. Warten auf das Ende oder die Rettung.
Einer der Rettungskräfte scheuchte sie Richtung Ausgang. Oben vor der Höhle hatte sich eine große Menschentraube versammelt, die von den Sirenen und dem Lärm angelockt worden war. Die Sanitäter hatten alle Hände voll zu tun, kümmerten sich um alle Verletzungen und verteilten Decken. Die Rettungsmannschaft konnte noch zwei weitere Verschüttete retten, doch von den übrigen Höhlenarbeitern fehlte jede Spur. Mittlerweile war auch die Polizei eingetroffen und es wurde viel durcheinander geredet und über die Ursachen des Unfalls spekuliert. Keiner sprach viel, es herrschte eine sehr bedrückte Stimmung, obwohl sich alle freuten, heil aus der Sache rausgekommen zu sein.