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Unser bester Mann
„Wer von euch geht hoch?“ Polizeioberwachtmeister Paulsen hatte sich vor seinen Kollegen Uwe und Peter aufgebaut und wippte, auf eine Antwort wartend, in seinen klobigen Dienstschuhen.
Schweigen. Achselzucken. Blicke hinauf zum Dach des Hochhauses.
„Ich kann so was nicht“, sagte einer der Polizisten „ich bringe den höchstens soweit, dass der springt.“
Uwe sah zu Boden. Klar, jetzt war er wieder der Dumme, der da rauf musste. Hätte er doch nur eine Sekunde früher seine Schnauze aufgemacht. Langsam reichte es ihm, immer Selbstmörder retten zu müssen. Jetzt in diesem pisswarmen Mai gab es sie zuhauf.
„Uwe, dann gehst du da erstmal allein rauf. Du hast eh mehr Erfahrung als wir alle zusammen“, sagte Paulsen und klopfte Uwe anerkennend auf die Schulter.
Als ob diese scheiß joviale Art mir was nützen kann, dachte Uwe und zwängte das Funkgerät in die Gesäßtasche. Missgelaunt stapfte er auf das 7. stöckige Hochhaus zu. Es war das letzte in einer Reihe von tristen Betonbauten, die noch aus einer Zeit stammten, als man Menschen einfach irgendwie unterbringen wollte.
Klar hatte er schon einige Male Typen vom Selbstmord abgehalten. Aber was glaubten seine Kollegen eigentlich? Dass er ein besonderes Händchen dafür hatte? Das war alles nur Glück. Diese Serie konnte auch irgendwann mal zu Ende sein.
„Hallo!“, sagte Uwe zum Selbstmörder, einem Mitzwanziger, der gefährlich nahe an der Dachkante stand. Dieser drehte sich überrascht um. Er trug einen bis zum Boden reichenden Mantel, den sich der Wind als Spielzeug gepackt hatte.
Ein schlaksiger Typ, dachte Uwe, diese Sorte, die schnell vor Kälte schlottern und mit ihren blaugefrorenen Fingern kaum Kippen halten können.
„Bleiben sie weg!“
Uwe war überrascht wie klangvoll die Stimme des Mannes war. Er hatte von diesem Hünen eine brüchige Tonlage erwartet. Nicht, weil Zweimetermänner immer brüchige Stimmen hatten. Aber Uwe fiel das gute Zureden leichter, wenn die Stimme des Selbstmörders leise und unsicher war.
Eine Bö hatte den Mantel hoch gedrückt. Von unten musste es so aussehen als flattere ein Rabe in Menschengröße auf dem Dachsims.
„Sagen Sie mal, weshalb stehen Sie hier?“
„Was wollen Sie von mir? Lassen Sie mich in Ruhe!“
Wieder diese kräftige sonore Stimme, dachte Uwe, Selbstmörder, die sich umstimmen lassen, klingen anders.
„Genau das würde ich nur zu gerne tun. Aber zu meinem Job gehört es, Leute wie Sie vom Dach zu pflücken.“
„Ich brauche keinen, der mich vom Dach holt!“
„Was glauben Sie eigentlich, was passiert, wenn Sie als blutiger Matsch dort unten liegen?“
„Na, Sie werden mir gewiss diese Botschaft nicht vorenthalten.“
Ach du meine Fresse, dachte Uwe, heute mal zur Abwechslung ein Ironischer, ein Zyniker womöglich noch. Na, dann gute Nacht.
