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Tso'ar, die Graue
Regen, Regen, und immer wieder Regen. Er scheint kein Ende zu nehmen in dieser Stadt ohne Zukunft. Sie sagen, man gewöhnt sich daran, mit der Zeit – und Zeit ist genug vorhanden an einem Ort wie diesem. Aber ich ahne mittlerweile, welchen Preis man für die Gewöhnung bezahlt. Der Regen höhlt die Träume der Bewohner aus, spült ihre Hoffnungen durch Tausende von Abflußrohren und Gullys davon, schleift die Kanten und Ecken glatt und schwemmt die Farben ins Meer. Die ältesten Bewohner, so sagt man, hätten Seelen so farblos und durchscheinend wie Fischlaich, ihre Träume seien Symphonien ewigen Graus, unterlegt vom nie enden wollenden Plätschern der verzögerten Sintflut, die tagtäglich auf die Stadt Tso'ar niedergeht.
Tso'ar. Zuflucht. Verflucht.
Ich lebe hier. Oder, um die Dinge beim Namen zu nennen: Ich bin hier gefangen.
*
Das Rauschen wird lauter, schwillt an zu einem schäumenden Crescendo, ebbt wieder ab, nur um Atem zu holen für ein tosendes Comeback. Es ist dunkel hier, unter der Stadt, und es stinkt nach Fisch und Öl. Trotzdem kommt der Mann immer wieder hierher, denn es ist der einzige Ort, an dem man sich ohne Schutz im Freien aufhalten kann. Und der einzige, an dem die See das Geräusch des Regens übertönt.
Die schwarzen Wassermassen, die sich hundert Meter weiter unten an den Tragpfeilern der Plattform brechen, lassen den Regen in der Tat wie das kleinere Übel erscheinen.
Seelenverschlinger. Es vergeht kein Monat, in dem nicht irgendein Unglücklicher die Erlösung in den Fluten sucht. Meist sind es die Jungen und Unerfahrenen, die der Regen in den Wahnsinn treibt.
Sie haben es noch nicht geschafft, das Hoffen zu verlernen.
Der schmale Balkon am unteren Ende des Gerüsts ist leer, wie immer. Der Pfeiler in seinem Rücken schützt ihn vor dem Wind, der einen Menschen vermutlich ohne Weiteres über die Brüstung geschleudert hätte. Ganz weit droben ertönt ein metallenes Rattern und Quietschen, als sich eine der Luken im Bauch der Plattform öffnet und vier schwarzglänzende Ketten herabsinken. Das riesige Netz, das zwischen ihnen befestigt ist, flattert so wild, dass man meint, es müsse sich jeden Moment losreißen. Aber die Befestigung hält dem Wind stand und es taucht wenige Minuten später geräuschlos ins Wasser.
Fisch. Wie er ihn zu hassen gelernt hat.
In gewisser Weise ist er schlimmer zu ertragen als der Regen.
Ah, die Ironie! Ob Gott gerade lacht?
*
Der alte Mann sitzt an seinem Schreibtisch und lässt den Blick durchs Fenster nach draußen schweifen. Es ist der ewig gleiche Anblick: Graues Meer. Graue Stadt. Grauer Himmel.
Farblos wie die Gegenwart und die Zukunft, hier in Tso'ar.
Nur die Vergangenheit hat der Regen noch nicht vollständig ausbleichen können, und manche Erinnerungen sind ihm kostbarer als die bloße Existenz. Er wagt es nicht, sie öfter als ein paarmal im Monat (Jahr?, Zeitalter?) aus dem Schatzkästchen seines Gedächtnisses hervor zu kramen. Sie sollen ihre leuchtenden Farben nicht ans Zwielicht verlieren, sollen unversehrt bleiben und ihm die besonders grauen Stunden (Tage?, Wochen?) bunt malen.
Er ist wieder der Hirtenjunge, der mit den Zicklein um die Wette rennt. Seine Schritte wirbeln Staub auf, feiner als das Mehl, mit dem seine Mutter die duftenden Fladen backt. Die Sonne trocknet seine Stirn, bevor der Schweiß ihm in die Augen rinnen kann. Vögel schießen wie Pfeile durchs Himmelsblau.
Könnte eine Seele lachen, dann hätte seine in jenen Stunden über's ganze Gesicht gestrahlt, heller noch als die Sonne am Wüstenhimmel.
Der alte Mann seufzt; sein Blick wandert wieder aus dem Fenster.