„Meinen Job werde ich zwar nicht verlieren“, sagte Uwe, „aber die bevorstehende Beförderung kommt erstmal wieder ins Gefrierfach für ein Jahr. Wenn Sie springen, wird man mir Versagen ankreiden. Aber das geht Ihnen gewiss am Arsch vorbei.“
„Genau, das tut es. Ich finde die Art wie Sie mit mir reden inakzeptabel. Ich bin nicht für Ihre berufliche Karriere zuständig. Gehen Sie jetzt.“
„’nen Teufel werde ich tun, Sie aufgeblasener Egoist“, blaffte Uwe in gärender Wut. „Solche Kauze wie Sie hab ich echt gefressen. Inakzeptabel? Sie wollen sich gleich das Leben nehmen und fordern von mir einen akzeptablen Umgangston? Und sonst haben Sie keine Probleme?“
„Ich habe das Recht auf meine Weise zu sterben.“
„Aha, das Recht haben Sie also. Na toll. Und ich habe das Recht auf meine Beförderung, meine Tochter hat das Recht auf die heißersehnten Reitstunden, die wir uns dann leisten können. Meine Frau auf … “
„Gehen Sie endlich, ich kann Ihr kleinbürgerliches Gelabere von schöner Wohnen und Leben nicht … “
„Was haben Sie da eben gesagt? Das ist ja wohl die Höhe an Unverschämtheit.“
Ein wütender Wortschwall hatte sich in Uwe die Bahn freigeschossen.
„Sie fordern von mir einen akzeptablen Umgangston und erlauben sich, mich zu beleidigen? Wenn Sie was nicht ertragen können, dann verlassen Sie doch dieses Dach. Und im Ernst: mir ist völlig egal, auf welchem Wege Sie das tun. Springen Sie gerne, wenn Sie zu faul zum Laufen sind.“
„Ach, Sie finden sich wohl noch witzig?", sagte der Schlaksige, "Ich werde mich nicht auf Ihr billiges Stammtischniveau herablassen. Zum letzten Mal: verschwinden Sie endlich!“
„Wenn hier einer Befehle erteilen darf, dann bin ich das! Und ich sage Ihnen auch zum letzten Mal: Sie verlassen jetzt das Dach. Sie haben hier nichts zu suchen und kein Recht, hier zu stehen. Das ist Hausfriedensbruch.“
„Das ich nicht lache. Hausfriedensbruch. Da haben Sie ja fein aufgepasst auf der Polizeischule. Was für einen Frieden breche ich denn grad, Sie Schlaumichel. Ich stehe hier ganz friedlich.“
So komme ich mit dem nicht weiter, dachte Uwe missmutig. Der kocht mich nur hoch. Sein Funkgerät krächzte und Uwe zog es aus der Hosentasche.
„Wie sieht es aus bei dir?“, fragte Paulsen.
„Scheiße sieht es aus. Wir haben hier ein arrogantes Arschloch auf dem Dach. Der Herr verlangt von mir einen akzeptablen Umgangston bevor er springt“, sagte Uwe laut.
„Wir sind auch noch nicht weiter. Die Befragungen haben nix ergeben. Niemand kennt den oder weiß was. Was hast du vor, Uwe?“, kam es verrauscht aus dem Funkgerät.
„Keine Ahnung. Ich rauch erstmal eine. Und heißen Kaffee könnte ich gebrauchen, ziemlich schneidend der Wind.“
„Ich möchte von Ihrem Rauch nicht belästigt werden.“
„Wie bitte?“
„Sind Sie schwerhörig? Unterlassen Sie es, in meiner Gegenwart zu rauchen.“
„Sie haben ja 'ne Schraube locker, Sie armer Irrer. Ich werde jetzt rauchen und Sie werden mich daran nicht hindern.“
Uwe nestelte eine Zigarette aus der Schachtel und stellte sich mit dem Rücken gegen den Wind, um sie zu entzünden. Cool bleiben, keine Unsicherheit zeigen, sagte er sich.
Dann drehte er sich betont langsam um.
„Sagen Sie mal, Sie komischer Vogel. Wieso haben Sie keine andere Methode für Ihr Ende gewählt? Wozu brauchen Sie diese Show?“
„Das ist ja wohl meine Sache. Schreibt die Polizei neuerdings vor, wie man sich umzubringen hat?“
„Vom Dach springen kann jeder Depp. Das imponiert echt keinem mehr und erst recht nicht, wenn man mal die Sauerei erlebt hat, die das hinterlässt.“
„Sie glauben also ich tue das, weil ich jemandem imponieren will? Lernt man dieses psychologische Halbaffenwissen auch auf der Polizeischule?“
„Sie haben mich gerade als Halbaffen beleidigt.“
Reflexartig zog Uwe einen Notizblock aus seiner Lederjacke.