Es wird der Zeitpunkt kommen. Vielleicht steht der Tag schon fest.
*
Du solltest langsam gelernt haben, dich mit dem Leben hier anzufreunden. Nur so kannst du deine Seele bewahren.
Anfreunden, sagst du? Erdulden habe ich es gelernt, sonst nichts. Wie kann ein Leben ohne Hoffnung bestehen? Ein Leben ohne Farben?
Es gibt nichts mehr zu hoffen, alter Mann. Das weißt du. Aber du hast überdauert, während die anderen im Feuer der Vergeltung untergingen.
Ja, das stimmt. Ich habe überdauert. Länger als mir lieb ist. Aber was ist mit dir, mein Freund? Was hält dich bei Verstand, so fern der Heimat? Fühlt euresgleichen keinen Schmerz?
Ich bin der Wächter. Ich trage das Schwert. Dies ist meine Bestimmung.
Dies ist meine Strafe.
*
So ist das also, wenn die Gier größer als der Ekel ist, denkt sie und reißt mit den Schneidezähnen ein Stück aus dem Fischkörper. Salz auf ihrer Zunge. Salz und Fischblut. Aber noch ehe das rohe Fleisch in ihrem Magen landet, verbeißt sie sich aufs Neue in der Makrele und versucht, das Knirschen zwischen den Zähnen zu ignorieren.
Sie verachtet sich, aber sie hat solchen Hunger!
Das Kauen ist das Schlimmste, deshalb schlingt sie die Stücke einfach so hinunter. Dabei versucht sie, sich abzulenken. Manchmal denkt sie an die Männer, die sie gehabt hat. Auch in ihren Augen hat Hunger gestanden.
Ist das nicht lustig? Sie mag es, sich Analogien auszudenken. Es verkürzt einem die Tage (Äonen?, Ewigkeiten?).
Jetzt gerade findet sie, dass die untergehende Sonne etwas von einem Luftballon hat, betrachtet durch eine schmutzige Fensterscheibe.
Nicht besonders originell, aber besser als nichts.
Als sie ein Kind war, hat sie einmal einen roten Luftballon geschenkt bekommen.
Rot. Sie kann sich kaum noch daran erinnern, was das ist.
Rot wie ... da war doch was?
Ein herzhaftes Knacken beendet den Gedanken, als sie dem Fisch den Kopf abbeißt.
*
Manchmal sehnt der Mann sich nach dem Schein des Feuers an jenem Tag zurück. Die Wolke hatte sich weit über das Land erhoben, als die Flammen die Mauern auffraßen und als Morgenrot weiße Glut gebar.
Er hatte bereits vergessen, wie schön Zerstörung sein kann.
Manchmal sehnt er sich auch nach dem Leuchten in den dunklen Augen der Menschentöchter zurück, der Wärme ihrer weichen Leiber.
Sie sind einmal zu zweit gewesen, vor langer Zeit. Zwei Männer mit einer Mission.
Wächter. Gottessöhne. Gezeichnet durch ihre Schwäche, verbunden durch ihre Schuld.
Nur einer von ihnen hat das Überleben ertragen.
Dies ist meine Strafe.
Der Mann starrt ins schwarze Wasser hinunter, sein Schweigen gehüllt ins Heulen des Windes. Das Schwert auf seinem Rücken wiegt heute noch schwerer als sonst.
*
Ich durchstreife die Straßen von Tso'ar jetzt schon seit Tagen ohne Ziel, ohne Unterlass. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass es selbst hier etwas geben muss, das dem Überleben Wert verleiht. Etwas, das mich meine Hoffnung nicht verlieren lässt, ohne mich verzweifeln zu lassen.
Der Wind pfeift durch die grauen Schluchten zwischen den Häusern, peitscht mir Regen ins Gesicht. Es ist schon am Nachmittag fast dunkel, und die Straßen sind leer.
Fütterungszeit.
Ich lasse mich vom Regen treiben. Stolpere über einen Rinnstein. Da. Eine Gasse tut sich vor mir auf, eine Tür. Hier bin ich noch nie gewesen, zumindest kommt es mir so vor.
Es macht Mut, an diesem Ort der Stagnation etwas Neues zu finden.
Ich öffne die Tür, trete in das dunkle Treppenhaus. Es riecht muffig, wie überall.
Schritte nach oben: Drei, dreißig, dreiundreißig. Die Treppe endet vor einer Wohnungstür.