„Name!“, sagte er herausfordernd.
„Den werde ich Ihnen nicht sagen, Sie hohlköpfiger Sheriff.“
Uwe stopfte den Notizblock wieder in die Jackentasche.
„Wissen Sie was, ich werde einfach abwarten bis Sie gleich gesprungen sind. Dann ermitteln meine Kollegen Ihre Personalien.“
„Gleich gesprungen? Ah,jetzt kommt die wahre Begabung der Polizei zum Vorschein. Der Herr haben das dritte Auge, ist hellseherisch veranlagt und kennt meine Zukunft.“
„Junge, glauben Sie mir, Sie machen das nicht mehr lange. Typen wie Sie, die tändeln eine Weile bis die Show verraucht ist und dann kommt die derbe Ernüchterung und sie springen. Und ich kann Ihnen auch sagen, wieso das so ist.“
„Na, da bin ich aber mal gespannt, wie Sie mir mein Leben erklären.“
„Sie gehören zu den Typen, die dringend beachtet werden wollen. Die stillen Selbstmörder, die versterben ohne Theaterdonner. Die liegen sauber totenstarr in ihren Betten, hängen gut gelüftet an Bäumen oder haben sich und ihre Blutlachen in den Badewannen entsorgt, aber Hagestolze wie Sie, die benötigen den doppelten, was sag ich, den dreifachen Kick. Erst die Riesenshow live on Dachkantenstage, Polizei, Sprungtuch, Hubschrauber, Psychologenteam, die Bildzeitung, das Regionalfernsehen, verzweifelte Verwandte. Das ganze Sortiment muss aufmarschieren.
Und dann kommt der große Abgang, der Sprung, rauf aufs Pflaster mit Kawumm, zur Not begräbt man noch einen unter sich, Hauptsache alle schauen zu, sehen die Blutpfütze, deren Krustenreste noch drei Wochen später kleine Kinder traumatisieren.“
Uwe hatte am Ende seines Monologs die Kippe verächtlich zu Boden geschleudert und trat diese nun energisch platt.
Als er wieder hochschaute, waren die Augen des Schlaksigen direkt vor ihm.
"Lassen Sie gefälligst Kinder aus dem Spiel", zischte er. Uwe sah in die wässrig weißblaue Iris, die die winzige Pupille umschloss. Irgendetwas stimmt mit dem nicht, dachte Uwe irritiert und sagte dann mit fester Stimme:
"Irrtum! Sie lassen gefälligst die Kinder aus dem Spiel. Wenn Sie springen, könnte eines von Ihrem Körper erschlagen werden. Sie Mörder!"
Uwe spürte wie Eisenkrallen seinen Kragen packten. Mit einem Ruck hatte der Hüne ihn dicht vor sein Gesicht gezogen.
"Mörder?" Der Atemnebel des Wortes berührte unangenehm Uwes Lippen.
"Ich? Ihr seid doch allesamt unfähiges Bullenpack, ihr stinkenden Kanalratten."
"Loslassen!", brüllte Uwe und für einen Moment flackterten die Augen des Hünen. Doch der Jackenkragen zog sich noch fester um Uwes Hals zusammen. Seine Hände rissen an den Handgelenken des Angreifers. Vergeblich. Er wurde herum gewirbelt. Woher nahm dieser Schlaksige diese Kräfte?
"Was soll das? Loslassen!", röchelte Uwe. Sein Protest wurde von einer Bö weggefegt. Es war diese Sorte Wind, die kabbelig an Dachkanten spielt.
Auf dem Weg nach unten erschien es Uwe als habe die Zeit angehalten. Obgleich er dieses Phänomen kannte, überraschte es ihn stets auf's Neue, sich wie in einer Zeitlupe zu befinden. Kurz vor dem Aufprall durchzuckte ihn jedoch ein Gedanke: hoffentlich bauen die von der Feuerwehr keinen Scheiß mit dem Sprungkissen, immerhin kommen wir heute zu zweit runter.