Ich klopfe.
Herein.
Das Gesicht des alten Mannes teilt sich in unzählige Furchen der Güte, als er mich anlächelt.
Ah! Ich habe schon auf dich gewartet, mein Kind.
In der Ecke sitzt ein Mädchen mit schmutzigem Haar und putzt sich die Zähne mit einer Gräte. Sein Lächeln gleicht Salzkrusten.
*
Sie kommen zu dritt: Der Alte und die beiden Kindfrauen, wie einst Lot und seine Töchter.
Gemeinsam treten sie dem Mann auf dem weiten Platz im Zentrum von Tso'ar entgegen, ungeachtet des Regens, ungeachtet des Frevels. Sie schreiten durch die Reste abgenagter Fischskelette, und ihre Anmaßung verleiht ihnen erstaunlicherweise so etwas wie Würde.
So hast du am Ende doch noch Mitstreiter gefunden, alter Mann.
Die Zeit des Hoffens ist gekommen, mein Freund.
Des Hoffens? Ich habe vergessen, was das bedeutet.
Und mit dir ganz Tso'ar. Aber das muss nun ein Ende haben. Wir sind des Regens überdrüssig.
Der Wächter senkt den Kopf. Er sollte etwas erwidern, das ist ihm klar. Eigentlich müsste er flammende Reden über die Barmherzigkeit halten, die ihnen allen zuteil geworden ist. Aber auch er ist das Warten auf Nichts leid.
Seine Hand gleitet nach hinten und greift zum ersten Mal nach fünftausend Jahren zum Schwert, zieht es aus der Scheide.
So sprecht denn das Wort, mit dem alles endet.
Und als sie damit anfangen, was getan werden muss, und der Schmerz beginnt, fühlt er auf einmal das Licht und die Glut in sich anschwellen, die er so lange vermisst hat, und alles mit reinstem göttlichen Weiß ausfüllen, das ihn davonträgt, entfacht und schließlich verzehrt, als hätte es nie etwas anderes als Glückseligkeit gegeben.
*
Am Ende war das Wort, und das Wort war fern von Gott. So fern, dass es vermutlich nie an Gottes Ohr drang. Denn Tso'ar war nur klein, ein Umstand, der sich schon einmal als Rettung oder auch Fluch erwiesen hatte.
Es kostete uns enorme Kraft, das Schwert zu handhaben, aber zu zweit schafften wir es schließlich doch, und während der alte Mann in unserem Rücken die Inkantation des Wortes anstimmte und wir eine nach der anderen mit einfielen, schnitten wir das Zeichen in die Brust des Wächters.
Ich sah das Strahlen, das anstelle von Blut aus dem Leib des Mannes drang, wo ihn die tödliche Wunde ereilt hatte. Es schien mit gleißender Helligkeit, tauchte die Straßen der Stadt in fremdartiges Licht und ließ die Bewohner von Tso'ar zusammenlaufen - argwöhnisch zunächst, aber doch neugierig.
Ich sah den Regenbogen, den die Vereinigung aus Weiß und Grau gebar, und der die abgestumpften Seelen, wenn nicht mit Hoffnung, dann doch mit andächtigem Staunen erfüllte. Er bog sich wie ein Versprechen über der Stadt, und auf einmal musste ich lachen. Wie seltsam, dass erst der Tod eines Engels ein Zeichen der Lebendigkeit nach Tso'ar gebracht hatte. Ehe ich mich versah, hielt ich das Salzkrustenmädchen im Arm, und wir kicherten wie Kinder, während der Regen uns die Tränen vom Gesicht wusch. Wie uns erging es an diesem Tag vielen.
Und dann geschah das eigentliche Wunder. Als das Licht verglühte und der Wächter in den Armen des alten Mannes starb, ging nicht etwa die Welt unter, oder auch nur die Unwelt, in der Tso'ar lag. Die Zukunft der Stadt und ihrer Seelen lag nach wie vor im Ungewissen. Aber zum ersten Mal seit Jahrtausenden hörte es auf zu regnen, und die Sonne, die wenig später im Totenmeer versank, war von leuchtendem Rot.
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Siehe doch, diese Stadt da
ist nahe, dahin zu fliehen, sie ist ja [nur] klein; ich könnte
mich doch dahin retten - ist sie nicht klein? -, damit meine
Seele am Leben bleibt.
(Genesis 19:20)